Liebe Hörerinnen und Hörer, es kann Ihnen nicht entgangen sein: Letzten Freitag ist Helmut Kohl gestorben. Der Ex-Kanzler war 87 Jahre alt, bekanntermaßen nicht bei bester Gesundheit - und Bedeutendes hatte er schon lange nicht mehr ausgesandt.
Und dennoch vierhielten sich die Medien so, als habe das Schicksal auf ganz und gar unerwartete Weise, noch dazu auf eine schwer erträgliche, zugeschlagen.
Als sei ein Flugzeug vom Himmel gefallen, als habe ein Amokläufer in einem Kindergarten gemetzelt.
So mancher Reporter vergaß Klarheit zu bewahren
Sondersendungen, Live-Schalten, Einspielfilme, Wegbereiter, Betroffene - die Sender boten auf, was der Plan für Notfälle vorsieht. Vor allem Experten. Experten für alles. Für Politik. Für Vergangenheit. Für Gegenwart. Für die Einheit. Für die deutsche und die der CDU. Für Helmut Kohl. Für seine Frau.
Experten für Betroffenheit brauchte man nicht, da nahm man einfach die Fachleute, die man gerade vor der Kamera hatte und drückte so lang auf ihnen herum, bis auch der Abgeklärteste unter ihnen von seiner "tiefen Betroffenheit" sprach.
Von dieser und wohl auch seiner eigenen Betroffenheit tief ergriffen, war auch so mancher Reporter und vergaß Klarheit zu bewahren. So musste man hören, "Trauer und Erschütterung" schlügen einem im politischen Berlin überall entgegen, während Cem Özdemir gezeigt wurde, der Kohl auf dem Grünen Parteitag fern jeder Erschütterung, sehr sachlich als "großen Europäer" würdigte.
Ein jeder, der nicht alle Zurechnungsfähigkeit gen Himmel geschickt hat, dachte: "Nein, bei manchen ist es schlicht Anstand und Respekt."
In einer Helmut-Kohl-Matrix gefangen
Ich weiß nicht, wie es Ihnen erging, liebe Hörerinnen und Hörer, aber für mich geriet der Abend zum Horror-Trip. Ich bin tatsächlich jemand jenseits der 65, der ganz gern mal guckt, was die Öffentlich-Rechtlichen abends so bieten. Und es war, als wäre ich in einer Helmut-Kohl-Matrix gefangen. Kohl. Egal, welchen Knopf ich drückte, überall war Helmut Kohl. Es gab kein Entkommen.
Auch nicht vor dem wie ein Mantra dahingesungenen Möchtegerntatbestand, die Deutsche Einheit sei sein Verdienst. Dabei gäbe es keine Einheit ohne den Kniefall Willy Brandts 1970. Ohne ihn, den von der CDU wegen dieser Geste als "Vaterlandsverräter" beschimpften Kanzler, hätte Kohl am Grenzzaun rütteln können, wie er wolle.
Geisterfahrt mit Betroffenheitsfaktor
Aber das zählt an so einem Abend nicht. Was für die öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehsender zählt, ist die Möglichkeit zur Selbstvergewisserung. Es scheint mittlerweile egal, was da kommt, ob ein Unwetter, ein Terrorangriff oder der erwartbare Tod einer Persönlichkeit. Man unterscheidet nicht mehr, ob das Ereignis eine Relevanz für die Gegenwart hat oder ob es allein eine emotionale Bedeutung hat - alles wird genutzt, um zur Ergötzung der eigenen, sender-immanenten Eitelkeit den Apparat in Bewegung zu halten.
So wird selbst das Ableben zum Event, das - wenn man schon nicht live dabei sein konnte - doch bitte so schnell wie möglich in all seinen Facetten dargestellt werden muss. Da reicht die Nachricht, der Nachruf nicht aus, nein, da muss sofort mit allem verfügbarem Material auf Sendung gegangen werden, auf dass man die Eisenbahnfahrt im Nachtprogramm durch eine Geisterfahrt mit Betroffenheitsfaktor ersetzt.
Schlachteplatte bei ARD und ZDF
Ein Tod, ist kein Tod mehr. Er hat die Kraft des Innehaltens, der Besinnung verloren. Ein Tod ist auch in der öffentlich-rechtlichen Medienberichterstattung ein Ereignis, das es auszuschlachten gilt. Schlachteplatte bei ARD und ZDF.
Liest man nach, was es mit einer "Schlachteplatte" auf sich hat, so erfährt man, dass ihre Tradition mit ihrer Fülle an Fleischwaren aus der Zeit vor der Erfindung der Kühlung stammt. Alles, was schnell verdirbt, musste schnell konsumiert werden. Also wurde im Übermaß aufgetischt.
Das Leben und Wirken eines so mächtigen und zweifelhaften Mannes wie Helmut Kohl trägt auf lange Dauer. Man darf Abstand, Rationalität und Ruhe bewahren. Journalismus ist kein Schlachtfest. Journalismus ist Nachricht, Bericht, Analyse.