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Silber und Salbader

Die Quellmagd: "Die Zartheit und Geschmeidigkeit ihrer Haut rührt von der täglichen Behandlung mit Olivenöl her, das aus dem südlichen Italien eingeführt wird. Die ersten Quellmägde entstammen, einem Gerücht zufolge, dem Süden Italiens, Apulien, Kalabrien und Sizilien, womöglich dem nördlichen Afrika."

Hans-Peter Kunisch |
    Was ist eine Quellmagd? Lesen Sie Peter Webers neuen Roman "Silber und Salbader", dort lernen sie auch Wörter wie "Lichtkauen" kennen: "in den sieben Lawinen, die Ende des 16.Jahrhunderts das Dorf und die Badanlagen zerstörten und viele Menschen unter sich begruben, wurden Lichtkiesel gefunden, mit deren Hilfe der damalige Bürgermeister, der als einziger alle sieben Lawinen überlebte, den Lichtdom orten konnte. Kristalle wurde aus dem Dom geschlagen, zermörsert, ausgesiebt und nächtelang gekaut. Das Kauen von Lichtkieseln war vor der Aufklärung eine verbreitete Heilmethode, auch gegen Zahnfäulnis und Sprachzerfall".

    "Lichtkiesel", gibt es das? Der Anfang von Peter Webers neuem Roman will irritieren. Schon mit seinem allerersten Satz: "a) Das falsche Leben ist das Gegenteil vom richtigen Leben".

    Es gibt doch gar kein falsches Leben. Das haben wir doch inzwischen gelernt. Unter welchen Bedingungen auch immer: jedes Leben ist; vom "richtigen" weiß keiner etwas. Das klingt sehr liberal. Aber es vernachlässigt auch tatsächliche Empfindungen: So, wie ich jetzt lebe, möchte ich nicht leben: Wer seiner Sinnes- und Selbstwahrnehmung traut, weiß immer wieder, welche Antwort er sich auf die Frage nach dem "richtigen Leben" geben muss: Fort aus diesem Land. Oder eben: bleiben.

    Es geht in "Silber und Salbader" also nicht um ideologische Vorstellungen von "richtig" oder "falsch". Es geht, ironisch gebrochen, aber doch entschieden pathetisch, um eine Weiterentwicklung der Sinne, um eine Erinnerung an sie und um ihre Verwandlung in Sprache:

    "Lachbaden" ist ein "seit alters her praktiziertes Frühstück in perlendem Weißwein, wodurch der Schlaf als Halbschlaf durch den Vormittag gezogen wird, bevor sich eine gründliche Wachsamkeit und damit einhergehend eine Redseligkeit breitmacht, dabei zu beobachten das sich ausdehende Glücksgefühl, das an den Beckenrändern aufklatscht, nachmittags das heitere Gequassel aus allen Mündern, die ins Genick geworfenen Köpfe beim Lachen, die durchs Wasser ziehenden Lachwellen".

    Es ist eine ziemlich wilde Sprachmischung, die Peter Weber da präsentiert; die man, verdrehter, verkrampfter, dunkler, auch in frühen Erzählungen von Robert Musil entdecken kann: Diese Verräumlichung, Materialisierung von Gefühlen: "das sich ausdehnende Glücksgefühl, das am Beckenrand aufklatscht". Die Vergegenständlichung von Abstrakta: "wodurch der Schlaf als Halbschlaf durch den Vormittag gezogen wird". Aber in diese sehr fein gesponnene Sprache, die schnell manieristische Muster bildet, sind eben auch, und vor allem: Peter Webers schwelgerische, luftig-leichte Versinnlichungen von Glück geknüpft, "die durchs Wasser ziehenden Lachwellen".

    Erzählt wird in "Silber und Salbader" trotzdem eine durchaus ordentliche Geschichte: Wie Peter Weber wurde der Ich-Erzähler Selb 1968 geboren. Doch damit sind die Parallelen schon zu Ende: Peter Weber stammt aus einer bürgerlichen Familie. Der Vater des Ich-Erzählers hingegen, Kaspar Maria Raschle, war einer der ersten Langhaarigen und Hanf-Bauern der Gegend. Sein Sohn Wendelin Selb, der den Namen der Mutter trägt, geht weg aus dem Raschtal, studiert Erdkunde in Zürich, spielt in verschiedenen Jazz-Bands. Weil sein Großvater aber in Baden gewohnt hat und stirbt, kommt der junge Mann schließlich dorthin, wo er, mit Pina, einem Mädchen, das er liebt, als "Quellwirt" das Badehotel "Rose" übernimmt.

    Also ein Mensch aus pittoresken wie alltäglichen Geschichten, eine wenig sinnstiftende Biografie, die durch Wörter wie "Quellwirt" oder "Quellmagd" den Leser um Jahrhunderte zurückversetzen kann; in die alten Köper-Pflege-Zeiten, die sich rückblickend idealisieren lassen. Und diese "wundersame Verquirlung der Gegenwart in tiefe Vergangenheit" hilft Peter Weber die ganze Wohlfühl-Industrie, die heute mit dem Baden in Bädern verbunden ist, vorzuführen und zu umgehen. Das Spiel, das er spielt, ist erzählerisch dabei nicht risikolos: Auch der Wellness-Pauschalist sucht "Sinnlichkeit". Doch das Lifestyle-Sujet hat gegen Peter Webers Lebensstil-Sprache keine Chance: Was er schreibt, hat mehr Ähnlichkeit mit einem sanften surrealistischen Märchen, in dem es "Geräuschkörner" gibt, und "Schwäne und Raben", die ausschwärmen aus den Ornamenten des Hotel-Innenhofs, um in dichtem Nebel zu fliegen.

    Wenn nichts langeweiliger ist als im eigenen Ich einfallslos dahindümpelnde Autoren; wenn nichts überzeugender wirkt als das Plädoyer für mehr wüste, gewöhnliche Welt in der deutschsprachigen Literatur: Peter Weber, dem es nicht ums Wiedererkennen, sondern ums Entdecken von Wirklichkeit geht, erzeugt auf seine Weise jene "Sinnenhaftigkeit", deren Absenz viele andere Autoren in melancholisch-tauben Texten nur noch beklagen können; oder in aggressiver Melancholie, z.B. mit jenem "Kotzen" lösen möchten, das in diesem Jahr zum auffälligsten gemeinsamen Nenner vieler Bachmann-Preis-Texte wurde. Weber hat ein anderes Programm: er verleugnet keine Hässlichkeit und lässt uns nicht vor ihr flüchten. Er schafft eine eigene Welt, in der wir an unsere eigene ständig denken müssen.

    Weniger gelungen ist "Silber und Salbader" eher dann, wenn Weber seine Phantasie bremst, weil er eine Geschichte erzählen will, die er sich dem Rahmen einer wirklichen entlang ausgedacht hat. Was andere Autoren gerade noch am Leben erhält: ein autobiografisch verbürgter Handlungsstrang, an dem man ungelenk herumhangeln kann, wird für Weber gelegentlich zum lähmenden Strick. Soviel Musikalität Peter Webers Sprache hat, die Passagen mit den Musik-Band-Erzählungen, die denen, die "dabei waren", gefallen werden, gehören zu den faderen Teilen des Texts. Wenn aber die Gegenwarts-Biografie des Ich-Erzählers (1990..., 1995... usw.) noch eine durchaus wichtige Funktion hat: nämlich die Verankerung der Möglichkeit von Webers Welt in unserer zeitgeschichtlichen, so neigen die weitschweifigen genealogischen Erzählungen über die Selb- und Raschle-Ahnen in der Mitte des Texts zur zwar hübschen Skurrilität, doch wird diese allzu breit ausgewalzt.

    Umgeben sind diese Passagen von einer wunderbar dicht erzählten Reise ins Raschtal selbst, die zeigt, dass Weber nicht nur Wasser, sondern (bisher bis aufs Feuer) alle Elemente poetisieren und zum Leben bringen kann; einer Reise, die gespannt macht auf die erzählerische Rettung des "Abseitigen" im abgelegenen Tal, auf die Beachtung alles dortigen Nicht-Funktionalen; doch auch im Weber`schen Universum ist nichts mehr einfach schön, denn "jedes Geräusch ist Geschäft geworden".

    Phänomenal wirkt auch das souveräne Wiederauftauchen des wie eine Wellenbewegung komponierten Texts (dessen Schluß chronologisch gesehen vor seinem Anfang liegt), nach dem Verschwinden in seiner genealogischen-skurrilen Senke. Noch einmal zieht Weber in seiner hochmelodischen, vokalverliebten, reichen, prassenden, "fein-fetten" Sprache voller Risiko in ein altes Jagdgebiet ein: literarisch die Liebe neu zu erfinden, das ist klar, ist das höchste Ziel der Entwicklung der Sinne zwischen Pina und Ich: "Die Küsse geschahen innerlich lärmend. Äußerlich still. Dann lag Ohr auf Ohr. Meine Finger sahen auch im Dunkeln. Als unsere Häute getauscht waren, beruhigten sich auch die Lippen". Das klingt schon hübsch und zart, doch ist es erst der Anfang, bald kommen Kapriolen: "Meine Küsse fielen als Zuckerwürfel durch ihren Hals in die tiefen

    Salzteiche, da entstand etwas Bittersüßes, Bindendes. Ich legte eine Spur Kristalle auf die Haut. Pina schwitzte echte Perlen. In der Träne, die in ihrem Augenwinkel entstand, war die ganze Landschaft eingerollt, das Weihnachtssüß im hinteren Tierfehd, die frisch gestrichene Fassade, das reine Hell der Gipfel. Ich trank diese Träne auf, somit die Landschaft".

    Aber kann man, muss man jetzt wohl noch fragen, diese Sprache, wo sie auf derart komplexe Weise schön ist, denn wirklich lange lesen? Ist das auf dieser Roman-Länge nicht zu barock, girlandesk, denkt dieser Peter Weber, und da haben wir sie schon, die infamste aller Fragen, denn auch "an den Leser"? Natürlich denkt er an ihn, beinahe nur an ihn, und, weil er ihm Gutes tun will, muss er ihn eben auch ein wenig fordern. Das "Genußlesen", das hier eintreten kann, ist kein Seitenfressen, sondern ein Wörter- und Sätzeabschmecken, ein Riechen, ein Fühlen, von Sprache. Man sollte "Silber und Salbader", wie damals den "Wettermacher", nach Möglichkeit nicht ganz müde, und am besten hellwach lesen. Dann ist man als leicht erblindeter Gegenwarts-Mensch aufmerksam genug für diese Sprache; und realisiert vielleicht sogar, wieviel sie einem mitteilen kann an kleinsten, fühlbaren Erfahrungen der Welt.

    Sie ist, wie Weber die Quellmagd Pina mit poetologischem Hintersinn über die "Maultrommel" Raschles sagt: "unberechenbar", "verantwortungslos": "Die genauen Kalkulationen der Obertöne, eine Wirkungszeichnung ist erst nach jahrelanger Praxis möglich. Die Maultrommel trennt und verbindet. Wenn ich bindend spielen wollte, trennte ich, wenn ich trennend spielen wollte, entstanden Reißverschlüsse. Die Maultrommel verschweißt gegensätzliche Elemente wie Luft und Erde. Schlecht gespielt, lagert sie falsche Befehle im Körperinneren ab. Stimmig gespielt, zertrümmert sie Nierensteine, vertreibt Kopfweh flugs. Unsauber gespielt, verengt sie den Horizont. Klar gespielt, erweitert sie den Wetterrand".