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Silke Satjukow; Rainer Gries : Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR.

Zu unserer nächsten Neuerscheinung. Jeder totalitäre Staat der Welt definiert sich auch über Heldenfiguren unterschiedlichster Art: Vom tapferen Pionier - es könnte je nach Zeit und Ort auch ein tapferer Hitlerjunge gewesen sein - über Partisanen, Spitzensportler, Stachanow-Arbeiter bis zum Hund im Weltall reicht dabei das Helden-Repertoire. Nun ist der in deutscher Sprache bislang erste Versuch einer Kulturgeschichte von Propagandafiguren des Ostblocks erschienen. Ulrich Kurzer hat das Buch für Sie gelesen und mit den Herausgebern gesprochen.

Ulrich Kurzer | 09.12.2002
    Der westdeutsche Staat war arm an Helden. Es gab keine von der Politik geförderte Heldenverehrung, keinen Heldenkult. Ganz anders dagegen in der DDR. Hier erklärten Staats- und Parteiführung gezielt Menschen wegen herausragender Leistungen zu Helden; und die Bevölkerung nahm diese Helden an - einige wurden sogar verehrt. Silke Satjukow und Rainer Gries haben in ihrem Sammelband Heldengeschichten aus der UdSSR, Polen, Ungarn, der DDR und der Tschechoslowakei zusammengestellt. Ihr Buch versteht sich als erster Schritt einer kulturgeschichtlichen Heldeninventur der sozialistischen Staatenwelt. Bei Ostdeutschen wird die Lektüre gewiss die Erinnerung an einige Sternstunden vergangener Zeiten in Erinnerung rufen. Gelernte Westdeutsche dagegen finden bei der Lektüre vielleicht einen Zugang zu dem doch immer fremd gebliebenen anderen deutschen Staat.

    Wie so vieles im Ostblock hatte auch die Heldenverehrung ihr Vorbild in der Sowjetunion. Nicht alle Heldentypen der sozialistischen Länder waren jedoch eigene Schöpfungen. Man orientierte sich durchaus auch an bekannten Heldenmustern.

    Satjukow: Wir haben den Kriegerhelden oder Kriegshelden, den es schon immer gab, in allen traditionalen Gesellschaften und auch in modernen gibt es den Kriegerhelden auch weiterhin. Wir haben den politischen Führerhelden, auch den gab es in Gesellschaften vor unserer Zeit und vor DDR-Zeiten, und wir haben etwas, was nicht ganz originär DDR ist, aber relativ neu, nämlich den Arbeitshelden. Den gibt es seit den 20er Jahren, und er wird so richtig zum Leben erweckt in der sozialistischen Gesellschaft. Erst in der Sowjetunion, in den 30ern, der Stachanow, Alexeij Stachanow und '45 oder 1949 in der DDR in dem viel-, ja oftmals zitierten Adolf Hennecke, der seine Hochleistungsschicht im Oktober 1948 vollbringt und eine ganze Bewegung nach sich zieht, die so genannte Hennecke-Aktivistenbewegung.

    Es blieb nicht nur bei den Henneckes. Seit Ende der fünfziger Jahre ist der Radsportler Gustav Adolf Schur, den alle nur Täve nennen, der Sportheld der DDR, und in den dann folgenden zwei Jahrzehnten drängten im Ostblock vor allem die Kosmonautenhelden als Sympathieträger ins Rampenlicht. Sie verkörperten das Moderne und Visionäre im real existierenden Sozialismus. Und anders als die Arbeiterhelden der Aufbauzeit, anders als Stachanow und Hennecke, sind Täve Schur, Juri Gagarin, der erste Mensch im All, Walentina Tereschkowa als erste Frau und Sigmund Jähn als erster Deutscher im Weltraum, noch immer nicht aus dem kollektiven Gedächtnis derer verschwunden, die sie damals als Helden angenommen haben. Das ist nicht zufällig so. Silke Satjukow über die DDR-Bevölkerung und ihre liebgewonnen Helden:

    Diejenigen, die, kratzt man die sozialistische Fassade beiseite, kratzt man die Farbe runter, die sozialistische Propaganda seitens der Machthaber weg von den Personen, dann muss was übrigbleiben. Dann muss eine gute Tat moralisch zeitlos moralisch übrigbleiben. Eine Tereschkowa ist die erste Frau im Weltall, und das ist zeitlos, das ist immer, für immer eine große Leistung. Da ändern sozialistische Parolen nix dran. Ein Täve Schur, der ein unglaublich guter Sportler war, der auch noch fair zudem war, das ist ne zeitlose Tat, da ändern sozialistische Leitartikel in dem Neuen Deutschland am nächsten Tag überhaupt nix. Das heißt, wenn die Bevölkerung feststellt, dass ihr Held, nachdem die Fassade sozialistischer Phrasen abgekratzt ist, immer noch ein guter Mensch ist, immer noch eine gültige, und zwar traditionell gültige Tat, eine ganz klassische Tat vollbracht hat, dann bleibt der im Herzen der Leute ein Held, und niemand und nichts kann sie davon überzeugen, dass es nicht so wäre.

    Warum überhaupt brauchten die sozialistischen Gesellschaften große Helden? Weil nichts besser funktioniert, so fassen die beiden Herausgeber die Absichten der politisch Verantwortlichen zusammen, als die Darstellung und Vermittlung der Politik durch reale Menschen. Der zum Helden gemachte Mensch überzeugt mehr als jede Parteischulung, mehr als jede langatmige Rede und mehr als jede sozialistische Parole - sofern der Held die Ideale glaubhaft verkörpert. Und gerade dann, wenn sich in der Partei- und Staatsführung keine charismatischen Persönlichkeiten fanden, waren Helden gefragt, wie Rainer Gries am Beispiel der DDR verdeutlicht:

    Das politische Führungspersonal in der DDR, also Ulbricht und Honecker, waren nicht in der Lage, wie ein Held zu operieren, wie ein Held dargestellt zu werden. Das war mit diesen beiden doch überwiegend hölzernen bürokratischen, administrativen Figuren nicht möglich. Politische Führerhelden hat es in der DDR daher also nicht gegeben. Um so wichtiger waren die anderen Figuren, um so wichtiger waren die anderen Typen von Helden.

    Mit dem vorliegenden Sammelband wird Neuland betreten, denn eine zusammenfassende und vergleichende Kulturgeschichte sozialistischer Helden gibt es bisher nicht. Bei der Lektüre wird schnell deutlich, wo die Schwierigkeiten dieses ambitionierten Projekts liegen. Es scheint leichter zu sein, die Nadel im Heuhaufen zu finden, als neunzehn Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hinter einer Fragestellung zu versammeln. Denn der von Satjukow und Gries in der Einleitung unternommene Versuch, die nationalen Heldengeschichten der sozialistischen Staaten systematisch in ihren Unterschieden und Gemeinsamkeiten zu erfassen, dieser Versuch spiegelt sich nicht in allen Aufsätzen wider.

    Die einzelnen Beiträge lassen sich aber immer dann mit Gewinn lesen, wenn die rekonstruierte Überlieferung der Heldengeschichte im Mittelpunkt steht. So z.B. in den Beiträgen über Juri Gagarin und Ernst Thälmann. Eingeleitet werden die Aufsätze zu den Heldensagen der einzelnen Länder durch Überblicksdarstellungen, was sich für das Verständnis jener Leserinnen und Leser als hilfreich erweisen dürfte, die keine ausgewiesenen Experten in der Geschichte des Ostblocks sind. Trotz der dominierenden Sowjetmacht gab es Unterschiede zwischen den einzelnen Staaten. Während etwa in Ungarn nach 1945 die bisherigen nationalen Helden rigoros entfernt und durch internationale Arbeiterführer ersetzt wurden, spielte die kommunistische Partei in Polen ganz bewusst die nationale Karte. Es galt, die neue Gesellschaft und die polnische Nation über Patrioten vergangener Zeiten zusammenzuführen.

    Weniger gelungen sind dagegen die Texte im Buch, in denen die quellengesättigte und sichere Ebene der Darstellung durch wenig überzeugende Interpretationen ersetzt wird oder die Argumentation durch unvollständige Nachweise offene Fragen zurücklässt. So versucht Daniela Rathe am Foto einer von deutschen Soldaten 1941 gehängten Partisanin die besondere Grausamkeit dieser Tat an der freiliegenden Brust der Toten als Symbol weiblicher Erotik festzumachen. Andere Interpretationen werden nicht zugelassen. Doch die grausame Tat spiegelt sich auch in dem verzerrten Gesicht der Gehängten, um deren Hals noch der Strick liegt.

    Weniger beklemmend das zweite Beispiel. Rainer Gries schreibt einleitend über die Helden der DDR vom Sex-Appeal des Täve Schur . Ein Sportlerheld mit Sex-Appeal in der DDR der fünfziger und sechziger Jahre? Das macht neugierig, waren diese Jahre doch in Ost und West nicht gerade von Freizügigkeit geprägt. Aber im Aufsatz von Norbert Rossbach sucht man vergebens nach dem, was Täve Schur die erotische Ausstrahlung verlieh.

    Es ließen sich weitere Schwächen in dem einen oder anderen Text benennen, doch wiegen diese im Ergebnis nicht schwer. "Sozialistische Helden” ist insgesamt ein lesenswertes Buch, weil es den Leserinnen und Lesern die Geschichte des Ostblocks auf unkonventionelle Weise nahe bringt.

    Ulrich Kurzer über das von Silke Satjukow und Rainer Gries herausgegebene Buch: "Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR". Im Christoph Links Verlag Berlin, 312 Seiten zum Preis von Euro 19,90.