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Sinti
Die Freikirchen locken

Für Sinti spielten katholische Traditionen wie Marienfrömmigkeit und Wallfahrten lange eine große Rolle. Mittlerweile hat sich eine Mehrheit Freikirchen angeschlossen. Die Gottesdienste seien gefühlvoller und herzlicher, sagen die Gläubigen.

Von Michael Hollenbach | 07.11.2017
    Ein Evangelist predigt auf einer Veranstaltung des evangelisch-freikirchlichen Missionswerk der Mission Süd-Ost-Europa in Osnabrück am 27.07.2015 vor 500 gläubigen Sinti
    Viele deutsche Sinti finden heute in evangelisch-freikirchlichen Gemeinden ein geistliches Zuhause (imago stock&people / Detlef Heese)
    "Das ist mein Wohnwagen. Hier können Sie sehen. Das ist von einem Sinto abgekauft, habe ich umgebaut zu dem, was man so braucht."
    Nationaldirektor - so lautet sein offizieller Titel - Nationaldirektor Jan Opiela ist mit seinem Wohnwagen im südniedersächsischen Wallfahrtsort Germershausen angekommen. Der Priester ist von der Deutschen Bischofskonferenz eingesetzt als Seelsorger für die Roma und Sinti. Bis vor rund zehn Jahren wurden er katholischerseits noch als sogenannter "Zigeunerseelsorger" bezeichnet. 2008 wurde der Name geändert. Jan Opiela betreut an diesem Wochenende in Germershausen rund 70 Sinti. Er hat auf seinen Fahrten immer viele Rosenkränze dabei, um sie an die Roma und Sinti zu verteilen.
    "Maria ist der Dreh- und Angelpunkt bei allen Rom-Gruppen, für alle ist Maria das verbindende Element, die Gottheit, die alle Rom-Gruppen verbindet."
    In seinem Wohnwagen hängt ein Kruzifix. Eine Madonna sucht man hingegen vergeblich.
    Opiela erzählt: "Hier bei mir gibt es so einen Herrgottswinkel um die Ecke. Maria ist da nicht vertreten, weil die bei einem Bremsmanöver hat die den Abgang gemacht und hat sich in tausend Teile zerlegt. Und deshalb habe ich jetzt einen etwas massiveren aus Polen, einen Jesus, wenn der fällt, geht der nicht kaputt."
    Die Muttergottes kommt in die Ecke
    Die Sinti hier auf der Wallfahrt seien zwar alle katholisch, aber:
    "Ich erlebe sie als eine sehr familienzugewandte, ins persönliche gehende Frömmigkeit. Kirche, Organisation, haben die Sinti und Roma nicht nötig - und von daher sind wir irgendwie notwendig, aber nicht überlebensnotwendig. Das macht die Familie schon selber."
    Wie Jan Opiela arbeitet auch Bernd Dahmen schon lange in der kirchlichen Begleitung der Sinti und Roma. Eine schwierige Arbeit, meint der Diakon
    "Sie müssen erst mal Kontakt zu den Leuten bekommen und das ist furchtbar schwierig, bis Sie da mal akzeptiert werden. Bis Sie da mal eine Tasse Kaffee bekommen. Das dauert sehr lange."
    Einer der Initiatoren der Wallfahrt nach Germershausen ist der Kölner Ingo Reinhardt. Seine Großfamilie sei eigentlich katholisch geprägt, sagt der 54-Jährige. Doch zugleich ist er enttäuscht von seiner Kirche:
    "Durch die Jahre hat sich das herauskristallisiert, dass die Katholische Kirche viel weniger gemacht hat, um für uns und mit uns was zu bewegen, uns zu halten. Darum sind viele Freichristen entstanden, die ihr eigenes Christentum hegen."
    Die katholische Kirche hat ihre beauftragten Seelsorger - doch die seien selbst keine Roma oder Sinti. Auch Franz-Josef Schümmer kennt diese Distanz. Der Pastoralreferent kümmert sich im Bistum Aachen um die Seelsorge für Roma und Sinti.
    Franz-Josef Schümmer sagt: "Wir sind ja auch eine bürgerliche und deutsche Kirche, ja, eine von Nicht-Roma-Mentalität geprägte Kirche."
    Mittlerweile ist in Deutschland nur noch eine Minderheit der Sinti in der katholischen Kirche; die meisten haben sich evangelischen Freikirchen angeschlossen."
    Schümmer: "Wir nennen die manchmal 'Hallelujas', weil die sehr charismatisch den Heiland feiern und das kommt ihrer Mentalität näher. Aber leider schieben die dann die Mutter Gottes ein bisschen weg in die Ecke."
    "Herzlichkeit, das ist unser Wesen"
    Die "Hallelujas", wie der Katholik Franz-Josef Schümmer die evangelikalen Christen nennt - treffen sich zum Beispiel in Hamburg. Der Sinto Christian Rosenberg ist der Leiter der Sinti-Gemeinde "Licht und Leben". Ein Gottesdienst in seiner Gemeinde unterscheide sich sehr von einer katholischen Messe.
    "Vom Menschlichen her sind wir emotionale Menschen, und ich denke, dass wir versuchen, authentisch zu sein. Wir sind nicht an steife Abläufe gewöhnt. Wir sind spontan. Wir versuchen, Wärme reinzubekommen, Herzlichkeit, das ist unser Wesen."
    In der "Licht und Leben"-Gemeinde leiten Sinti den Gottesdienst und nicht Seelsorger, die von einer Kirchenführung beauftragt wurden. Die Sinti-Gemeinde im Hamburger Westen gibt es seit 12 Jahren. Die ersten Versuche freikirchlicher Missionare, Sinti und Roma für ihren Glauben zu gewinnen, reichen aber zurück in die 1950er-Jahre:
    "Am Anfang war da sehr viel Gegenwind. Man muss dazu wissen, dass es damals Rassenforscher gab, die sind vor dem Holocaust gekommen, mit einer Bibel unter dem Arm, haben unseren Sinti was von Jesus erzählt und letztlich haben sie dafür gesorgt, dass diese Untersuchungen durchgeführt wurden, so dass 1940 der Abtransport stattgefunden hat. Da kann man sich vorstellen, was für ein Misstrauen da war."
    Die große Hamburger Flut als "Erweckungserlebnis"
    Das Misstrauen hielt bis 1962. Dann kam die Sturmflut. Robert Milchau von der Sintigemeinde in Hamburg-Wilhelmsburg erzählt:
    "'62, in der Flut, da haben wir erkannt, wie schnell ein Leben zu Ende sein kann, und standen wir vor Gott."
    Robert Milchau erinnert sich, wie im Februar 1962 die Hamburger gegen die Wassermassen ankämpften: Eine Sintflut sei das gewesen, meint der 69-Jährige. 40 Sinti-Familien standen damals mit ihren Wohnwagen unmittelbar an der Waterkant.
    "Wir standen direkt auf dem Deich der Elbe und da wohnten wir in kleinen Wohnwagen."
    Häuser in Hamburg stehen bei der Sturmflut 1962 unter Wasser
    Hamburg war von der Flutkatastrophe 1962 besonders schwer betroffen - für die Sinti der Stadt war die Flut ein "Erweckungsereignis" (imago)
    Als das Wasser immer näher kam, wurden die Sinti-Familien von der Polizei evakuiert. Sie kamen in eine Wilhelmsburger Schule, mussten ihre Wohnwagen zurücklassen. Drei Tage harrten sie in der Notunterkunft aus. Dann wurden sie mit Booten ans sichere Ufer gebracht.
    "Dann sind wir genau an unserem Platz vorbeigekommen: Da habe ich gesehen, dass unsere Wohnwagen ohne eine Sicherung … die standen da, als ob jemand die Hand drüber gehalten hätte; alles in Ordnung. Das Wasser war ungefähr zehn Meter vor und hinter, genau wo die 40 Wohnwagen standen, stoppte es. Da haben wir doch gedacht, wie Gott das mit uns meint und dass wir uns damit beschäftigen."
    Robert Milchau spricht von einem "Erweckungserlebnis". Damals seien die religiösen Dämme gebrochen: Die 40 Sinti-Familien wurden evangelikale Christen:
    "Wir haben uns dann nach der Bibel gerichtet, und aus dem heraus ist geworden, dass wir unser ganzes Volk in Deutschland missioniert haben."
    "Nur für Sünder. Das ist unser Profil"
    Tatsächlich ist es ihnen in den vergangenen Jahrzehnten gelungen, viele Sinti und Roma vom freikirchlichen Jesusglauben zu überzeugen. Ausgangspunkt der ungewöhnlichen Bekehrungsbewegung ist die "Hütte Geborgenheit" in Hamburg-Georgswerder. Der Name ist Programm, denn das Gemeindehaus vermittelt den Sinti jene Geborgenheit, die sie außerhalb ihrer Siedlung oft vermissen.
    Dicht gedrängt sitzen hier jeden Sonntagabend rund 200 Sinti im Gemeindehaus. Früher waren hier die Kneipe und die Umkleidekabinen eines Sportvereins. Der Mädchenchor mit den schillernd-blauen langen Kleidern sorgt für einen beschwingt-bunten Gottesdienst. Die Sinti-Gemeinde ist jedenfalls begeistert und diskutiert in ihrer Sprache, auf Romanes, nachher über die Feier.
    Fast alle Gemeindemitglieder der "Hütte Geborgenheit" kommen aus der unmittelbaren Nachbarschaft. Hier entstand 1982 die Siedlung am Georgswerder Ring. Damals zogen viele aus ihren Wohnwagen in die 44 rot-braun geklinkerten Einfamilienhäuser. Die 400 Sintis der Siedlung suchen in ihrer Gemeindehütte geistliche Geborgenheit und kulturelle Heimat. Angelo Weiß, ein kräftiger Mann im schwarzen Anzug und mit streng zurückgekämmtem Haar, ist hier der Prediger, der Evangelist. Er schwärmt von seiner Gemeinde:
    "Wenn Sie reinschauen, beim Eingang, da steht drauf: nur für Sünder. Das ist unser Profil. Wir ärgern uns nicht so sehr, dass wir Fehler haben. Schwierig wird es, wenn wir die verstecken, dann trainiert man sich so ein geheucheltes Christsein an, als ob alles in Ordnung wäre. Ich finde das ziemlich abstoßend."