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Sinnliche Präsenz und sprachliche Genauigkeit

Der 1972 in München geborene Nico Bleutge gehört zu den talentiertesten deutschen Lyrikern seiner Generation. Die FAZ empfand seinen ersten Gedichtband "klare konturen" aus dem Jahr 2006 als die "bedeutendste Lyrikveröffentlichung in diesem Jahr". Der mehrfach preisgekrönte Bleutge legt nun seinen zweiten Gedichtband vor. "fallstreifen" heißt er.

Von Oliver Seppelfricke |
    "Fallstreifen" heißen jene dunkelgrauen Fäden aus Regen, die man aus der Ferne unter schwarzen Wolken am Himmel beobachten kann, Regenfäden, die unter dem Einfluss des seitlichen Windes fortschreiten und zu Schlieren verdunsten, die aussehen wie Kohlestaub, der in Kolonnen schnurstracks zur Erde fällt. Nico Bleutge wählt dieses selten zu sehende Naturphänomen als Titel für seinen neuen Gedichtband. In dem viel von Landschaften und Naturphänomenen die Rede ist. Was kann bei ihm ein Gedicht auslösen?

    "Das ist ganz unterschiedlich. Also es gibt bei fast allen Gedichten irgendwelche Notizen mit kleinen Sprachsplittern, die sich oft abspalten. Oder tatsächlich auch Wahrnehmungen, Beobachtungen, die sich so aus dem alltäglichen Wahrnehmen irgendwie absprengen und die können dann als kleine Notiz ein Impuls sein für ein Gedicht. Das ist aber eine Notiz, die dann oft sehr grobschlächtig noch ist und gar nichts mit dem Gedicht letztendlich zu tun hat, aber vielleicht eine bestimmte rhythmische Struktur schon hat, die ich dann vielleicht versuche für ein Gedicht irgendwie zu übernehmen."

    "luft"

    dann, gegen mittag, kommen die ersten
    geräusche von der straße herauf. das klopfen von händen
    auf stoff, die schnellen kinderstimmen. im gelände
    zwischen den wohnblocks, ruhigere
    bewegung. flecken wandern, luft schiebt umher
    der blick zieht die umrisse nach
    auf der hangfläche längs der garagen. holzzäune
    schmale nesselfelder, dahinter das glitzern
    der neubaufassaden. kurz nur
    hebt wind an, ballt sich
    weht sand in die hügelschneisen
    hell und markiert bis zum rand
    mit signaltafeln, dicht an der sicherheitszone
    die sich ausstreckt über die ebene, an den kontrollstellen
    kaum mehr zu sehen ist. baumreste bleiben
    maschendrahtweiten, der schatten des windrads, der seitlich
    über die hausdächer flappt
    (Zitat S. 17)

    Nico Bleutges Gedichte sind Landschaftsgedichte in ihrer besten Art. Viel ist von Licht und Schatten die Rede, die Umrisse von Menschen oder Dingen erscheinen oder verschwinden, ein genauer Beobachter hält diese Bewegungen fest. In einer beeindruckenden Intensität. Das meiste wirkt auf den ersten Blick überwältigend schön, spontan und gekonnt -und ist doch das Ergebnis harter Arbeit.

    "Die eigentliche Arbeit die spielt sich dann natürlich schon am Schreibtisch ab und ist sehr viel trockener und viel "langweiliger" als man sich so vorstellt. Das hat sehr viel mit dem Abklopfen von rhythmischen Strukturen, von Klangmustern zu tun. Auch so mit einem Warten, wohin der Rhythmus denn einen weiterführt, den man sich jetzt für dieses Gedicht vorstellt. Das hat sehr viel auch mit der Arbeit an Wörterbüchern zu tun. Mit Begriffen, die man nachschlagen und vielleicht erst finden muss, erfinden teilweise auch, um so nach und nach – ich arbeite da sehr langsam – den Text in den Griff zu bekommen und so Stück für Stück herauszumeißeln."

    "das gleiten empfindlicher stoffe" heißt es an einer Stelle, und so könnte man Nico Bleutges poetisches Prinzip benennen: Ein empfindliches Auge trifft auf ein Fluidum, Licht oder Luft, nimmt die kleinsten Bewegungen an Gegenständen und im Schattenspiel wahr, an Wäldern, Wellen, Bäumen, an alten Bunkern, Wohnbaracken, Hochspannungsleitungen oder an Regenfäden. Immer entsteht der Eindruck erst im Auge des Betrachters. Das Schauen ist hier das eigentliche Ereignis:

    auf den see hinausfahren, nachts, wenn die strömung
    die farbe des wassers bestimmt. luft wandert, breitet sich aus
    das land gibt nach unter dem druck der wirbel

    die wellen durchdringen einander, weiße
    lautlose strukturen, von den schatten der reling begleitet
    nimmt die fähre kurs auf das andere ufer

    was bleibt, rückt das auge weiter hinein
    in die dünung hinter den planken. lichtflecken, hafenumrandung
    der pegel beginnt zu steigen

    erst das schauen entdeckt die bewegung
    die das boot zu teilen scheint, ein zweiter umriß, der sich langsam
    aus der dunkelheit löst, gehalten, ansichtig gemacht

    vom blick. während die fähre ruhig, kaum merklich
    in ihrem gegenstück verschwindet
    wieder auftaucht, mit dem bug in der schwemmzone

    die luft ist dünner, als das boot an der kaimauer anlegt
    wasser sickert und die farben
    gehen zurück, in der schicht zwischen land und wellen

    in der brechung der wasserfläche, dort
    wo die kälte sich sammelt, aufgestiegen vom grund
    von der strömung ans ufer gezogen
    (Zitat S. 55)

    "Mir ist ja immer diese Wechselbeziehung des Wahrnehmenden, Sprechenden und der Szenerie, mit der er es zu tun hat, wichtig. Also es geht mir nicht darum, eine Landschaft einfach so zu beschreiben, sondern diese Wechselwirkung immer. Was passiert eigentlich? Wie stellt sich so etwas wie Welt überhaupt erst her? In diesem Zusammenspiel von Sprechen, Wahrnehmen und den Dingen, mit denen man es irgendwie zu tun hat. Und da ist gerade die Landschaft durch den Rhythmus des Schauens zum Beispiel sehr anregend, weil sich alleine schon so etwas wie dieser Rhythmus des Wahrnehmens in einen Rhythmus der Sprache übersetzt."

    Das wandernde Auge tastet die feinsten Verästelungen der Landschaft und der Gegenstände ab, es hält die kleinsten Veränderungen des Wetters und des Lichtspiels fest. Und zwar ohne dass es eines lyrischen Ichs hierfür bedürfte. Nur in einer Abteilung, benannt "drei stimmen", gibt es ein "Ich", das von seinen Eindrücken berichtet:

    Karbid

    ich bin wieder unterwegs in die steppe, ich bin
    an den rand der metallwand gedrängt, die geräte
    drücken den beutel ins kreuz, vor dem fenster die zweige
    huschen vorbei, und die kellervorräte
    gehen allmählich zur neige. minus zwanzig grad
    der andauernde schneefall hier hat die laune
    nicht gerade verbessert, wolldecken werden verteilt
    der schlafsack spannt sich, bis zum gesicht
    nur eine kleine öffnung über mund und nase
    die kohle, der karbidgeruch, ich atme langsam
    vor mich hin, wie ein stück wäsche, das die luft
    die durch die gänge zieht, verschluckt. die gedanken
    schon wieder voraus im gelände, bodensondierung
    das warten auf nachschub, immerzu hofft man
    dass es wieder vorwärts geht, und hundert kilometer
    weiter steht die grenze unter beschuß. verrußte
    stimmen, aus dem nebenwagen, knistern, nichts
    bleibt verborgen, nur die manschetten, druckverbände
    halten dicht, während im kopf, bei notbeleuchtung
    das tauwasser rieselt. froststellen auf den bänken
    die gelenke eingeknickt, sogar die beine seitlich festgefroren,
    die brust macht einfach nicht mehr mit
    (Zitat S. 26)

    Man hört es, die kursiv gesetzten Stellen sind Zitate. Nico Bleutge weist in seinen Anmerkungen am Schluss darauf hin, dass ihm Gedichte von der Barockzeit bis heute als Resonanzboden für seine eigenen Verse gedient haben. Das Ergebnis ist ein Band mit 45 außergewöhnlichen und bemerkenswerten Gedichten, die mal in der Langform prosaisch, meistens jedoch in Strophen und manchmal auch als Fünf- oder Sechsszeiler daherkommen. "fallstreifen" ist in seiner sinnlichen Präsenz und in seiner sprachlichen Genauigkeit ohne Frage einer der besten Lyrikbände dieses Jahres.

    Nico Bleutge: fallstreifen (Beck, 73 Seiten, Euro 12,90)