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Silber und Salbader

Peter Webers Roman "Silber und Salbader" beginnt im Thermalbad, am Ort der Läuterung durch Wasser, beim "Lustbaden, Lichtbaden, Lachbaden". Im römisch-irischen Bad mit seinen Gesteinshöhlen, der Hitze aus den Saunaöfen, dem Thertnalwasser, dem Dampf, verbinden sich die urtümlichen Kräfte der Elemente. Sie sollen den Badegast umstimmen und möglichst seine Seele erhellen. Deren innerste Zusammenhänge glaubt der Heilsuchende auf einmal zu erkennen. Die Exposition als Purgatorium: Man sieht sich an die Promenade der Kurstadt Baden an der Limmat versetzt. Dort, im Bäderhotel Rose, ist die Hauptfigur des Romans, der Gelegenheitsmusiker Wendelin Selb, genannt Silber, als Quellwart tätig. Das ermöglicht ihm den unmittelbaren Zugang zu den unterirdischen Gewölben des Hotels, wo sich das Allerheiligste, Sagenumwobene auftut: der steinerne Mund der Königsquelle zu Baden. Durch die Jahrhunderte wurde die Wasserader immer wieder neu gefasst und mit wechselnden hellkundigen Interpretationen bedacht. Peter Weber hat die sechsjährige Pause seit dem Erscheinen seines Debütromans "Der Wettermacher" unter anderem dazu genutzt, sich gründlich in die Materie einzuarbeiten. Dazu der Autor:

Katrin Hillgruber |
    "Woher das kommt, weiß ich nicht genau, vielleicht schon dadurch, dass ich zum Teil auch auf der Lesereise an viele Orte kam, wo es Bäder gab, in der Schweiz. Die habe ich alle mal ertestel und schnell gemerkt, dass um die Bäder herum immer viel geschrieben worden ist. Dass es Quellsagen oder Quellensagen gibt, die die Entdeckung der Quelle beschreiben, die Fassungen, die verschiedenen. Da gibt es wissenschaftliche Abhandlungen, die verändern sich dann ganz stark 'in der Zeit, weil sich das Wissen und das erdkundliche Wissen erneuert. Das ist ein großer Fundus. Je weiter man sich da einarbeitet, in meinem Fall jedenfalls, desto reicher wird das Gefundene und desto bezugsreicher vor allem wird es, weil sich das Historische dann auch sehr einfach einbinden lässt, die Ortsgeschichte, und die ganze Heilkunde und Heilkunst, die teilweise derart pathosbeladen ist, dass sich daraus ganz viel Ironie schlagen lässt."

    Der sinnliche Bäderroman bekennt sich spielerisch zum historischen Dunkel, zum Matriarchat der "Quellwärtinnen", dem der zeitweise Ich-Erzähler Selb entstammt, sowie zur römischen Göttervielfalt, auch zu den amphibischen Quellenknechten. Sie sollen, im Wasser unter dem jüngelnden Stein" liegend, den Habsburger-Kaiserinnen - angestammten Gegnerinnen der Eidgenossenschaft - zu sagenhafter Fruchtbarkeit verholfen haben. Peter Weber:

    "Es gibt diesen Mischbereich von Heilkunst, Esoterik, Weltschöpfungslehre, Naturhellkunde, aber auch der wissenschaftlichen Erklärungen: Immer ganz absonderliche Bilder, die da heraufbeschwört werden. Wenn versucht wird zu erklären in einer Schrift über Baden, woher das heiße Wasser komme, werden tatsächlich höllische Bäderknechte da im Inneren der Kalksteinhöhlen vermutet, die irgendwelche Feuer zu betreiben hätten. Es wird wirklich ausführlich beschrieben und wieder zitiert. Und das Schöne daran ist, dass also die Schriften über Bäder eigentlich Genealogien haben, dass also immer wieder zitiert wird, dass sie selber zu Quellen werden. Dass wieder zitiert wird, neu aufbereitet, mit neuem Wissen angereichert, wieder präsentiert der jeweiligen Zeit. Offenbar ist auch viel gelesen worden um die Bäder herum, es hat immer wieder Leute angetrieben, darüber zu schreiben und Bestandsaufnahmen zu machen."

    Hier, am sich erneuernden Quellbart, ist Weber am Urgrund seines Erzählens angelangt, am Born der übersprudelnden Geschichten. Er schreibt weniger einen Entwicklungsroman über Wendelin Selb, als dass er eine alchemistische Kunde verbreitet. "Quelle" ist im doppelten Sinn zu verstehen. Aus Steinen, Metallen, Gewässern und Tönen schöpft er eine Welt, bringt tausend Brünnlein voller Episoden zum Fließen.

    "Silber und Salbader" wird es nicht leicht haben, aus dem Schatten des sprachmächtigen Debüts "Der Wetterrnacher" von 1993 herauszutreten. Der damals 25-jährige Weber war mit allgemeinem Enthusiasmus als "Ecce poeta!" begrüßt worden. Doch der Vereinnahmung durch Kritik und Publikum wusste er sich zu entziehen. Man erfuhr nur, dass er in der Free-JazzSzene beheimatet sei und ein Generalabonnement der Schweizerischen Bundesbahn besitze.

    Der neue Roman besteht aus 21 Kapiteln, die in barocker Manier jeweils mit einem appetitanregenden Vorspann garniert sind. Gegenüber der phantastischen Fülle von Figuren und Anekdoten tritt das Schicksal des Patienten Silber, der durch Musik, Wasser und Liebe genest, zwangsläufig in den Hintergrund. Wendelin Selb ist naturgemäß schwächer konturiert, als der selbsternannte Wetterrnacher August Abraham Abderhalden aus Unterwasser in Toggenburg es war. Dieser schweifte in seinem großen Monolog ab, um zur Sache zu kommen: "Wettermachen heißt behaupten." Jetzt aber schießt die Phantasie 'ins Kraut, da es kein Element gibt, das die Erzählstränge bündelt. Die Quellenkunde verselbständigt sich. Nicht Personen, sondern Orte stehen im Zentrum.

    Weber stöbert tief in der Geschichte, geht bis in die Antike zurück. Er bezieht sich auf den Konflikt zwischen den keltischen Helvetiem, die sich ungefähr 450 v.Chr. in Teilen der heutigen Schweiz ansiedelten, und den hereinbrechenden "barbarischen" Alemannen. Sie zerstörten die keltisch-römischen Badetempel. Angesichts der alemannisch-reformierten Tradition in der Deutschschweiz bedeutet die Anrufung der "helvetischen Gegenwart" eine gewisse kulturkritische Provokation:

    "Sie dürfen nicht vergessen, dass, wenn man so etwas behauptet, man eigentlich ganz viele bestehende Strukturen unterläuft. Weil ja das Helvetische, was eigentlich das Keltische wäre, in der Schweiz gar nicht so präsent ist, sondern eher das Alemannische im Moment dominant ist, dagegen das Westschweizerische und Südschweizerische steht. Wenn man sich auf die Kelten bezieht, das muss man mit sehr viel Ironie tun, weil da auch eine Keltenverehrung bereits stattfindet. Da gibt es allerhand Dinge. Wenn man die "helvetische Gegenwart" behauptet, das tönt eigentlich für einen Schweizer sehr entlegen. Das tönt so, wie wenn ich behauptet hätte, die Etrusker wären im Toggenburg gewesen. Das ist so eine Setzung, die eher das Femliegende heranholt."

    Die Dimensionen von Ort und Zeit sind in diesem musikalischen Roman aufgehoben. Im Rausch der freien Assoziationen und Alliterationen wird geselbt, im Obertonbereich gesilbert und bassbrummig salbadert. Die freie Musik des Maultrommlers Silber und die orchestrierte seiner Gefährtin, der Bratschist'm Pina Vaser, durchzieht den Text. Weber bewies bereits im "Wettennacher" einen Hang zu Genealogien. Jetzt vermengt die Tongeschlechter Dur und MoR mit Industriellendynastien, Wirtsfamilien und Sippschaften im fiktiven Raschtal, dem zweiten Schauplatz. Dort absolvierte Silber eine Lehrzeit ün "Quellenhof' und schmiedete sein Liebesglück. Von diesen Ereignissen berichtet er rückblickend aus Baden.

    Trotz der formalen Einwände im Vergleich zum "Wettermacher" wäre es ungerecht, "Silber und Salbader" nicht als eigenständiges Kunstwerk zu würdigen. Weber intoniert eine hinreißende Programmusik, eine Schweizer Klangwolke. Sie erstreckt sich vom geräuschreichen Limmattal als dem des Romans bis zum Ostschweizer Imperium des Moltonkönigs Meng. Monotone Rhythmen überziehen den Molassetrog des Raschtals, ein Techno der frühen Textilindustrie. Mit dem Raschtal als Heimatkonstrukt hat Weber ein für ihn neues literarisches Verfahren angewandt:

    "Dieses Raschtal ist wiederum das Ergebnis verschiedener Projektionen meinerseits. Aus den umliegenden Landschaften, diesen Voralpen, die ich bereist habe oder bereits kannte, mit ihren verschiedenen Dialekten und Mentalitäten und so weiter. Ich habe versucht, sie in ein einziges Tal zu verlegen, das ein Flusstal dann geworden ist, wo man dann Industrie ansiedeln kann. Dort gibt es auch eine Quellenkultur oder ein Bäderwesen. Dadurch war ich befreit von den Gewichten, die man sonst herumschiebt, wenn man sich auf Begebenheiten bezieht, auf bestehende Lokalitäten und Ortsnameg wie ich das beim ersten Buch gemacht habe. Wenn man die benutzt und damit spielen will, mit Bestehendem, mit Gesetztem, das ist eine andere Spielforrn. Und wenn man es erfindet, oder anders gesagt, wenn man vom Gesetzten ausgeht, hat die Übertreibung die Funktion, Überhöhung und Entfernung zu schaffen. Wenn man aber das Gebilde bereits in der Schwebe hält und erfindet, dann führt die Übertreibung dazu, das Ganze zu verankern. Ein seltsames, gegengleiches Spiel, dass also plötzlich die Erfmdung dazu dient, die Sache zu erden. Das hat mich dann am meisten eigentlich beschäftigt: Wie kann ich ein erfundenes Tal, eine erfundene Landschaft, wo bereits die Geologie und die Topographie meinen Interessen gemäß veranlagt wird, wie kann ich das Oberhaupt real machen, wie kam ich das herunterbinden."

    Die rasche Industrialisierung der landwirtschaftlich geprägten Ostschweiz bedrohte die Heimatlichkeit und damit indirekt den staatstragenden voralpinen Mythos. An dieser Stelle gelingt dem Illusionisten Weber die sinnfälligste Surrogatbildung: Zum fiktiven Raschtal komponiert er das passende Lokalkolorit. Der Heilsbegriff wird ad absurdum geführt, der Helvetismus bei der reformierten und also eigentlich rational gesinnten Bevölkerung so weit gesteigert, dass er in hemmungslose "Appenzellerschwärmerei" ausartet.

    "Silber und Salbader" steckt voller Schätze, selbst wenn zu viele Quellen gleichzeitig angezapft werden. Der Roman, vernarrt ins Spiel mit der Sprache, entfaltet ungeahnte atmosphärische Variationen. Am Ende lösen sich nebelgleich die Konturen auf. Seinem Autor gebührt dennoch ein Königsquellrecht des Erzählens. Das Swiftsche Ingenium findet sich auch irn zweiten Talentbewels Peter Webers, nicht nur bei bei der mentälitätskritischen Erfindung des Raschtals. Versteckt huldigt er dem Schöpfer von "Gullivers Reisen" in Gestalt von Mauerseglern (englisch: swift), die in der "Rose" genistet hätten und nun leider ausgeflogen seien.