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Sinnloser Sprachtest

Es gebe keinen Test, der die Sprachfähigkeit eines Kindes derzeit objektiv messen könne, so das Fazit von Manfred Spitzer von der Uni Ulm. Nur mit wissenschaftlich fundierten Methoden könne der Spracherwerb von Kindern sinnvoll getestet und gefördert werden.

Manfred Spitzer im Gespräch mit Manfred Götzke |
    Manfred Götzke: Ist mein Kind schon fit für die Grundschule oder wird es am Anfang möglicherweise Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben haben? Seit 20 Jahren gibt es einen Test, der in sieben Minuten diese Frage beantworten soll. Millionen Kindergartenkinder haben den ihn ganz Deutschland machen müssen – nur er funktioniert nicht. Der Test ist völlig sinnlos. Das haben jetzt Hirnforscher vom Transferzentrum für Neurowissenschaften an der Uni Ulm herausgefunden. Manfred Spitzer leitet das Transferzentrum. Herr Spitzer, 20 Jahre gibt es den Test, 20 Jahre hat er offenbar nichts gebracht, Sie scheinen ja der Erste zu sein, der das mal untersucht.

    Manfred Spitzer: Das ist richtig. Wir haben einfach mal nachgeschaut, ob der Test sozusagen den üblichen Testkriterien, die man ja für, ich sag mal diagnostische Verfahren in der Medizin längst kennt und auch entwickelt hat, ob er diesen genügt. Und da muss man halt dann eben sagen, dass das eher nicht der Fall ist.

    Götzke: Das ist doch eigentlich ein kleiner Skandal. Dieser Test war ja bundesweit Standard für die Förderung von lernschwachen oder lese- und schreibschwachen Kindern.

    Spitzer: Jein. Ich weiß nicht, ob man von Skandal sprechen sollte, ganz einfach deswegen, weil der Test ja zur Selektion von Kindern benutzt wird, denen man Fördermaßnahmen angedeihen lassen wollte. Und das Schlimmste, was sozusagen passiert ist, ist, dass diejenigen, die Fördermaßnahmen nicht gebraucht haben, dass die vielleicht auch noch Fördermaßnahmen bekommen haben.

    Götzke: Die es vielleicht gar nicht gebraucht hätten. Vielleicht können Sie noch mal kurz erläutern, was Sie konkret herausgefunden haben.

    Spitzer: Die wissenschaftliche Zielsetzung, die man heute haben kann, ist, dass Lese-Rechtschreib-Schwäche eher nichts ist, was sich erst in der Schule entwickelt, sondern etwas, das aufgrund von Schwierigkeiten bei der Lautverarbeitung, die schon im Kindergartenalter auftreten, dann in der Schule sich eben als Lese-Rechtschreib-Störung manifestiert. Nun ist unsere Hoffnung, rein wissenschaftlich betrachtet, dass es möglich sein sollte, diese Probleme bei der Lautverarbeitung schon sehr früh zu diagnostizieren, dann auch schon sehr früh zu behandeln, sodass wenn die Kinder in die Schule kommen, sie dann gar nicht mehr Lese-Rechtschreib-Störungen entwickeln, weil das Problem behoben ist. Nun haben wir uns ganz einfach damit beschäftigt, was denn bislang passiert, und da gab es eben einen Test, der relativ einfach ging und von dem man hätte annehmen können, dass der vielleicht genau das leistet, dass er uns eben früh die Kinder identifiziert. Aber bevor wir den sozusagen einfach übernommen haben, sind wir halt wissenschaftlich rangegangen, wie man das in der Medizin tut, und haben uns angeschaut, wie gut ist denn der Test. Und da hat man eben feststellen müssen, dass er, was seine Unterscheidung zwischen denen, die Förderbedarf haben, und denen, die den nicht haben, dass diese Unterscheidungsfähigkeit nicht so gut ist, wie sie sein müsste, damit man so einen Test eben als prognostischen Test verwenden kann.

    Götzke: Sie haben ja gerade schon angedeutet, dass das Problem, das daraus erwachsen ist, nicht so groß ist, weil Kinder Fördermaßnahmen bekommen haben, die sie vielleicht gar nicht brauchten.

    Spitzer: Ja.

    Götzke: Aber ist dem Kind vielleicht doch nicht etwas Unrechtes geschehen, wenn es eine Fördernotwendigkeit attestiert bekommt, obwohl es die gar nicht braucht?

    Spitzer: Man wird nicht wirklich gebrandmarkt, es wird einfach nur gesagt, hör her, hier, du kannst noch ein bisschen was für deine Sprachentwicklung tun und damit auch für deine Lese-Rechtschreib-Entwicklung. Was ich tatsächlich sozusagen für nicht gut halte, ist, dass im Bildungsbereich ganz allgemein sehr viel gemacht wird, ohne dass man vorher diagnostiziert, und dass man deswegen auch gar nicht weiß, ob es was bringt. Wir haben ganz viele Kinder mit Migrationshintergrund und wissen nicht, wie gut die sprechen. Und es gibt deutschlandweit keinen Test, der uns sagt, wie gut kann dieses junge Kind, ich sag mal die Muttersprache aus dem Heimatland, wie gut kann es Deutsch im Vergleich zu den Leuten im Heimatland und im Vergleich zu den Deutschen. Einen solchen Test gibt es für keine Sprache, nicht für Türkisch, nicht für Russisch, für gar nichts. Es gibt aber ganz viel Förderprogramme, und Millionen werden für diese Förderprogramme ausgegeben. Wenn man aber nicht weiß, wie gut die vorher sind, weiß man auch nicht, wie gut sie hinterher sind, und …

    Götzke: Das heißt, es fehlt grundsätzlich eine wissenschaftliche Fundierung in der Bildung und der Bildungspolitik?

    Spitzer: Aus meiner Sicht fehlt in der Bildungspolitik vor allem und zum großen Teil auch in der Bildung in der Tat eine grundsätzliche wissenschaftliche Fundierung, wie wir sie in der Medizin seit Jahrzehnten haben. Niemand geht auf die Straße, wenn die Operationssäle plötzlich mit anderen Methoden arbeiten – wenn aber in den Schulsälen mit anderen Methoden gearbeitet werden soll, dann gehen die Leute mit Recht auf die Straße. Und warum ist das so? Weil niemand vorher nachgewiesen hat, dass die neuen Methoden besser sind, als die alten, sondern vielleicht nur die Landesregierung von Schwarz-Gelb auf Rot-Grün gewechselt ist. Und wie ein Kind lernt, das ist nicht eine Frage der Farbe der Landesregierung, das ist eine Frage, die gehört wissenschaftlich bearbeitet, und die Gehirnforschung hat dazu viel rausgekriegt. Und dass man das nicht umsetzt, das ist der eigentliche Skandal.

    Götzke: Auf der anderen Seite haben Sie gerade selbst gesagt, es ist nicht so einfach, Testverfahren zu entwickeln.

    Spitzer: Wenn man sozusagen den biologischen Hintergrund genauer weiß, dann kann man immer besser Testverfahren entwickeln. Zum Beispiel hat die Gehirnforschung wesentliche Beiträge geleistet, um herauszubekommen, was es denn ist im Gehirn, was uns dazu veranlagt, eher eine Lese-Rechtschreib-Störung zu entwickeln. Die letzten zehn Jahre sind voller interessanter und auch sehr wichtiger Arbeiten, aber das genau ist in der Schule noch nicht angekommen. Und da gibt es auch überhaupt keinen Weg, dass das passiert, es ist einfach nicht vorgesehen und wird sogar von vielen Pädagogen noch abgelehnt, weil sie Angst davor haben, dass die Hirnforschung jetzt wichtige Beiträge aus ihrem Fachgebiet leistet. Und noch mal: Das ist der eigentliche Skandal. In der Medizin ist so was undenkbar, in der Pädagogik, ich sag mal Alltag.

    Götzke: Der Hirnforscher Manfred Spitzer fordert mehr wissenschaftliche Fundierung in der Bildung und Bildungspolitik.