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Simple Storys

Jenny erzählt von einem neuen Job und Martin Meurer. Der Chef weist ein. Wo ist die Nordsee? Erst geht alles gut. Dann muß Jenny Überzeugungsarbeit leisten. Was passierte bei der Sintflut mit den Fischen? Zum Schluß erklingt Blasmusik.

Ingo Schulze |
    In einer grünen Turnhose steht er zwischen zwei Stühlen und versucht, in den Taucheranzug zu steigen, in den mit den roten Streifen, den ich gestern anprobiert habe. Der mit den blauen Streifen liegt auf dem Tisch. Wir geben uns die Hand. Er sagt: "Martin Meurer", und ich sage: "Jenny". "Der andere ist noch kleiner", sagt er, "aber die Flossen sind gut." Mit dem Rücken zu ihm, ziehe ich mich aus. Dabei reiße ich mir einen Jackenknopf ab. Ich fahre in den blaugestreiften Taucheranzug und zerre mir die Kapuze über. Weder Haare noch Ohren noch Hals sind zu sehen. Das macht mein Gesicht fast pausbäckig. Ich packe meine Sachen zusammen und warte, bis er endlich die Flossen anhat. In der rechten Hand hält er seine Plastetüte, in der linken die Taucherbrille und den Schnorchel und läuft vorsichtig wie ein Storch über den Gang zu Kerndels Büro. Zweimal klopft er. Ich sage, daß er die Tür aufmachen soll. Wir setzen uns auf die beiden Stühle links an der Wand und warten. "Ich sehe aus wie eine Nonne", sage ich. "Nein", sagt er. "Wie diese Moderatorin im Raumanzug. Haben Sie das schon mal gemacht?" "Was?" frage ich. "Das hier. Sie waren so schnell fertig." "Ich war gestern da", sage ich, "aber alleine lassen sie einen nicht." "Ganz schön warm", sagt er. "Ich hab kalte Füße", sage ich. "Kalte Füße habe ich auch", sagt er. "Aber sonst -" "Hallo, Jenny!" ruft Kerndel. "Na, wie gehts?" Wir stehen auf. "Meurer", stellt er sich vor und klemmt die Plastetüte zwischen die Knie. "Martin Meurer." Kerndel gibt ihm die Hand. Wir setzen uns wieder. Kerndel lehnt sich an den Schreibtisch, nimmt einen Zettel in die Hand und dreht ihn um. Er erzählt dasselbe wie gestern. "Und dann stellt ihr die Frage: 'Wo ist die Nordsee?' oder: 'Können Sie uns sagen, wo hier die Nordsee ist?' oder 'Wie komme ich zur Nordsee?' Wie ihr wollt, aber Nordsee muß sein, klar?" "Ja", sage ich, "kein Problem." Kerndel sieht ihn an. "Klar?" "Klar", antwortet Martin, hebt die rechte Flosse und platscht auf den Teppich. "Und immer gute Laune verbreiten", sage ich. "Aber feste!" sagt Kerndel, "sonst könnt ihr gleich zu Hause bleiben." Er rückt ein Stück an der Tischkante weiter und beobachtet die eigene blasse Hand, die den Zettel wie einen Waschlappen auf seinem Schenkel vor- und zurückschiebt, das Imitat einer großen Eintrittskarte. Auf einem Stück, das durch eine perforierte Linie abgeteilt wird ("Hier abreißen - für Ihre Brieftasche"), ist ein Ausschnitt des Stadtplans abgebildet. Der rote schematisch gezeichnete Fisch markiert die Stelle, wo sich die beiden Filialen befinden. Den größten Teil der Karte nimmt das Foto einer hellbraunen, vom Wind geriffelten Wüste ein. Darüber steht in weißer Schrift auf blaulila Wolkenhimmel: "Wo ist die Nordsee?" "Und wenn die Antwort 'nein' ist? "Aber wir!" sage ich. "Schulstraße 10a und Schulstraße 15! Dürfen wir zu Fisch bitten? Mit Mai-Menü! Und dann überreichen wir den Zettel." "Den 'Flyer'", verbessert Kerndel. "Und bei: 'ja'?" Kerndel blickt zu Martin. "Wie kommen wir dahin?" sagt er und platscht wieder mit der Flosse. "Jenny?" sagt Kerndel. "Auf 'ja'?" "Prima! Führen Sie uns hin?" sage ich. "Ist das jetzt verstanden worden?" Kerndel starrt Martin an, bis er mit "ja" antwortet. Dann läßt er ihn das Mai-Menü aufsagen: "Gebackene Scholle mit Petersilienkartoffeln, gemischter Salat, Remouladensoße und Coca-Cola, 0,3 Liter. Statt 15,40 jetzt: 12,95!" "Steht ja alles hier drauf", sagt Kerndel. "Aber nicht ablesen. Das ist unter Niveau. Abgelesen wird nicht. Noch mal!" "Gebackene Scholle mit Petersilienkartoffeln, grüner Salat und Remouladensoße, dazu eine große Cola, nur 12,95", sage ich. "Statt 15,40", ergänzt Kerndel. "Gemischter Salat, Coca-Cola, 0,3 Liter. Setzt mal die Brillen auf. Und jetzt sprechen. Sprechen,sprechen,sprechen ... " "Wie komme ich zur Nordsee?" frage ich. "Wissen Sie, wo die Nordsee ist?" Kerndel zeigt auf ihn. "Wo geht es hier zur Nordsee? Ich will zur Nordsee! Da ist Meer los! Können Sie mir helfen?" "Zu nasal, beide zu nasal, also ohne Brille", sagt er. "Nein, nicht ab. Auf die Stirn damit! Die Brillen hoch!" Das Telefon klingelt und verstummt nach dem zweiten Mal. "Und das so, so." Kerndel ist aufgestanden und zerrt ihm den Schnorchel nach unten. "Noch ein Stück! So! Und nie zu viele Flyer in die Hand, vier, fünf höchstens, keine Inflation, klar? So." Wir nicken. "Und was geschah bei der Sintflut mit den Fischen?" fragt Kerndel, klatscht in die Hände, legt mir den Arm um die Schulter und zieht mich an sich. "Dann schießt mal los." Er geht um seinen Schreibtisch und nimmt den Hörer ab. "Alles Paloma!" ruft er uns nach. Bei der Sekretärin stellen wir unsere Beutel in den Schrank und bekommen die blauen Umhängetaschen mit den Zetteln. "Schaffen Sie das?" fragt sie mich. "Tausend in jeder." Sie hält uns die Tür auf. "Dort lang, bitte." Vor dem Hinterausgang bleibt Martin stehen, sieht mich an und sagt: "Wir müssen jeden ansprechen, jede und jeden, von Anfang an, sonst wird das nichts. Einmal gekniffen ... " Vielleicht ist er mal Lehrer gewesen, denke ich. Ich hab die Tür noch gar nicht zu, da legt er schon los. Zwei Jungen, höchstens 14 oder 15, sehen ihn an. "Na, wißt ihrs denn nicht?" fragt er. Sie betrachten unsere Flossen und dann die Taschen. "Wir wollen zur Nordsee", sage ich. Sie schütteln den Kopf. "Bitte. Da ist Meer los!" sagt er. "Na los", sagt er. Endlich nehmen sie die Zettel. Wir laufen in Richtung Fußgängerzone. Ich sage, daß wir solche Kinder auslassen können. "Pubertät", sagt er und nickt. Es klappt dann wirklich gut. Wir spielen uns schnell ein. Meistens beginne ich, er hakt nach: "ja, zur Nordsee wollen wir!" "Genau, zur Nordsee", sage ich oder: "Wissen Sie es wirklich nicht?" Und er: "Dann wollen wir es Ihnen mal verraten!" Nach einer kleinen Pause sprechen wir schließlich gemeinsam die Adresse. Die Leute lachen und nehmen ohne zu zögern den Zettel. "Entschuldige", sagt Martin plötzlich. "Das war blöd von mir." Ich weiß nicht, was er meint. "Daß ich denen noch 'Guten Appetit' gewünscht habe." Ich sage, daß ich das nicht schlecht finde, und rufe jetzt, wenn ich mit dem Zettel dran bin, auch "Guten Appetit". Manche antworten mit "Gleichfalls" oder "Ihnen auch". "Die sind ja richtig neugierig, geradezu froh, wenn wir sie ansprechen", sagt er. "Regelrecht zutraulich!" Stehen erst mal ein paar um uns herum, kommen die anderen von allein. Es gibt sogar Drängeleien, und wir verteilen nur noch an irgendwelche ausgestreckten Hände. "Ob er uns beobachten läßt?" fragt er leise. "Sicher", sage ich. "Ich habe versucht, so lebendig wie du zu klingen", sagt Martin. "Aber überzeugt hats ihn nicht." "Du hast dauernd deine Flosse bewegt", sage ich. "Was?" "Du hast ständig mit deiner Flosse herumgeplatscht, so hier -" Ich mache es ihm vor. "Hast du das nicht gemerkt?" Er schüttelt den Kopf "Vielleicht war er deshalb so." "Der ist so", sage ich. "Da läßt sich nichts mehr machen." Wo die Fußgängerzone auf den Schloßplatz trifft, spielt eine Blaskapelle vor einem weißen Zelt mit hoher Spitze. Es sieht orientalisch aus. Daneben wird ein Mann von Fernsehleuten interviewt. Er hat einen runden gelben Sticker am blauen Jackett: "Unser Rindfleisch - mit Sicherheit gut!" Die Musikanten tragen ebenfalls diese Sticker und auch die Frauen, die Steaks und Würste braten. Überall sehe ich jetzt Leute mit diesen Rindfleischstickern. Sie verteilen Zettel, die größer sind als unsere. "Würdest du für die arbeiten?" fragt er. "Ja", sage ich. "Findest du denn unser Angebot so toll?" "Ich weiß nicht", sagt er. "Auf dem Foto wirkt die Scholle wie totpaniert, steinhart wahrscheinlich, und nur einsfünfundvierzig billiger. Obs das bringt?" Als ich ihn frage, woher er kommt, sagt Martin nur, "aus dem Osten, aus Thüringen". Er besucht seine Mutter hier. "Kerndel", sagt er, "hat überhaupt nicht mehr von der Bezahlung gesprochen, von den hundertzwanzig pro Tag." "Daran müssen sie sich aber halten", sage ich. "So stand es in der Anzeige." Er nickt. Plötzlich sagt er: "Bei Familien reicht eigentlich auch ein Zettel." Erst denke ich, er will witzig sein. "Für Freunde und Bekannte", antworte ich. "Auch richtig. Wenns so weitergeht, sind wir nachmittags fertjg." Wir müssen noch in die Geschäfte der Fußgängerzone, aber selbst wenn wir niemanden ansprechen, bleiben Leute stehen und strecken die Hand aus. Die Kapelle spielt ohne Pause. "Du hast das vorhin mit der Flosse erwähnt", sagt er. "Und?" "Weißt du, daß du dauernd lächelst?" "Du auch", sage ich. Nach einer Stunde etwa beginnt es zu nieseln. Die meisten Leute laufen dicht an den Schaufenstern, unter den Markisen entlang, von Vordach zu Vordach. Während er draußen weitermacht, gehe ich in die Geschäfte. Eine Frau winkt mir zu und ruft: "Hallo, Fröschlein." Ich unterbreche keine Gespräche. Aber wenn sie mich ansehen oder sich nach mir umdrehen, frage ich leise, als hätte ich mich verirrt: "Entschuldigung, wissen Sie vielleicht, wo hier die Nordsee ist?" Einen Moment lang sind sie schockiert. Wenn sie dann loslachen, gebe ich ihnen den Zettel. Als ich Martin nicht mehr vor dem Schaufenster sehe, gehe ich raus. Ich laufe ein Stück zurück, finde ihn aber nicht. Dafür liegen Nordseezettel herum. Er sitzt mit dem Rücken an eine Fahnenstange gelehnt und antwortet nicht. Sein linkes Auge ist geschwollen. Er blickt kurz auf und fragt, ob ich seinen Schnorchel irgendwo gesehen hätte. Ich versuche, ein paar von Kerndels Nordsee-Flyern einzusammeln, die auf den nassen Platten kleben, trete aber mit meinen Flossen immer wieder auf die Zettel, nach denen ich mich gerade bücken will. "Hast du auch eine schlechte Erfahrung gemacht?" fragt Martin, als ich wieder vor ihm stehe. "Nein", sage ich, "warum?" "Du guckst so." "Ganz schönes Veilchen", sage ich. "Hast du den Schnorchel?" Ich suche weiter. Ich finde noch ein paar Zettel und kehre zu ihm zurück. "Entschuldige", sagt er, hebt den Schnorchel auf und tippt mit dem Mundstück auf seine linke Flosse. "Stand drauf, habs nicht gemerkt." "Soll ich dir Eiswürfel besorgen?" "Weißt du, woran ich denken mußte? An diesen Spruch mit den Fischen und der Sintflut. Ich war gelähmt, wirklich gelähmt", sagt er. "Zuerst hat der Typ nach unten geschaut, und dann hat er mich angestiert und seine Frau gefragt, ob sie mich kennt. Ich stand auf seinen Schuhen, mit den Flossenspitzen, nur ein bißchen. Ich habs gar nicht gespürt, und er kanns auch nicht gespürt haben. Seine Frau hat gesagt, daß sie mich nicht kennt. Ich glaube, ich bin sogar ein Stück geflogen." "Ist dir schlecht?" "Dieser Spruch mit der Sintflut ist saublöd", sagt er. "Ich hab nichts anderes gesagt als sonst. Dasselbe wie immer." "Wir müssen zu Kerndel", sage ich. "Wegen den Versicherung. Das ist ein Unfall." "Ich geh da nicht mehr hin." Er platscht mit der Flosse. "Ich weiß, woran es lag", sage ich und warte, daß er mich ansieht. "Dem gefiel mein Dialekt nicht." "Er hat doch die Frau gefragt, ob sie dich kennt? Und als sie 'nein' sagte, hat er zugeschlagen?" "Woher sollten wir uns denn kennen? Ich bin zum ersten Mal hier!" "Er wollte nur wissen, ob du ein Promi bist", sage ich. "Nur deshalb!" Martin versteht nicht. "Ein Promi macht so was vielleicht noch, mit versteckter Kamera oder wegen der verlorenen Saalwette", erklär ich ihm. "Aber sonst niemand, niemand in deinem Alter. Der Typ hat sich verscheißert gefühlt. Das ist alles." Er sieht mich an, als hätte ich ihm eine Ohrfeige gegeben. "Das ist natürlich unmöglich", sage ich. "Ich mein ja nur, daß dieser Idiot so was gedacht haben muß. Du bist wirklich gut, du hast eine Ausstrahlung, die andere Leute fröhlich macht. Du hast wirklich gute Laune verbreitet, nicht nur dieses Zeug. Das muß dir erst mal jemand nachmachen. Außerdem hast du eine gute Figur." Er spuckt zwischen seine Flossen. "Alle haben sich gefreut", sage ich. "Wir müßten viel mehr Geld bekommen, nicht nur von Kerndel, auch vom Bürgermeister und von den Krankenkassen, wegen guter Laune." Martin sieht mich an. Sein linkes Auge ist schon zugeschwollen. "Das war ein Ekel. Der hält Freundlichkeit einfach nicht für möglich", sage ich. "Es hat niemanden gekümmert", sagt er und spuckt wieder. "Keiner hat sich gerührt." "Die waren überfordert", sage ich. "Die Leute wußten doch gar nicht, was sie machen sollten, die begriffen gar nicht, was da vor sich ging. So was haben die bisher nicht erlebt. Mitten in der Fußgängerzone wird ein Froschmann verprügelt. Vielleicht dachten sie, daß es nicht weh tut, wenn man ganz in Gummi steckt, oder daß es dazugehört. Sie wollten sich nicht blamieren, falls es sich als Kunst oder Straßentheater herausstellt." Ich erzähle Martin von dem alten Mann, der auf seinem Balkon bei uns im Hinterhof gestorben ist, der mit den Bananen und der lauten Musik. Wir haben alle gedacht, er schläft. Und er saß da im Regen, die ganze Nacht durch. "Die ganze Nacht?" "Ja", sage ich. "Es war ja dunkel. Erst als er am Morgen immer noch da war ... Wir gehen jetzt zu Kerndel." Martin schließt die Augen, wie ich es mal bei einer Frau in der U-Bahn gesehen habe. Ganz ruhig schloß sie die Augen, ohne sich zu rühren, bis die Türen aufgingen. Martin schüttelt den Kopf. "Doch", sage ich, "wir müssen." Ich halte seine Taucherbrille und den Schnorchel, während er aufsteht. Die Umhängetasche ist schmutzig. Er zieht vorsichtig die Kapuze über den Kopf. "Ich geh nicht mehr zu Kerndel", sagt Martin. Er braucht lange, um sich die Taucherbrille aufzusetzen. "Wohin denn dann?" frage ich. "Weg", sagt er, "möglichst weit." Er spuckt wieder aus, nimmt sogar den Schnorchel in den Mund und klemmt ihn unter dem Brillenband fest. Zum Schluß hängt er sich die Tasche um. Ich mache es wie er. Dann laufen wir los. Die Leute stehen unter den Markisen und Vordächern und warten, daß der Regen aufhört. Bis auf einen Radfahrer haben wir die Fußgängerzone für uns. Wir platschen durch die Pfützen. Einmal sehe ich, daß uns jemand zuwinkt und etwas ruft, irgendwas mit Nordsee natürlich. Man könnte sogar glauben, die Leute bilden ein Spalier für uns. Wir halten uns an der Hand, weil die Brille das Blickfeld einengt und man nie weiß, ob der andere wirklich noch neben einem geht. Die Kapelle spielt unter dem weißen Zelt weiter, lauter und schneller jetzt, eine Polka, denke ich. Aber eigentlich weiß ich gar nicht, was eine Polka ist. Vielleicht ist es ein Marsch oder so etwas. Wie auch immer, Martin und ich verfallen in Gleichschritt. Und selbst als wir die Fußgängerzone verlassen, ändert sich daran nichts.