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Simon Rattles Lieblingsstück

Igor Strawinskys "Sacre de Printemps" gehört zweifellos zu den Lieblingsstücken von Simon Rattle. Der Chefdirigent der Berliner Philharmoniker setzt das sagenumwobene Werk immer wieder auf den Spielplan. Die neueste Interpretation hat das Label EMI konserviert.

Von Ludwig Rink | 19.05.2013
    Der "Sacre du Printemps" von Igor Strawinsky gehört ohne Zweifel zu den Lieblingsstücken des englischen Dirigenten Simon Rattle. Schon in seiner überaus erfolgreichen Zeit als Chefdirigent des City of Birmingham Symphony Orchestra zelebrierte Rattle dieses "Frühlingsopfer" immer wieder gerne und konservierte eine Version von 1987 auf CD. Und auch in der mittlerweile zehnjährigen Zusammenarbeit von Simon Rattle und den Berliner Philharmonikern spielt diese einst so revolutionäre Ballettmusik eine wichtige Rolle. Schon in seiner ersten Saison als Chefdirigent des Orchesters stand sie auf dem Programm.

    Viele Male haben er und die Musiker den "Sacre" seitdem gespielt, als Basis für das legendäre erste Education-Tanzprojekt des Orchesters, als Untermalung für experimentelles Kino auf der Berlinale und natürlich rein sinfonisch im Konzertsaal. Pünktlich zum Jahrestag der skandalumwitterten Uraufführung am 29. Mai vor 100 Jahren bringen Rattle und seine Berliner Philharmoniker bei EMI Classics einen im letzten November aufgenommenen Konzertmitschnitt des heute wohl bekanntesten Werkes von Igor Strawinsky heraus.

    Igor Strawinsky: Le Sacre du Printemps, Les Augures printaniers

    Strawinskys "Le Sacre du Printemps - das Frühlingsopfer" ist ein Jahrhundertwerk, ein Stück von großer künstlerischer Meisterschaft, das die Orchestermusik in eine radikal neue Bahn gelenkt hat. Die Spätromantiker, aber auch z.B. Debussy oder Rimsky-Korsakov hatten das Mammutorchester immer weiter vergrößert und bis zur letzten klanglichen Raffinesse entwickelt. So konnten sie gerade auch in der Programmmusik einer Unzahl von Gefühlen und sich verändernder seelischer Befindlichkeiten die jeweils beste Klangfarbe zugesellen; dabei klang der große Apparat dank der instrumentalen Masse besonders weich. Strawinsky stellte das mit dem "Sacre" alles auf den Kopf: Er benutzte dieses komplizierteste Orchester der Musikgeschichte zur Erzeugung denkbar einfacher, ja monoton primitiver Klangformeln.

    Nicht nur das groß besetzte Schlagzeug, auch alle anderen Instrumente, bis hin zu den Streichern, treten in den Dienst des Rhythmus, der unaufgelösten Dissonanz, des Geräuschs. Die Berliner Philharmoniker entfesseln diese höllische Klangmaschinerie mit traumwandlerischer Sicherheit, vital, kraftvoll, dennoch kontrolliert und auch im heftigsten Forte immer noch klanglich ausbalanciert. Es ist kein dumpfes barbarisches Stampfen, sondern bei aller umwerfenden Wucht immer noch spannungsgeladener, federnder Tanz.

    Igor Strawinsky: Le Sacre du Printemps, Jeux des cités rivales, Cortège du Sage, Le Sage, Danse de la Terre

    Neben dem "Sacre du Printemps" gibt es auf der neuen CD noch zwei später entstandene und weniger revolutionäre Werke von Igor Strawinsky: Die Ballettmusik "Apollon musagète" und die "Symphonies d‘instruments à vent" - ein abgerundetes, ausgewogenes Werk, in dem die Stimmen von Blasinstrumenten sich vereinen, um angenehme, wenn auch ungewöhnliche Resonanzen zu erzeugen: daher auch der Titel "Sinfonien" im Plural im Sinne von "Zusammenklängen".

    Diese Bläsersinfonien entwickelten sich aus einer Art Choral, den Strawinsky 1918 dem Andenken Debussys gewidmet und in einer französischen Musikzeitschrift veröffentlicht hatte. 1920 griff Strawinsky diesen Choral wieder auf und ergänzte ihn durch weitere charakteristische Teile, akkordisch-homofone oder kontrapunktische. Manches erinnert an psalmodierenden gregorianischen Choral, anderswo scheinen Dialoge stattzufinden. Diese einzelnen Teile werden aneinandergereiht, verschachtelt, verschränkt, überlagert, erweitert oder wiederholt. So entsteht eine Art Klangmosaik, eine seltsam starre, rituelle Musik, einfach da, ohne sich zu entwickeln. Strawinsky spricht von einer "strengen Zeremonie, bei der sich die verschiedenen Gruppen gleichartiger Instrumente in kurzen litaneiartigen Zwiegesängen begegnen". Die kirchentonalen Wendungen geben dem Ganzen etwas Archaisches. Derartige Modi hat Strawinsky als Ausdruck für das Kultische, Jenseitige des Öfteren verwendet, gerade auch in Gedenkstücken wie der Orchesterode in Memoriam Natalja Kussewitzky, in den Trauerkanons für Dylan Thomas oder dem Introitus für T.S.Eliot.

    Durch den Wechsel von gebetsartig-hymnischen und bewegungsintensiven Teilen regten diese Sinfonien für Bläser die Phantasie einer Reihe von Choreographen zu Ballett-Kreationen an.

    Igor Strawinsky: Symphonies d'instruments à vent

    Es ist schier unvorstellbar, mit wie vielen auch heute noch berühmten Menschen Strawinsky Freundschaften, Arbeitsbeziehungen, Bekanntschaften, direkte Kontakte pflegte - da müssen sich die meisten von uns Heutigen trotz Facebook und virtueller "Follower" geschlagen geben. Ob Ballettgrößen, Maler, Bildhauer, Komponisten, Dirigenten, Schriftsteller, Schauspieler, Verleger, Filmgrößen, Radio- und Plattenproduzenten - Strawinskys Lebenslauf liest sich wie ein Who is who der Kultur des 20. Jahrhunderts. Und hellwach, wie er die 89 Jahre seines Lebens war, nahm er von allen Orten und allen Begegnungen Anregungen mit, die in irgendeiner Weise Einzug in sein kompositorisches Schaffen hielten. Dieses ist vielleicht auch deshalb von bis dahin nie da gewesener Vielfalt. Sein größter Anreger und Förderer in jungen Jahren, der russische Ballett-Impresario Sergej Diagilev, hatte für alle von ihm beauftragten Komponisten die Losung ausgegeben: "Überrasche mich!"

    Strawinsky scheint diese Maxime wie kein anderer sein ganzes Leben lang beherzigt zu haben. Immer wieder schuf er mit neuen Werken gleichzeitig auch neue Stile - darin ganz ähnlich seinem Freund Pablo Picasso, dessen Werke man einzuordnen versuchte mit Begriffen wie Post-Impressionismus, blaue, rosa, schwarze Periode, analytischer und synthetischer Kubismus oder Klassizismus. Auch Strawinsky begann mit seinem "Feuervogel" in spätromantisch-impressionistischer Tradition, schrieb danach "Petruschka" in einem völlig gewandelten Stil und schuf mit dem "Sacre" wieder etwas völlig Neues, Unvorhersehbares. Und auf diese brutal hämmernde Explosion des Rhythmisch-Metrischen folgt eine zierlich dahin tänzelnde "Pulcinella". Parallelen zu Picasso findet man dann auch in der Hinwendung beider zum Klassizismus, der Beschäftigung mit antiken Stoffen oder der Auseinandersetzung mit dem bildnerischen bzw. kompositorischen Schaffen früherer Künstler.

    Ein prominentes Beispiel hierfür bietet das dritte Stück der neuen Produktion mit den Berliner Philharmonikern, das Ballett "Apollon musagète", eine fast handlungslose, aber formschöne Fantasie über den alten griechischen Mythos. Nach der Geburt des Apoll und den Tänzen der verschiedenen Musen werden wir am Ende Zeuge, wie Apoll die Musen in den Parnass einführt. Entstanden Ende der zwanziger Jahre, sucht Strawinsky hier nach dem Ende spätromantischer Hypertrophie, nach den revolutionären, nicht mehr tonal gebundenen Werken Arnold Schönbergs und nach vielen eigenen ganz unterschiedlichen, oft auch dissonanzgeprägten Experimenten eine neue, klassische Klarheit, eine Musik, bei der das melodische Prinzip wieder im Mittelpunkt steht.

    "Welche Freude", so notiert er später, "welche Freude, sich wieder dem vielstimmigen Wohllaut der Saiten hinzugeben und aus ihm das polyphone Gewebe zu wirken, denn durch nichts wird man dem Geist des klassischen Tanzes besser gerecht, als wenn man die Flut der Melodie in den getragenen Gesang der Saiten ausströmen lässt." Aber es sind nicht nur die Melodien, die das "Neoklassische" dieser Musik ausmachen, es ist auch die Kompositionsweise, die trotz einiger neuer Überraschungsmomente hier an Barockes von Lully, dort an Mozart, woanders an Tschaikowsky oder auch an damals aktuelle Unterhaltungsmusik erinnert.

    Igor Strawinsky: Apollon musagète, Coda: Apollon et les Muses

    Die neue Platte – heute mit drei Orchesterwerken von Igor Strawinsky, die Simon Rattle und die Berliner Philharmoniker bei EMI Classics veröffentlicht haben. Zuletzt hörten Sie einen Ausschnitt aus der Ballettmusik zu "Apollon musagète".