Sonntag, 28. April 2024

Archiv


Sitzenbleiben lohnt sich nicht

Sitzenbleiber sollen durch die Wiederholung des Schuljahres den Lernstoff besser aufnehmen. Doch Studien zeigen: Für die Motivation des betroffenen Schülers bringt die Ehrenrunde nichts und ist, auf die Bundesrepublik gerechnet, noch dazu ausgesprochen teuer.

Von Anja Braun | 18.07.2011
    Das Beste gleich vorweg: Die Sitzenbleiberquote sinkt bundesweit. So die jüngsten Zahlen. Gut so, denn die Ehrenrunde erhält unter Bildungsforschern keine guten Noten. Anja Braun über das Pro und Contra zum Sitzenbleiben:

    "Sitzenbleiben ist für Eltern meistens eine Katastrophe, für Kinder nicht immer. Aber an dem Tag selber, wo sie es erfahren, ist es doch zumindest ein harter Schlag."

    Beate Friese, Psychologin bei der bundesweiten Telefonberatung "Nummer gegen Kummer". Rund eine Viertelmillion Schülerinnen und Schüler werden regelmäßig zum Schuljahresende nicht versetzt. Das heißt, sie haben einen oder mehrere Fünfer im Zeugnis, die nicht durch bessere Noten ausgeglichen werden können. Sie bleiben kleben- und müssen die Klasse wiederholen:

    "Ja, ich war bodenlos faul und dann hat es mich halt erwischt."

    Doch Sitzenbleiben als pädagogische Maßnahme ist sehr umstritten. Nun hat die OECD die jüngste Pisa-Studie in Bezug aufs Sitzenbleiben ausgewertet. Ihr Fazit lautet: Sitzenbleiben bringt nicht den gewünschten Erfolg. Bildungsexpertin Anette Stein erklärt:

    "Es zeigt sich, dass in dem ersten Jahr der Wiederholung durchaus eine Verbesserung stattfindet. Die ist aber nicht nachhaltig, das heißt, im Jahr danach, wenn wieder neuer Stoff dazu kommt, sieht es wieder anders aus. Und deshalb haben verschiedene Studien gezeigt: dass weder die Schülerinnen und Schüler besser werden noch die, die weitergehen und dann sozusagen ohne die schwächeren Schüler weiterlernen, die profitieren auch nicht davon."

    Stein hat für die Bertelsmann-Stiftung das Phänomen des Sitzenbleibens unter die Lupe genommen. Das pädagogische Instrument ist ungefähr 200 Jahre alt. Lehrer nutzten es in der Regel mit dem Ziel, eine homogene Schülerstruktur zu erhalten. Frei nach der Erkenntnis: Wer schlecht ist, hält den Rest der Klasse auf und dreht besser eine Ehrenrunde- wie übrigens auch Hermann Hesse und Thomas Mann, Fernsehpfarrer Fliege und die frühere Bundesbildungsministerin Bulmahn. Sitzenbleiben ist staatlich verordnete Nachhilfe, so lautet die gegensätzliche Position des Deutschen Lehrerverbandes. Dessen Präsident Josef Krauss betont:

    "Die Möglichkeit ein Jahr zusätzlich zu machen, ein Jahr zu wiederholen ist für mich eine Methode der Individualisierung."

    Dem widerspricht die jüngste Pisa-Detailauswertung. Sitzenbleiben wirke sich zudem negativ auf die Motivation des Einzelnen aus. So erklärt der Vorsitzende des Bundeselternrates, Hans-Peter Vogeler:

    "Sitzenbleiben als individuelle Förderung eines Schülers zu betrachten, ist in meinen Augen eine absurde Sichtweise. Individualisiert fördert man einen Schüler, indem man ihn in seinem Lernen unterstützt. Einem Schüler, den man die Klasse wiederholen lässt, den man sitzenbleiben lässt, signalisiert man: Du hast versagt."

    In Deutschland hat fast jedes vierte 15-jährige Kind bereits eine Klasse wiederholt, das heißt, 23 Prozent aller Kinder haben die frustrierende Erfahrung gemacht, zurückgestuft zu werden. Lehrerverbandspräsident Josef Krauss hat früher selbst als Schulpsychologe gearbeitet und weiß aus dieser Zeit:

    "Das Gros der Schüler geht Gott sei Dank relativ gelassen damit um."

    Doch frustrierend ist das Sitzenbleiben allemal. Und außer einer Disziplinarmaßnahme bietet es keine zusätzlichen Chancen und keinen Leistungsgewinn. Was die jüngste Pisa-Auswertung nun noch mal deutlich macht, war bereits das Fazit vieler Bildungsstudien. Den deutschen Steuerzahler kosten die Ehrenrunden pro Jahr übrigens knapp eine Milliarde Euro zusätzlich. Dieses Geld könnte sinnvoller verwendet werden, findet Anette Stein, die im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung eine Studie über Sitzenbleiben erstellt hat:

    "Das Sitzenbleiben ist insofern teuer, als dass es eine Maßnahme ist, die keine Wirkung hat. Zumindest keine positive und keine langfristige oder nachhaltige Wirkung."

    Deshalb sollte der Denkzettel für vermeintlich faule Schüler abgeschafft werden. So langsam kommen diese Ergebnisse auch in der Schulbürokratie an. Die Bundesländer gehen damit jedoch ganz unterschiedlich um:

    "Die Bundesländer,in denen sozusagen die meisten Wiederholungen stattfinden, das ist Bayern an der Spitze, das Bundesland, wo die niedrigste Wiederholerquote ist, ist Baden-Württemberg."

    Berlin ist als erstes Bundesland ausgestiegen und hat seit diesem Schuljahr gesetzlich geregelt, dass zumindest an den neuen Sekundarschulen kein Schüler und keine Schülerin mehr wiederholen. Hamburg zieht nun nach. An den dortigen Schulen sollen künftig die Ehrenrunden ganz wegfallen. In der Debatte gegen dass Sitzenbleiben werden die Pisa-Siegerstaaten- allen voran Finnland und Schweden – gerne als Vorbilder herangezogen. In den nordischen Staaten kennt man das "Sitzenbleiben" gar nicht. Statt auf Ehrenrunden wird auf die individuelle Förderung der einzelnen Schülerinnen und Schüler gesetzt.