Donnerstag, 18. April 2024

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Sittenbild einer amerikanischen Kleinstadt

Ein episches Familiendrama in stellenweise comicstripartiger Verkleidung legt Joey Goebel vor. Im "Heartland" - also im Herzen Amerikas - legt er die Geschichte einer auf tragische Weise zusammengehörigen und doch entzweiten Familie an. Und entwirft damit einen ernsten Einblick in zwischenmenschliche Unumkehrbarkeiten, der letztlich bar jeder Komik sein muss.

Rezensiert von Florian Felix Weyh | 26.04.2009
    Wenn man sich in Bashford auf den Boden kniete und sein Ohr gegen die Erde drückte, die mit jedem Jahr immer weniger fruchtbar zu sein schien, (...) hätte man vielleicht eine schleppende Stimme das Mantra der Ermatteten stöhnen hören können: "Tut mir leid Schatz dass ich in letzter Zeit so schlecht gelaunt war aber sie haben mich auf der Arbeit dermaßen in die Mangel genommen aber wenn ich diesen nächsten Job erledigt habe wird es besser weil ich dann mehr Zeit habe und wenn ich mehr Zeit habe achte ich mehr auf meine Fitness und dann werde ich gesund und fühle mich besser und bin glücklicher (...) schreib mich bloß nicht ab denn Gott weiß ich bemühe mich ich bin nur so müde o Gott was bin ich erledigt."

    Bashford, USA. Ein Ort, den man vergeblich auf der Landkarte sucht, aber mühelos in jeder zweiten amerikanischen Fernsehserie entdecken könnte: 50.000 Einwohner, drei McDonalds und ein unterklassiges staatliches College. Kein Flughafen, keine Universität, kein Museum, dafür aber 94 Kirchen diverser Konfessionen. Die gesellschaftliche Schichtung spiegelt sich in der städtischen Topographie wider: Es gibt ein Reichenviertel mit Villen im Kolonialstil, die üblichen Einfamilienhaus-Suburbs des Mittelstands und einen Trailerpark für die Unterprivilegierten in verrotteten Wohnwagen. Deren Mantra von der großen Erschöpfung – resultierend aus der Arbeit in den Fabriken von Henry Mapother, dem örtlichen Herrscher über ein Tabakimperium –, drängt zwar nicht lautstark nach außen, doch es grundiert die allgemeine Stimmung. Für kulturelle Leistungen, selbst der einfachsten Art, ist keine Kraft mehr übrig. Abwechslung findet man in Monstertruck-Shows und bei Wrestling-Wettkämpfen der untersten Kategorie. Dementsprechend liegt der gesellschaftliche Mittelpunkt an einem Ort, wo man ihn als Europäer kaum vermuten würde:

    Wenn in einer amerikanischen Kleinstadt ein Mensch einem beliebigen anderen Menschen begegnen wollte, müsste er nur in den Walmart gehen. Egal wen man sucht, der andere taucht unweigerlich dort auf. Daher war es kein Wunder, dass Blue Gene an diesem langen Wochenende, als er täglich von neun bis siebzehn Uhr draußen vor dem Walmart stand, die meisten der Menschen sah, mit denen er aufgewachsen war.

    "Blue Gene" ist ein seltsamer Name und gemahnt an ein weit verbreitetes Kleidungsstück – Blue Jeans –, das allerdings genau dort nicht getragen wird, wo Blue Gene eigentlich zuhause ist. Tatsächlich heißt der Held von Joey Goebels neuem Roman Eugene Dewitt Mapother, gehört mithin zur Großindustriellen-Dynastie, die Bashford beherrscht. Da allerdings die Zeiten des frühkapitalistischen Tabakfeudalismus auch in dieser Kleinstadt vorbei sind, braucht der Mapother-Clan das Volk nicht nur für die Werkbänke, sondern auch, um den Stammhalter der Familie in den Kongress wählen zu lassen. Für ihn, seinen Bruder John, macht Blue Gene vor dem Walmart Wahlkampf, allerdings erst nach heftigem Widerstand. Vier Jahre lang hatte er das großzügige Familienanwesen gemieden, in einem schrottreifen Wohnmobil gehaust, sich tätowieren lassen und seinen Lebensunterhalt zuerst als Walmart-Verkäufer, dann als Flohmarkthändler verdient – er, dessen Vater ein großväterliches Erbe von 400 Millionen Dollar für ihn treuhänderisch verwaltet! Blue Genes Äußeres ist mit dem Begriff "schlampig" noch höflich umschrieben, und sein Umgang lässt die "besseren Kreise" vor Scheck erstarren: Es handelt sich um den undefinierbaren Bodensatz der Gesellschaft, der zwischen gerade noch willigen Arbeitern und schon entglittenen Dropouts oszilliert. Aber genau das macht den entlaufenen Sohn für die Familie wieder interessant. In einer Demokratie hat nämlich auch der Bodensatz Stimmrecht:

    "Wir bitten dich nur in diesem speziellen Fall um Hilfe, weil es sich um eine Regionalwahl handelt. Der fünfte Wahlbezirk besteht aus einundzwanzig Countys, und Commonwealth County ist das mit Abstand größte. Daher haben sehr viele Wähler etwas mit unserer Firma zu tun, und auch wenn wir ihren Lohn bezahlen, könnten sie eventuell ihren Frust am Arbeitsplatz dadurch abreagieren, dass sie gegen den Firmenchef stimmen."
    "Ich hab's schon verstanden."
    "Anders als bei Wahlen in einem Bundesstaat und anders als bei landesweiten Wahlen, denen sich John in Zukunft wird stellen müssen, ist dies die einzige Wahl, bei der das regionale Ansehen eine Rolle spielt. Somit könntest du zahlreiche Stimmen für John gewinnen, indem du deinen Brüdern aus der Arbeiterschaft demonstrierst, dass du ihn unterstützt."


    Joey Goebel ist noch keine 30 Jahre alt, hat schon zwei beachtliche Romane vorgelegt und setzt mit "Heartland" zum großen Sprung an: Mehr als 700 Seiten umfasst das Sittenbild einer amerikanischen Kleinstadt, das von der eben skizzierten Konstellation ausgehend zwei Entwicklungen nehmen kann, hin zu einem großen, grellen Comicstrip mit überzeichneten Figuren ... oder hin zum klassischen Gesellschaftsroman mit psychologischem Tiefgang. Würde man die Ingredienzien nur summarisch aufzählen, käme man rasch zum Schluss, dass es sich um einen Comicstrip handeln muss. Allein die Begründung, warum John die Laufbahn als Kongressabgeordneter anstrebt, gehört ins Arsenal der politischen Satire. Seine Mutter nämlich, eine evangelikale Sektiererin, hatte diesbezüglich einen Traum. Der älteste Sohn soll als Präsident der USA die neuerliche Ankunft des Messias vorbereiten. So nimmt sich der Überzeugungsversuch im Hause Mapother, mit dem Vater Henry den entlaufenen Blue Gene zurückholen will, wie eine höhnische Persiflage auf religiöse Beschwörungen in der Politik aus:

    "Eugene, ich verstehe deine Skepsis, aber sieh es einmal so", sagte Henry. "Glaubst du an die Bibel?"
    "Na klar."
    "Die Bibel steckt voller Prophezeiungen. Glaubst du, dass die Prophezeiungen aus der Bibel eingetroffen sind?"
    "Ich nehm's an."
    "Nein. Das ist keine Frage des 'Annehmens'. Du hast gesagt, du glaubst der Bibel. Folglich musst du auch glauben, dass die Schilderungen darin wahr sind. Also, die Prophezeiungen sind eingetroffen, oder?"
    "Ja."
    "Und wenn wir der Bibel wirklich glauben, müssen wir zugeben, dass eine echte Prophezeiung auch heutzutage eintreffen kann. Wenn du an die Bibel glaubst, musst du auch an Prophezeiungen glauben."
    "Von mir aus. Aber wenn es eine Prophezeiung ist, dann trifft sie ein, egal ob ich euch helfe oder nicht, stimmt's?"
    "Es ist unsere moralische Pflicht, unsere Bestimmungen zu erfüllen", sagte Elizabeth. "Wir brauchen dich auf dieser Wahlkundgebung."


    Doch dieser Roman ist mehr als ein Comicstrip. Mit Joey Goebel stoßen wir auf einen eminent jungen Autor mit einer verblüffenden Welt- und Menschenkenntnis, der nichts weniger will als den Kosmos der amerikanischen Provinz vermessen, so wie das vor ihm die drei großen Johns – Cheever, Updike und Irving – taten. Goebels literarische Mittel sind natürlich andere. Seine Inspirationen holt er sich von der Punkmusik, und die Handlungsorte wirken so versiert entworfen, als habe der Autor Filmarchitektur studiert. Hochliterarisch an seinem Roman ist allerdings der Umgang mit den Figuren, eben keine satirischen Abziehbilder, die den Lesern ideologisch bevormunden. Nein, Goebel leistet sich für europäische Leser nachgerade provozierend uneinheitliche Figuren; provozierend, weil sie in einem ganz bestimmten Punkt das Klischee brechen. Der Millionärshippie Blue Gene entspricht nämlich keineswegs dem klassischen Bild des Libertins, der aussteigt, um jenseits der Provinz in einer Metropole selbstverwirklicht glücklich zu werden. Er verlässt zwar die Familie, nicht aber Bashford, das vom Autor als völlig reizlos beschrieben, von seinem Held jedoch als Heimat innig geliebt wird. Dort integriert er sich in die andere Schicht so sehr – seine Lieblingssendungen im Fernsehen sind Wrestling-Shows –, dass er mühelos deren Wertvorstellungen übernimmt. So beruht der eminente Erfolg Blue Genes als Wahlkampfhelfer seines Bruders auf der Verschmelzung mit dem Wahlvolk, und das hegt in der Provinz keine besondere Vorliebe für Linksabweichler, sondern ist stramm konservativ. Die beiden Brüder passen besser zusammen, als sie selbst glauben.

    Blue Gene kannte etliche Anwesende von weniger nobler Abstammung, und jedes Mal stellte er den Gentleman neben sich als seinen Bruder vor. John lernte an diesem Abend einige Personen kennen, die man üblicherweise "echte Typen" nennt: Tony und Ricky, die gern juristische Fachbegriffe wie Vorsatz und Eigenbedarf in ein Gespräch einfließen ließen; einen jovialen alten Mann mit dem vielleicht bekanntesten Gesicht der Stadt, da er als Begrüßer bei Walmart arbeitete, (...) sowie ein junges Ehepaar, das mit seinen sieben Hunden regelmäßig Pflegeheime besuchte, um die Patienten aufzumuntern. Zuerst ergriff meist Blue Gene das Wort, sagte den Leuten, sein Bruder sei ein guter Kerl und dass sie ihn wählen sollten, weil er für dieselben Dinge sei wie sie: Gott, Amerika, Familie und Freiheit. Das war ziemlich einfach, immer und immer wieder dasselbe zu sagen und mit Anwesenden zu plaudern, die er persönlich kannte. Nach einer Weile wurde John lockerer, und irgendwann bat er die Leute sogar, für ihn zu beten, nachdem er sie aufgefordert hatte, ihn doch dafür in Betracht zu ziehen, künftig die Interessen des Bezirks zu vertreten.

    Blue Gene ist ein Patriot, ein Verteidiger der freien Bewaffnung und ein unbedingter Befürworter des Irakkriegs – wie 95 Prozent der Einwohner Bashfords. Nur weil man ihm das glaubt und ihn das nicht völlig unsympathisch macht, funktioniert der Roman als Sittenbild der vergangenen Bush-Ära. Auch andere Hauptfiguren sind eher gebrochene Existenzen: John etwa ist ein selbstzerstörerischer Zweifler, der unter der Last der mütterlichen Prophezeiung zum Alkoholiker wurde und nur mit großer Mühe den Weg zurück ins bürgerliche Leben fand. Und selbst die Eltern Mapother entdämonisieren sich im Verlauf des Romans, während peu à peu immer mehr schlechte Charakterzüge von Blue Gene ans Licht kommen. Keineswegs war er seit jeher ein dünkelfreier Kumpel von nebenan. Seine ganze Jugend bestand im Gegenteil aus blasiertem Hochmut gegenüber Ärmeren. Vor allem dann, wenn die Ärmeren ihm etwas Nichtmaterielles voraus hatten, etwa ein sportliches Talent.

    Alles hatte wegen eines Tommy-Hilfiger-Pullovers begonnen. Darius kam eines Tages in einem Tommy-Hilfiger-Pullover zum Matheunterricht, den Blue Gene – wegen eines unverwechselbaren Steaksaucenflecks am unteren Rand – umgehend als einen seiner alten Pullis identifizierte. Da der Fleck nicht mehr rausging, hatte Elizabeth ihn der Kirche Saint Vincent de Paul gespendet. Den Rest des Tages erzählte Blue Gene überall herum, der Spitzensportler der County High trage einen seiner dreckigen, abgelegten Pullover. (

    In der Folge des eskalierenden Konflikts zwischen einem Ober- und einem Unterschichtskind kommt es zu einem schweren Unfall, der Blue Gene gezeichnet hinterlässt. Nach einem monatelangen Klinikaufenthalt hinkt er durchs Leben, und diese körperliche Beschädigung könnte den auffallenden Mentalitätsbruch zwischen Blue Gene und seiner Familie eingeleitet haben. Jedenfalls beginnt die in der Rückschau eingeblendete Abkehr vom Herkunftsmilieu mit diesem Fanal. Es ist aber keine endgültige Abkehr, denn vier Jahre lang imitiert Blue Gene nur die Lebensformen der Armen – eine nicht unübliche Protestform reicher Jünglinge –, er verwendet seinen Wohlstand keineswegs dazu, ihre Lebensumstände zu verbessern. Ja, an dem Punkt, an dem wir Leser den jungen Mann kennenlernen, scheint er geneigt, einen halben Schritt zurück ins alte, reiche Leben zu tun; während des brüderlichen Wahlkampfs zieht er sogar in ein Nebengebäude der elterlichen Villa ein. Scheinbar sind die Würfel gefallen, der in epischer Breite dahin fließende Roman setzt aufs Gesellschaftspanorama und verzichtet auf Thrill. Doch Autor Goebel ist trotz seiner Jugend versiert genug, das Ruder noch einmal in die entgegengesetzte Richtung herumzureißen. Blue Gene erweist sich als unsicherer Kantonist für die Familie Mapother, es genügt die Begegnung mit zwei Frauen um aus seiner Koketterie mit der Armut ein sozialrevolutionäres Programm zu machen.

    Nach Jackies Ansicht ging es mit allem in der Welt, angefangen bei der aktuellen Popmusik bis hin zum ganzen Planeten, immer rapider bergab. (...) Als junge Erwachsene hatte sie etliche Erlebnisse gehabt, die ihr immer wieder dieselbe Lehre erteilten: Je älter du wirst, desto fester schlägt das Leben seine Fleischerhaken in dich und zerrt dich in hundert verschiedene Richtungen, und wenn du nicht als schlafloses, verängstigtes Häufchen Elend enden willst, brauchst du Geld, massenhaft Geld. Geld, sagte sie, sei so etwas wie eine Urgewalt, die den Einzelnen nicht nur zusammenhält, sondern ihn auch mit allen anderen Menschen verbindet, während es permanent von einem Portemonnaie zum anderen, von einem Bankkonto zum nächsten fließt.

    Jackie Stepchild – zu deutsch: Stiefkind – ist eine junge Aushilfslehrerin und Punkmusikerin, die im Kapitalismus allgemein und den Mapothers speziell den Grund fürs eigene Unglück sieht. Kratzbürstig und rhetorisch begabt, fasziniert sie Blue Gene, da sie – für eine Frau höchst ungewöhnlich – auch noch seine Vorliebe fürs Wrestling teilt. Er verliebt sich in sie, und weil diese Liebe nur platonisch erwidert wird, kommt sie ihn teuer zu stehen. Um in Jackies Augen ein besserer Mensch zu sein, wandelt sich Blue Gene zum Wohltäter der Elenden und Beladenen. Er kauft das leerstehende alte Walmart-Gebäude in der Stadtmitte Bashfords (der neue ist längst dreimal so groß auf der grünen Wiese entstanden) und richtet dort ein Kultur-, Freizeit- und Gesundheitszentrum ein. Alles gratis, inklusive täglicher Verköstigung. Wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hat allerdings auch Bernice, Blue Genes ehemalige Kinderfrau. Aus unerklärlichen Gründen einst aus dem Leben des Jungen entschwunden, verändert die zufällige Wiederbegegnung mit ihr Blue Genes Leben komplett. Alt und krank geworden, braucht sie Geld, und als Blue Gene seinen Vater darum bittet, zeigt sich, wie wenig belastbar die neu geknüpften Familienbande sind. Henry Mapother explodiert, und Blue Gene erfährt durch ein zufällig mitgehörtes Telefonat die ganze Wahrheit: Er ist der Sohn seines Bruders John, der im zarten Alter von zwölf mit Bernice' Tochter ein Kind zeugte. Die Tochter starb bei der Geburt, und Blue Gene wuchs als Adoptivsohn seiner Eltern, die in Wahrheit seine Großeltern sind, in einem Milieu auf, dem er nur halb entstammt – seine Andersartigkeit hat auch genetische Wurzeln. Das ist jetzt wieder der gigantische Comicstrip, auf dessen durchschimmernden Bildern Joey Goebel in "Heartland" sein episches Panorama errichtet. Der getragene Ton des klassischen Familienromans bleibt darin dennoch erhalten, etwa in Henry Mapothers Rechtfertigungsrede:

    "Hör mir doch zu. Ich bin neunundsechzig, und wenn du so lange gelebt hast wie ich, hältst du Rückschau auf die Ereignisse, die dein Leben geprägt haben, und dann sieht jedes einzelne Ereignis ganz klein aus. Es sieht ganz klein aus, weil dein Leben so groß geworden ist. Andererseits sind da die Kinder. Kinder haben keine großen Leben. Im Gegenteil, für sie ist das Leben etwas Kleines, Zerbrechliches, und deshalb erscheint ihnen alles, was ihnen widerfährt, gewaltig und traumatisch. Deshalb haben wir so lange damit gewartet, es dir zu sagen, damit diese Ereignisse deines Lebens die angemessenen Proportionen erhalten."

    Natürlich kann sich Blue Gene dieser Sicht der Dinge nicht anschließen, hat er doch im Gegenteil eine veritable Waffe erhalten, seine Interessen durchzusetzen. Mitten in Johns Wahlkampf die Wahrheit zu lancieren, machte dessen politische Ambitionen zunichte, und so kann Blue Gene seinen Großvater-Vater erpressen, ihm das bis dato verweigerte Erbe auszuzahlen, das sich dann in der erwähnten Walmart-Episode atemberaubend schnell verringert. Doch während Blue Gene, Jackie und Bernice die Verwandlung eines kapitalistischen Einkaufstempels in eine philantropische Oase vorantreiben, bleiben ihre Gegner nicht untätig. Es gelingt Henry Mapother, das neue Phalanstère von den Behörden schließen zu lassen – so hießen im 19. Jahrhundert berühmte frühsozialistische Versuche –, woraufhin Jackie Stepchild als unabhängige Kandidatin für die Kongresswahl antritt. Im Duell mit John trifft sie immer den richtigen Ton, setzt auf radikale Kritik in bashfordverträglicher Verpackung:

    "Manche Menschen behandeln Geld wie einen Gott. Ich glaube nicht, dass Geld ein Gott ist, sondern eher eine Art Schutzengel. Geld stellt uns einen Schutzengel, der uns immer über die Schulter schaut, uns unauffällig beschützt, uns unmerklich fortschiebt von dem Weg, der zu Leid und Tod führt. Wenn man beispielsweise ernsthaft erkrankt, sorgt der Beschützer dafür, dass man die bestmögliche medizinische Versorgung bekommt. Wenn ein Hurrikan direkt auf dein Haus zuhält, wird der Schutzengel dafür sorgen, dass du dich rechtzeitig in Sicherheit bringen und anderswo ein neues Leben aufbauen kannst."

    Zum Schluss bleibt alles beim Alten. John Mapother gewinnt den Sitz im Kongress, aber wenigstens erhält Jackie Stepchild einen attraktiven Job in San Francisco. Zurück bleibt Blue Gene ohne Liebe, das eigentliche Stiefkind der Geschichte. Doch das schmerzt schon nicht mehr richtig, weil größeres Leid über die Mapothers gekommen ist. Johns kleiner Sohn Arthur liegt nach einem Unfall im Koma. In der Apotheose am Krankenbett setzt endlich die familiäre Katharsis ein: Was wichtig und was unwichtig ist, wird neu bestimmt. Nach 700 Seiten legt der Leser diesen Roman eines wirklich sehr jungen Autors beiseite und atmet tief durch: Das hat Format, ist von vorn bis hinten von tiefem Ernst geprägt, auch wenn es stellenweise gewollt komische Züge trägt und der Ausflug ins Utopische mit Abstand den schwächsten Teil des Buches ausmacht. Joey Goebel jongliert souverän mit Handlungssträngen, und wenn sie zuweilen auch noch so dahergeholt wirken – seine Figuren retten alles wieder! In ihren Charakteren findet sich nichts Beliebiges, nichts Effekthascherisches, sondern nur genaue Beobachtung bar jeder Beschönigung. Vielleicht hat es dem Autor geholfen, dass seine Eltern wie seine Schwester Sozialarbeiter sind – und dass er in der tiefsten amerikanischen Provinz aufwuchs. Wenn Joey Goebel bei der Sache bleibt, wird aus ihm ein ganz Großer der amerikanischen Belletristik. Er ist schon nahe dran.

    Joey Goebel "Heartland". Aus dem Amerikanischen von Hans M. Herzog. Diogenes Verlag. 714 Seiten, 22,90 Euro