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Skandal im Netzbezirk

Skandale bestimmen die Medien und immer mehr auch unsere eigene Lebenswelt. Dies zumindest meinen Bernhard Pörksen und Hanne Detel in ihrem neuen Buch "Der entfesselte Skandal", in dem sie sich einer neuen Art der Skandalisierung widmen. Pörksen brachte bereits 2009 ein Buch über Skandale heraus. Damals ging es noch um den alten Skandaltyp, der maßgeblich von den herkömmlichen Massenmedien erzeugt wird.

Von Matthias Eckoldt | 22.08.2012
    Handele stets so, dass dir die öffentlichen Effekte deines Handelns langfristig vertretbar erscheinen. Aber rechne damit, dass dies nichts nützt.

    Dieses sarkastische Aperçu steht am Schluss des Buches "Der entfesselte Skandal". Für Bernhard Pörksen und Hanne Detel stellt er den kategorischen Imperativ der modernen Mediengesellschaft dar, einer Turbo-Kommunikationsgesellschaft, die auf allen verfügbaren Kanälen sendet. Ob E-Mail, ob Twitter, ob Facebook, ob Blogs, ob YouTube. Auf den digitalen Datenbahnen kursieren Informationen in einem noch nie da gewesenen Ausmaß. Das fundamental Neue sehen die Autoren jedoch noch nicht einmal in der Datenflut, sondern in der extrem niedrigen Einstiegsschwelle, die durch die Natur der digitalen Medien gegeben ist. Pörksen:

    "Digitalisierte Daten gehen, wie Peter Glaser einmal so wunderbar gesagt hat, in einen neuen Aggregatzustand über. Sie werden leicht, sie werden beweglich, sie lassen sich blitzschnell kopieren, lassen sich kombinieren, lassen sich kaum noch zensieren, und sie lassen sich global rezipieren. Das Einzige, was nötig ist, ist ein funktionierender Netzzugang. Und die Verbreitungstechnologien liegen im Zeitalter des Web 2.0 in den Händen aller. Wir alle tragen Allzweckwaffen der Skandalisierung stets am Körper. Wir nennen sie nur anders. Wir sprechen von unseren Handys, wir sprechen von unseren Smartphones, aber faktisch können wir diese natürlich einsetzen, um jemanden in einem unbeobachteten Moment abzulichten, eine Normverletzung zu attackieren und sie dann im Netz bekannt zu machen."

    Der Tübinger Professor für Medienwissenschaft, Bernhard Pörksen, und seine wissenschaftliche Mitarbeiterin Hanne Detel lassen an fünfzehn Fallbeispielen die neue Form der Skandalisierung plastisch werden. Von Horst Köhler ist da zu lesen, der auf dem Rückflug von Afghanistan ein Radiointerview gegeben hatte, das ohne vernehmbares Echo über den Äther ging. Tage später aber nahm sich eine Gruppe von Bloggern der Sache an und sorgte mit dem Vorwurf, Köhler rechtfertige Wirtschaftskriege, für eine derartige mediale Aufmerksamkeit, dass der damalige Bundespräsident schließlich zurücktrat. Ebenso werden die Skandalverläufe der Fälle Guttenberg, der Greenpeace-Kampagne gegen Nestle oder der Fotografien von Abu Ghraib kenntnisreich nachgezeichnet und im Paradigma des entfesselten Skandals analysiert. Doch die neuen Skandalformen ergreifen nicht nur Prominente, wie das Buch am Schicksal von Susanne Klausner, Mitarbeiterin der Agentur für Arbeit, deutlich macht. Ihr wird ein Tippfehler zum Verhängnis. Statt an ihre vertraute Kollegin, schickt sie die morgendliche E-Mail-Korrespondenz an den gesamten Verteiler des Arbeitsamtes. Rasch kursieren pikante Auszüge im Netz:

    Fred war gestern Abend ne dreiviertel Stunde da. Hatte mich extra rasiert und dann wollte er mich net. Hatten bestimmt zwei Wochen keinen Sex. Wie war dein Abend so?

    Die E-Mails der beiden Sachbearbeiterinnen verbreiten sich geradezu epidemisch. In rasantem Tempo werden sie weitergeleitet, kopiert, verlinkt und in Blogs kommentiert. Das Buch zeichnet den gesamten Prozess minutiös nach:

    Extrapoliert man von diesen dämlichen Bürotussen auf die Gesamtheit der Arbeitsamt-Mitarbeiter, kann man daraus nur folgern, dass die eigenen Bewerbungsunterlagen überall besser aufgehoben sein dürften als in diesem Laden!

    Der Cybermob tobt sich aus, und so kostet der Tippfehler die beiden Sachbearbeiterinnen vom Arbeitsamt ihren eigenen Arbeitsplatz. Bis heute lässt sich diese Geschichte aus dem Jahr 2006 im Netz nachrecherchieren. Das Resümee der Autoren lautet:

    Die für den Augenblick gemeinte Kommunikation ist alles andere als vergänglich; das digitale Stigma bleibt bestehen. Ohne Chance auf Tilgung.

    Pörksen: "Früher waren es Journalisten, die die Gatekeeper waren, die Schleusenwärter, jene, die an der Pforte zur Öffentlichkeit standen und darüber entschieden haben, ob etwas relevant ist, ob etwas publikationswürdig ist oder eben nicht. Und ganz am Schluss, nach der Veröffentlichung, kam das Publikum. Es konnte sich zuschalten durch Ärger, durch Telefonanrufe und Leserbriefe. Heute ist das Publikum die neue Macht. Heute kann jeder skandalisieren, kann jeder in der Öffentlichkeit des Netzes ein Empörungsangebot verbreiten. Das Einzige, was er braucht: Er muss für dieses Empörungsangebot ein Publikum finden. Zuerst im Netz, dann aber auch in den klassischen Massenmedien."

    So arbeiten die Autoren ein weiteres Charakteristikum des neuen Skandals heraus. Er wird in den digitalen Medien erzeugt. Shitstorm, Crowdsourcing, Scandal-Surfing, Cybermobbing - das sind die in diesem Zusammenhang benutzten und im Buch definierten Fachbegriffe. Damit aus der digitalen Empörungswelle jedoch ein handfester Skandal wird, bedarf es der crossmedialen Zusammenarbeit mit den alten Medien. Erst wenn der enttarnte Regelverstoß in Fernsehen, Rundfunk und Zeitung angekommen ist, kennt die öffentliche Empörung kein Halten mehr. Insofern stellt der digital entfesselte Skandal eine neue Eskalationsstufe in der Evolution der Skandale dar, da sich der radikaldemokratische Impuls der Neuen Medien und die Verbreitungsmacht der alten Medien wechselseitig aufschaukeln. Beispielhaft ist hier die Entthronung Karl Theodor zu Guttenbergs, der sich am Ende der durch die Internetplattform Guttenplag beigebrachten erdrückenden Beweislast im Zusammenspiel mit der täglichen medialen Berichterstattung geschlagen geben musste.

    Mit dem Buch "Der entfesselte Skandal" haben Pörksen und Detel Neuland erschlossen, da sich die bisherige Skandal-Literatur fast ausschließlich mit den herkömmlichen Skandalisierungspraktiken der alten Medien beschäftigt. Die enorme Dynamik aber, die durch die flächendeckende Verfügbarkeit digitaler Skandalwerkzeuge losgetreten wird, ist bislang noch nicht öffentlich bedacht worden. So stellt die wissenschaftliche Erschließung dieses Gegenstandes einen weiteren Baustein im Alleinstellungsmerkmal der Tübinger Schule der Medienwissenschaft dar. Diese maßgeblich von der Person Bernhard Pörksen getragene Art und Weise der Wissenschaftspraxis zeichnet sich nicht nur durch die Nähe zu den aktuellsten Entwicklungen in den Medien, sondern auch durch einen in Deutschland neuen wissenschaftlichen Schreibstil aus. Exemplarisch bricht auch das Buch "Der entfesselte Skandal" mit der klassischen Wissenschaftssprache, in der die Ich-Perspektive, die bildhafte Sprache und das Erzählen tabu sind, was die entsprechenden Produkte für ein Publikum jenseits des engen Kreises der Fachwissenschaftler oft genug unleserlich macht. "Der entfesselte Skandal" dagegen kommt im besten Edelfeder-Stil daher.

    Pörksen: "Es gibt in der deutschen Wissenschaftslandschaft ein zumindest latent wirksames Verbot des feuilletonistischen und wissenschaftlichen Schreibens. Das halte ich für fatal und letztlich auch - um es hart zu sagen - für dumm. Denn das feuilletonistische und essayistische Schreiben stellt eine eigene Erkenntnisform dar. Es ist ein Erkenntniskatalysator ersten Ranges, der in höchst produktiver Weise auf die vergleichsweise hermetische, fachinterne Produktion von Wissen zurückwirkt. Man wird zu Zuspitzungen gezwungen, zu Popularisierungen genötigt, man muss in einer ganz anderen Hitze, einem ganz anderen Tempo Thesen und Ideen entwickeln, und das ist ungeheuer anregend."

    Anregend ist auch die Lektüre des Buches, die keinerlei medientheoretisches Vorwissen verlangt. Wenn sich der Leser durch die beredten Fallstudien gearbeitet hat, ist er bestens auf die Coda des Werks vorbereitet, in der die Autoren die These vom Kontrollverlust aufstellen. Die denken sie vom Individuum her, das immer stärker digitalen Dokumentations- und Verarbeitungstechniken ausgesetzt wird. Der moderne Mensch hat jederzeit zu gewärtigen, dass seine Handlungen von anderen als skandalträchtig eingeschätzt und im großen, globalen Stil internetweit ausgewertet werden. Auf diese Weise entsteht eine neue Form des Tugendterrors. Also gilt im Zeitalter des Web 2.0:

    Handle stets so, dass dir die öffentlichen Effekte deines Handelns langfristig vertretbar erscheinen. Aber rechne damit, dass dies nichts nützt.

    Bernhard Pörksen und Hanne Detel: "Der entfesselte Skandal: Das Ende der Kontrolle im digitalen Zeitalter". Herbert von Halem Verlag, 248 Seiten, 19,80 Euro