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Skandal des Hinschauens

Natascha Kampusch hat im Fernsehinterview über ihre achtjährige Gefangenschaft gesprochen. Details der Entführung durch Wolfgang Priklopil hat sie beschrieben, ihre Gefühle und Überlebensstrategien. Eine kluge, reflektierte, eloquente und sozial sensible Persönlichkeit hat sich dort gezeigt.

Von Burkhard Müller-Ullrich |
    Mit was für Augen werden wir von jetzt an durch die Baumärkte laufen, nachdem wir wissen, dass Natascha Kampusch hier mit ihrem Peiniger durchging, sich aber nicht getraute, von ihm wegzurennen und Schutz bei den Verkäufern, beim Kassenpersonal oder bei irgendeinem fremden Menschen zu suchen? Wie hoch mag unter den Baumarkt-Kunden im Durchschnitt der Prozentsatz derer sein, die von Gewalttätern an unsichtbaren Fesseln herumgeführt werden und vergeblich hoffen, man möge sie erkennen? Sehen wir nicht schon immer in den Gängen zwischen Farben und Tapeten diese flehentlichen Blicke, diese verstohlenen Mitteilungsversuche? Kennen wir nicht die stummen Hilfeschreie in der Sanitärabteilung und beim Holzzuschnitt?

    Und andererseits: Hätten wir in Verkäufer oder Kassenpersonal genug Vertrauen, dass sie in Sekundenschnelle das Richtige tun und uns nicht im Stich lassen, weil sie mit Schrauben und Dübeln beschäftigt sind und kein Theater mit der Polizei haben wollen? Baumärkte, das ahnen wir schon lange, sind Brennspiegel unserer Gesellschaft; jetzt aber ist klar: Sie sind auch täuschende Kulissen für abgründige Psychodramen und verborgene Verbrechen, die - einmal aufgedeckt - unsere Imagination regelrecht kidnappen.

    Denn anders lässt sich der mediale Kampusch-Diskurs gar nicht beschreiben als durch eine Art geistiges Kidnapping der Öffentlichkeit. "Extra spezial" - der Sendungstitel von RTL sagt ja schon alles über Ton und Haltung - "Extra spezial" war eine hochneurotische Schicksals-Show. Die Aufführung lebte vom schnittigen Gegensatz zwischen dem Sensationstremolo der Moderatorin und dem aufgesetzten Beruhigungsgestus des Interviewers. Und sie lebte von der seltsamen Inszenierung des Halbdunkels, in dem die neuen Machthaber der Natascha Kampusch saßen: der Arzt im Kittel, der Agent, der Berater.

    Sah man anschließend den Fachleuten bei der Analyse des Gesagten zu, bekam man den Eindruck, es mit einer gigantischen psychologischen Versuchsanordnung zu tun zu haben. Was kann eines Menschen Seele alles aushalten, ohne zu zerbrechen? Die Ermittlung dieses Bruchpunkts ist ja der Thrill aller Big-Brother- und ähnlicher Gefängnis-Shows, die ja auch mehr und mehr als Langzeitexperimente angelegt werden.

    Nur: Wie lang acht Jahre sind, und was es bedeutet, wenn sie einem einfach geraubt werden, kann sich der heutige Gegenwartsmensch kaum vorstellen. Man stelle sich nur einmal diese Frage: Wer war ich 1998 und was ist seither aus mir geworden? Das macht fast ebenso betroffen wie das Schicksal des entführten Kindes.