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Sinfonisches von Tschaikowski
Neu-Berliner trifft Ex-Berliner

Kommende Spielzeit tritt Kirill Petrenko sein Amt als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker an. Geiger Guy Braunstein spielte dort jahrelang als Konzertmeister. Jetzt haben beide CDs mit Werken von Peter Tschaikowski veröffentlicht. Petrenko präsentiert sich sinfonisch an neuer Wirkungsstätte und Braunstein solistisch mit dem BBC Symphony Orchestra.

Von Christoph Vratz | 19.05.2019
    Kirill Petrenko ist Chefdirigent der Berliner Philharmoniker und derzeit auch noch Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper.
    Kirill Petrenko ist Chefdirigent der Berliner Philharmoniker und derzeit auch noch Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper. (Sven Hoppe/dpa)
    Musik: Peter Tschaikowski, Sinfonie Nr. 6 h-Moll, op. 74
    Schwermütig eröffnen Kontrabässe und Fagotte Tschaikowskis letzte Sinfonie, die Sechste mit dem Beinamen "Pathétique", bevor sich dunkelfarben und erdig die Bratschen einschalten. Hier also ist sie, die heiß ersehnte erste Aufnahme der Berliner Philharmoniker unter ihrem neuen Chefdirigenten Kirill Petrenko, aufgenommen bei einem Konzert in der Berliner Philharmonie im März 2017.
    Musik: Peter Tschaikowski, Sinfonie Nr. 6 h-Moll, op. 74
    18 Takte währt das melancholisch-düstere Suchen bis Allegro non troppo, also schnell, und doch nicht zu sehr, der Hauptteil dieses ersten Satzes einsetzt.
    Musik: Peter Tschaikowski, Sinfonie Nr. 6 h-Moll, op. 74
    Während die Streicher den Ton der langsamen Einleitung behutsam aufhellen, stellt sich mit dem Einsatz der Flöten eine milde Stimmung ein. Das Ganze klingt unter Petrenkos Leitung kammermusikalisch und genau aufeinander abgestimmt in Tempo, Rhythmik sowie Balance der einzelnen Stimmen. Dieser Gestus bleibt auch erhalten sobald die Musik mit ihren fast bohrenden Tonwiederholungen Fahrt aufnimmt. "Un poco animando" schreibt Tschaikowski, und genau diese Belebung wird bei den Steigerungen in diesem ersten Satz stets erlebbar, bis sich folgerichtig das erste Tutti entlädt.
    Musik: Peter Tschaikowski, Sinfonie Nr. 6 h-Moll, op. 74
    Ein "Schock" sei es für ihn gewesen, damals, im Juni 2015, als er erfuhr, dass die Berliner Philharmoniker ihn zum Chefdirigenten gekürt hatten. Doch diesen Schock hat Kirill Petrenko bestens verdaut, zumindest wenn sich der als medienscheu geltende Dirigent ganz auf seine musikalische Arbeit konzentrieren kann. Die eigene Hingabe auf sein neues Orchester zu übertragen, gelingt ihm bereits in diesem Konzertmitschnitt auf ganzer Linie. Das Orchester spielt, als habe es die ganzen Querelen rund um die Nachfolgeentscheidung, wer das Szepter von Simon Rattle übernehmen werde, nie gegeben. Die Berliner Philharmoniker dokumentieren hier eine Verve und Brillanz, die man zuletzt selten von ihnen gehört hat. Petrenko dreht mit großer Souveränität das Schwungrad und behält gleichzeitig die Kontrolle über alle Details. So entlädt sich in der Mitte des ersten Satzes eine geradezu soghafte Hochspannung.
    Musik: Peter Tschaikowski, Sinfonie Nr. 6 h-Moll, op. 74
    Kunst als Wagnis und Versprechen für die Zukunft
    Petrenko zeigt vom ersten bis zum letzten Takt, was diese Musik darstellt: ein in allen Extremen existentialistisches Klanggemälde. Der neue Berliner Chef animiert sein Orchester, vordergründig betrachtet, zu einer Art Hochleistungssport. Doch damit würde sich Petrenko nie begnügen. Wir erleben vielmehr den Versuch, Kunst als Wagnis darzustellen. Dass jede Interpretation immer auch vom Risiko des Scheiterns bedroht ist, das weiß natürlich auch Petrenko. Doch dieses Risiko nimmt er in Kauf, wohl wissend, dass er weder mit triefender Sentimentalität noch mit rein technischer Virtuosität dem Geist von Tschaikowskis Musik entsprechen würde. Also wählt er alle Verzögerungen, die Rubati, mit Bedacht und arbeitet sie dennoch deutlich hörbar heraus. Er präsentiert die Seufzer-Motive klagend, aber nie kitschig. Das gilt besonders für den Finalsatz, das berühmte langsame Lamentoso.
    Musik: Peter Tschaikowski, Sinfonie Nr. 6 h-Moll, op. 74
    Den Gegenentwurf zu dieser Leidensmusik bildet das tänzerische Allegro con grazia im zweiten Satz von Tschaikowskis Sechster. Nicht nur, dass Petrenko diesen auf geradezu balletteuse Art spielen lässt, die Celli gestalten das Hauptthema anfangs mit einer Mischung aus naivem Freisinn und verhaltener Grübelei – ein ebenso heikler wie selten zu hörender Spagat.
    Musik: Peter Tschaikowski, Sinfonie Nr. 6 h-Moll, op. 74
    Als Kontrast zu diesem wiegend-tänzerischen Abschnitt hat Tschaikowski im dritten Satz ein Allegro molto vivace geschrieben, dessen berstender Charakter in vielen Aufnahmen breiartig und befremdlich pauschal oder aber sehr effekthascherisch eingefangen wird. Kirill Petrenko jedoch beweist gerade in diesem Satz eine Genauigkeit, die für ihn einerseits selbstverständliche Voraussetzung ist und zugleich Zeichen seines unbeugsamen Anspruchsdenkens. Die Berliner folgen mit einer Bereitschaft, als wollten sie nicht nur die eigene Wahl ihres neuen Chefdirigenten nachträglich rechtfertigen, sondern zugleich die Qualität des Musizierens als Versprechen für die Zukunft verstanden wissen.
    Musik: Peter Tschaikowski, Sinfonie Nr. 6 h-Moll, op. 74
    Einziges Manko dieser CD bzw. SACD, die beim orchestereigenen Label der Berliner Philharmoniker herausgebracht wurde, ist, dass die Aufnahme nur ein Werk enthält. Warum hat man nicht Mozarts Haffner-Sinfonie, die Petrenko bei diesem Konzert ebenfalls dirigiert hat, mit veröffentlicht?
    Ex-Philharmoniker auf solistischen Pfaden
    Die Ära Petrenko wird der Geiger Guy Braunstein nun nicht mehr erleben, zumindest aus der Sicht des Orchestermusikers. Er war zwischen 2000 und 2013 erster Konzertmeister bei den Berliner Philharmonikern, bevor er sich für eine Solistenkarriere entschieden hat. Nun ist beim Label Pentatone sein erstes Album erschienen, mit dem Violinkonzert von Peter Tschaikowski.
    Musik: Peter Tschaikowski, Konzert für Violine und Orchester D-Dur, op. 35
    Braunstein tastet sich behutsam in dieses Konzert, er trägt nicht zu dick auf, er lässt seine Ruggieri-Geige aus dem späten 17. Jahrhundert einfach singen. Natürlich steht "einfach singen" hier für hohe Kunst. Die Melodien entfalten sich mit großer Natürlichkeit, und Braunstein bringt sie mit einem fließend-cremigen Ton voll zur Geltung, abwechselnd sanft oder durchaus druckvoll.
    Musik: Peter Tschaikowski, Konzert für Violine und Orchester D-Dur, op. 35
    Das BBC Symphony Orchestra unter Kirill Karabits gibt sich nicht nur in diesem Abschnitt etwas bedeckt, so als wolle man dem Solisten nicht zu sehr die Show stehlen. Dadurch kommt das Dialogische jedoch etwas zu kurz, gerade in den kurzen Abschnitten von Rede und Widerrede.
    Musik: Peter Tschaikowski, Konzert für Violine und Orchester D-Dur, op. 35
    Am Beginn der Kadenz lässt Tschaikowski die Geige rauf- und runterjagen, ein nervöses Rasen und Suchen, bevor auf dem hohen e ein kurzer Ruhepunkt erreicht ist. Dann saust die Musik in chromatisch geführten Sexten abwärts. Guy Braunstein spielt das mit großer Klarheit, schnörkellos und ohne dass die Geige klirrt oder die Linie verliert. Gleichzeitig hat dieser Abschnitt etwas Experimentelles, da mehrere Komponenten in dieser Sequenz zusammenfließen: eine vorangetriebene Flüchtigkeit, geträumter Gesang, polyphone Etüde und schwermütige Süße.
    Musik: Peter Tschaikowski, Konzert für Violine und Orchester D-Dur, op. 35
    Guy Braunstein meidet auf dieser CD einen neuartigen Ansatz wie etwa kürzlich Antje Weithaas, die Tschaikowskis Konzert geradezu entrümpelt und entschlackt und äußerst kammermusikalisch gedeutet hat. So weit geht Braunstein nicht. Er unternimmt auch erst gar nicht den Versuch, dieses Werk historisch informiert deuten zu wollen, sein Vibrato etwa bleibt deutlich erkennbar, ohne jedoch schmelzartig und leiernd ins Gewicht zu fallen, was sich besonders im zweiten Satz zeigt.
    Musik: Peter Tschaikowski, Konzert für Violine und Orchester D-Dur, op. 35
    Als misstraue Tschaikowski selbst dieser hier entworfenen Idylle, lässt er ein Finale furioso folgen, das Geiger und Orchester gleichermaßen an Grenzen führt. Das große Plus dieser Einspielung besteht darin, dass sich der aufgeladene Charakter dieses Satzes auf überraschende Weise unaufgeregt vermittelt. Das klingt zunächst wie ein Widerspruch. Zwar wird der borstige, aufbegehrende Charakter dieser Musik mit aller Klarheit eingefangen, doch geschieht dies sozusagen ohne künstliche Zusatzstoffe, ohne übertriebene Akzente oder fragwürdige Tempo-Forcierungen. Das gilt für die rasanten, hier mit pointierter Leichtigkeit vorgetragenen Läufe ebenso wie für die gewichtigen Abschnitte mit wuchtigen Doppelgriffen. Braunstein spielt, als solle diese Musik so ursprünglich wie möglich und so energetisch wie nötig klingen, ohne das rhapsodische Element zu verleugnen.
    Musik: Peter Tschaikowski, Konzert für Violine und Orchester D-Dur, op. 35
    Auf den Spuren von Fritz Kreisler
    Hier nun agiert das BBC Symphony Orchestra ungleich agiler, kommentiert immer wieder die Gedanken der Solo-Geige, umspielt sie oder schlüpft in den Part des Widersachers. So ist eine insgesamt stimmige Aufnahme entstanden. Ergänzt wird das Programm durch Tschaikowskis "Sérénade mélancolique" und das Walzer-Scherzo, op. 34 sowie durch drei Bearbeitungen Braunsteins. Er hat sowohl einen Abschnitt aus "Schwanensee" als auch zwei Sequenzen aus der Oper "Eugen Onegin" für Geige und Orchester eingerichtet, darunter die bekannte Arie des Lenski. Braunstein möchte mit diesen Arrangements an eine Tradition anknüpfen, die in die Zeit eines Fritz Kreisler oder Leopold Auer zurückführt. "Sie haben die Geschenke der Komponisten bekommen", so Braunstein, "und haben dann ihre Bearbeitungen und ihre neuen Fassungen zurückgeschenkt. Damit haben sie die Geigenliteratur reicher gemacht."
    Musik: Peter Tschaikowski, Lenski-Arie aus "Eugen Onegin" bearbeitet für Violine und Orchester
    Heute habe ich Ihnen zwei CDs mit Musik von Peter Tschaikowski vorgestellt. Zunächst die sechste Sinfonie mit Kirill Petrenko und den Berliner Philharmonikern, erschienen beim orchestereigenen Label, und zuletzt das Violinkonzert sowie mehrere kleinere Stücke mit dem Geiger Guy Braunstein und dem BBC Symphony Orchestra unter Kirill Karabits, veröffentlicht als SACD bei Pentatone.
    Peter Tschaikowski
    Sinfonie Nr. 6 h-Moll, op. 74 "Pathétique"
    Berliner Philharmoniker
    Ltg. Kirill Petrenko
    Berliner Philharmoniker Recordings
    "Tschaikovsky Treasures"
    Guy Braunstein, Violine
    BBC Symphony Orchestra
    Ltg.: Kirill Karabits
    Pentatone