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Skandale und Skandälchen

In "Skandal! Die Macht öffentlicher Empörung" nähern sich Journalistik-Studenten dem Phänomen Skandal. In 28 Interviews befragen sie Prominente wie das Entführungsopfer Natascha Kampusch oder den Enthüllungs-Journalisten Günter Wallraff über ihre Erfahrungen.

Von Matthias Eckoldt | 19.06.2009
    Unter Medientheoretikern ist es Konsens, dass die Massenmedien die Wirklichkeit nicht abbilden wie sie ist. Berichtet wird nicht über den ganz normalen Vollzug des Alltags, sondern über kleinste Wirklichkeitsfenster. Im Brennpunkt der Berichterstattung steht die Abweichung von der Regel, die im Idealfall von einzelnen Personen begangen wurde. Dieses Funktionsprinzip der Medien zeigt sich in verdichteter Form im Skandal, der in den letzten Jahren zu einem Untersuchungsgegenstand der Medienwissenschaften geworden ist.

    "Der Skandal ist etwas Ideales. Er erlaubt es den Medien, Aufmerksamkeit zu binden, Aufmerksamkeit zu gewinnen, Auflage zu machen, Profite zu erwirtschaften in diesem permanenten Kampf um Aufmerksamkeit zu punkten. Er erlaubt es dem Publikum, Voyeur zu sein und sich gleichzeitig moralisch zu erregen und zu stimulieren und erlaubt es den Journalisten eine Sensation zu vermitteln. Im Skandal erkennt die Gesellschaft, was sie nicht will, was sie auf keinen Fall möchte. Sie kann zunehmend schlechter definieren, was sie positiv will, was sie an Werten vertreten möchte, aber sie kann doch sagen, was auf keinen Fall stattfinden soll. Und eben dies ist der Skandal. Das ist der Extremwert der Abgrenzung, der Extremwert der Negation. Wenn wir über Skandale reden, reden wir über Moral, über Moralvorstellungen, die eine Gesellschaft vertritt."

    Bernhard Pörksen, Professor für Medienwissenschaft an der Universität Tübingen, hat mit "brand eins"-Redakteur Jens Bergmann den Skandal zum Thema eines Interview-Buches gemacht. Das Erfolgsduo ließ damit bereits zum zweiten Mal eine Seminargruppe von Journalistikstudenten auf Prominente los. Und das wiederum mit bemerkenswerten Ergebnissen. Skandalopfer wie Natascha Kampusch oder der Dopingsünder Patrick Sinkewitz stellten sich den hartnäckigen Fragen und Nachfragen der Studierenden ebenso wie der notorische Provokateur Rosa von Praunheim oder der investigative Skandalberichterstatter Günter Wallraff.

    Der Mut, mit dem die Interviewer ihren Gesprächspartnern gegenübertreten, ist erstaunlich. Sie verstehen sich nicht als Trittbrettfahrer, sondern sind auf der Suche nach den Funktionsprinzipien von Skandalen.

    "Eine unserer Erfahrungen war: Der Skandal hört nie auf. Menschen, die in einen Skandal verwickelt sind oder waren, tragen Narben davon. Wenn man versucht, mit jemandem in Kontakt zu treten, der zu Recht oder zu Unrecht Objekt öffentlicher Empörung war, dann taucht alles wieder auf. Niemand hat gesteigerte Lust, über seine Skandalerfahrungen zu sprechen. Es war also unendlich mühsam, Gesprächspartner zu finden, und es war unendlich mühsam, die sehr hart geführten Gespräche autorisieren, absegnen zu lassen. Mehrere Gespräche sind gescheitert, manche wurden abgebrochen, andere wurden in Gegenwart von Anwälten geführt. Es gab einen SPD-Politiker, der durch Fotos im Pool auf sich aufmerksam gemacht hat und dann in insgesamt vier Weichspülgängen alles, was er gesagt hat, mehr oder minder so verändern wollte, dass nichts mehr übrig blieb. Die Studentinnen haben sich dann entschieden, ihn anzurufen und zu sagen: Dieses Interview wird nicht gedruckt."

    Die Interviews, die schließlich in den Band mit dem griffigen Titel "Skandal" hineingekommen sind, werden tatsächlich geführt und dienen nicht als Erfüllungshilfe des jeweiligen PR-Beraters. Insofern bedient das Buch nicht selbst die Skandalisierung, sondern deckt - ganz im Gegenteil - auf, wie Skandale provoziert und inszeniert werden. Was hier vorliegt, ist eine Sammlung von Interviews, die reflektieren, wie sich die Medienmaschinerie in Gang setzt, wenn Skandalträchtiges geschieht. Sie erlauben den moralfreien Blick hinter die Kulissen der Skandale.

    So entfaltet der ehemalige Greenpeace-Chef Thilo Bode im Interview seine Grundthese, dass der Skandal in der Industriegesellschaft der Normalfall ist. Erstaunlich offen berichtet er davon, wie seine Organisation kalkuliert die Affinität der Medien zum Regelverstoß für ihre Ziele ausnutzt. Ebenso aufschlussreich ist das Interview mit Wolfgang Kubicki, der über seine Rolle als Anwalt in der VW-Korruptionsaffäre mit den Studenten spricht. Kubicki verteidigte damals den VW-Manager Gebauer.

    "Herr Kubicki, Sie haben fleißig daran mitgearbeitet, Peter Hartz an den Pranger zu stellen. Mit Ihrer Hilfe machte die Bild-Zeitung die Prostituierte Joselia ausfindig, die Gebauer extra für Hartz nach Paris einfliegen ließ. Sie steckten der Presse pikante Details, um von Ihrem Mandanten Gebauer abzulenken."

    "Es gab keine andere Möglichkeit. Da weder mein Mandant noch ich in der Lage waren, die gegen ihn gerichteten Vorwürfe zu entkräften, war es notwendig, Verbündete zu finden. Dies konnten nur die Medien sein. Ich war übrigens überrascht, wie schnell" Bild" die Hartz-Geliebte gefunden hat."

    "Sie haben die Presse also missbraucht?"

    "Missbrauch ist ein großes Wort. Ich würde sagen: gebraucht. Ich musste meinen Mandanten davor schützen, für Dinge verfolgt zu werden, für die er nicht verantwortlich ist. Ich habe mir in der damaligen Situation ganz genau überlegt, ob ich mithilfe der Presse für meinen Mandanten nützliche Informationen bekomme. Und was ich preisgeben muss, damit jemand recherchiert und mir die Ergebnisse zur Verfügung stellt. Das war der Deal mit fast allen großen Blättern."

    Interessanterweise bewegen sich diese 28 Gespräche auf einem Niveau, an das Profis oft nicht herankommen. So gereicht das Buch "Skandal" der im journalistischen Tagesgeschäft auf ihre pure Funktionalität reduzierten Gattung des Interviews zur Ehre. Dabei darf man jedoch nicht übersehen, dass es sich hier um eine Art Laborsituation handelt. Die Studenten hatten mehrere Monate Zeit, sich auf die Interviews vorzubereiten, die Archive von Spiegel-Online standen ihnen zur Recherche offen, und es gab kein Publikationsmedium, das möglicherweise Druck auf das Interview-Ergebnis ausübt. Insofern steht den Interviewern der erdende Praxisschock sicher noch bevor. Was aber den Ertrag, den das Buch "Skandal!" für den Leser bereit hält, in keiner Weise schmälert."

    Jens Bergmann / Bernhard Pörksen: "SKANDAL! Die Macht öffentlicher Empörung"
    Halem-Verlag, edition medienpraxis, 18 Euro, 362 Seiten.