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Skeptiker, nicht Bürgerschreck

Der vor 25 Jahren verstorbene französische Philosoph Michel Foucault wurde weniger mit seinen provokanten Thesen populär, dass es Sexualität erst seit dem 18. Jahrhundert gibt, oder dass der Mensch erst seit 200 Jahren existiert. Vielmehr reizte die aufgeklärten, vernunftgläubigen und fortschrittsüberzeugten Zeitgenossen vor allem, dass er Wahrheit und Macht nicht trennt, wie es in der Tradition weit verbreitet ist. Foucault war ein Skandal und ist es vermutlich noch immer.

Von Hans-Martin Schönherr-Mann | 25.06.2009
    Was wollte Michel Foucault? Die Vernunft als Wahnsinn begreifen! Die Wahrheit als Illusion entlarven! Und nebenbei verdirbt er noch die Jugend und lässt das Proletariat im Stich - so die Vorwürfe, von denen sein Freund, der Althistoriker Paul Veyne in seiner so persönlichen wie lebendigen Einführung in das Werk Foucaults berichtet, in der auch dessen Leben pointenreich skizziert wird. Aber haben die Kritiker Foucaults nicht recht, wenn Paul Veyne erzählt:

    "Ich ging bei ihm ein und aus, egal, wer sonst noch zu den Gästen des Abends gehörte, da mir Foucault den Titel des Homosexuellen honoris causa zuerkannt hatte, nicht ohne einen leichten Vorwurf: 'Ich verstehe nicht, wie ein so offener und gebildeter Mann wie du Frauen den Vorzug geben kann."

    Und anstatt wenigstens die Utopie der Liebe in der christlichen Nächstenliebe bzw. in der seelischen Liebe zu begreifen, propagiert er auch noch die Realisierung der Liebe in den körperlichen Lüsten. So bemerkt er 1966 in einem Radiovortrag:

    "Vielleicht sollte man auch sagen, in der Liebe spürt man, wie der Körper sich in sich selbst schließt. Unter den Händen des Anderen existiert er endlich jenseits aller Utopie, in seiner ganzen Dichte. Unter den Fingern des Anderen, die über den Körper gleiten, beginnen alle unsichtbaren Teile des Körpers zu existieren. An den Lippen des Anderen werden die eigenen Lippen spürbar."

    Und entschuldigt etwa Foucaults Popularität solche Infragestellung des sittlich oder natürlich Gebotenen und Normalen? Zieht nicht der Skandal vielmehr jene Menschen an, die ihr Vergnügen aus moralischen Schwächen ziehen, wenn Foucault die Liebe auf die körperlichen Lüste konzentriert? So schreibt Paul Veyne über die Vorlesungen, die Foucault am renommierten Collège de France hielt, an das er 1970 gerufen wurde:

    "Die Vorlesungen Foucaults im Collège de France waren eine Massenattraktion, wie seinerzeit die von Bergson. Der Hörsaal war überfüllt, die Leute saßen, standen, manche lagen sogar. Vor dem Auditorium, zu Füßen des Rednerpults, hatte sich auf dem Boden ein sehr schöner, schlanker und hochgewachsener junger Schauspieler der Länge nach ausgestreckt und hob seinen Kopf, elegant auf die Hand gestützt, zum Professor."

    Doch seine Popularität stützt sich auch nicht darauf, dass er sich aktiv politisch beteiligt hätte, außer punktuell, wenn ihn eine Angelegenheit interessierte. Kein Wunder, wenn die Linken ihre Probleme mit Foucault hatten. Der gut 20 Jahre ältere Sartre war sein Intimfeind. Die Kommunistische Partei mochte keine Homosexuellen. Und die Rechten hielten ihn für einen Linken. So schreibt Paul Veyne:

    "Dieser angebliche Linke war weder Freudianer noch Marxist, weder Sozialist noch Anhänger des Fortschritts, Dritte-Welt-Aktivist oder Heideggerianer, er war kein 'linker Nietzscheaner' (wie so mancher) und übrigens auch kein rechter, sondern er war der Inaktuelle, der Unzeitgemäße seiner Zeit, um einen hier durchaus angebrachten Begriff Nietzsches aufzugreifen. Aufgrund dessen war er Non-Konformist, was ausreichend schien, um ihn zu den Linken zu rechnen."

    Damit stellt sich indes um so dringender die Frage, ob sich Foucault nicht im Stile eines Bürgerschrecks schlicht einen Spaß daraus machte, alle ethischen Werte aufzulassen, wenn er beispielsweise die körperliche Lust der seelischen Liebe vorzieht, wenn er die Vernunft zum Wahnsinn und die Wahrheit zur Illusion erklärt. Doch Paul Veyne nimmt ihn vor einigen gängigen Vorwürfen in Schutz:

    "Foucault war ebenso wenig Nihilist wie Subjektivist, Relativist oder Historist. Nach seinem eigenen Bekenntnis war er Skeptiker."

    Woran aber zweifelte Foucault? Müsste er daher nicht zunächst an sich selbst zweifeln, genauso wie an Wahrheit, Vernunft oder der Nächstenliebe? Das könnte man meinen, wenn er bekennt:

    "Aber jeden Morgen dieselbe Erscheinung, dieselbe Verletzung. Vor meinen Augen zeichnet sich unausweichlich das Bild ab, das der Spiegel mir aufzwingt: mageres Gesicht, gebeugte Schultern, kurzsichtiger Blick, keine Haare mehr, wirklich nicht schön. Und in dieser hässlichen Schale meines Kopfes, in diesem Käfig, den ich nicht mag, muss ich mich nun zeigen. Durch dieses Gitter muss ich reden, blicken und mich ansehen lassen. In dieser Haut muss ich dahinvegetieren. Mein Körper ist der Ort, von dem es keine Entrinnen gibt, an den ich verdammt bin."

    Doch mit einer kritischen Betrachtung seiner selbst stellt er sich als Person gerade nicht in Frage. Das mag als Skeptiker geboten scheinen. Foucault zweifelt indes nicht an den einzelnen Menschen oder den konkreten Ereignissen, an den Details oder Fakten, sondern - obwohl er gelernter Philosoph ist - an den großen Theorien, die Mensch und Welt auf einen objektiven Begriff bringen wollen, die ein allgemeines Wesen des Menschen oder eine allumfassenden Nächstenliebe propagieren. Stattdessen kümmert er sich um das Detail. Wenn er in seinen Werken Wahnsinn, Sexualität, Klinik oder Gefängnis analysiert, stützt er sich penibel auf historische Quellen, Dokumente und Archivmaterial. Paul Veyne bringt Foucaults Credo auf folgende treffende Formel:

    "Friede den kleinen Fakten, Krieg den Allgemeinheiten."

    Eine allgemeine Wahrheit, eine universelle Vernunft, eine allumfassende Nächstenliebe bleiben dem konkreten Leben der Menschen fremd, wollen es zumeist nur prägen und steuern. Ihm gerecht zu werden, darum bemühen sie sich nicht. Darum jedoch geht es Foucault, auch zum Preis, dass er damit auf massive Ablehnung stößt und Skandale verursacht: ein Mensch, der die christlichen, die liberalen, die sozialistischen Ideale gleichermaßen ablehnt und sich auch noch offen zu einer alternativen Sexualität bekennt. Doch mit seinem Programm 'zu den kleinen Fakten' steht er im Denken des 20. Jahrhunderts keinesfalls allein, sondern mitten im Trend der Avantgarde, wiewohl seine Vorstellung von Wissenschaft dabei eine etwas persönliche Suche nach wenig thematisierten Orten beinhalten:

    "Die erwachsene Gesellschaft hat lange vor den Kindern ihre eigenen Gegenräume erfunden, diese lokalisierten Orte, diese realen Orte jenseits aller Orte. Zum Beispiel Gärten, Friedhöfe, Irrenanstalten, Bordelle, Gefängnisse, die Dörfer des Club Méditerranée und viele andere. Ich träume nun von einer Wissenschaft - und ich sage ausdrücklich Wissenschaft -, deren Gegenstand diese verschiedenen Räume wären, diese anderen Orte, diese mythischen oder realen Negationen des Raumes, in dem wir leben."

    Aber wenn man auf den großen Begriff verzichten will, der die Welt erklärt, stellt man damit nicht auch die Geschichte in Frage? Arbeitet man damit nicht beispielsweise Leugnern des Holocausts in die Hände? Verschwörungstheoretiker bezweifeln gerne Zusammenhänge jedweder Art, z.B. den Holocaust als Erfindung der jüdischen Weltverschwörung, wie sie überhaupt die Welt von trügerischen Mächten beherrscht und manipuliert sehen - wie sich die Gnostiker, eine große religiöse Strömung in der Spätantike, die Welt vorstellen. Dem hält Paul Veyne entgegen:

    "Sechs Millionen ermordete Juden sind ein Faktum, und die Fakten sind störrisch, sagte Foucault, als er nach den Verbrechen Stalins gefragt wurde. Man kann darüber diskutieren, wie der Genozid zu interpretieren ist (universelle Banalität des Bösen? Tragische Folge eines deutschen Sonderweges? Bürgerlicher und militärischer Gehorsam gegenüber der Autorität, der sattsam bekannten Obrigkeit?) Doch das Faktum des Völkermordes bleibt bestehen, Tag für Tag, und nur ein gnostischer Diskurs könnte ihn bestreiten."

    Wenn Foucault die Wahrheit bezweifelt, so nur die allumfassende, die Welt insgesamt erklärende Theorie, gerade nicht die Wahrheit der Tatsachen: Wer immer den ersten Weltkrieg verursacht haben mag, darüber kann man streiten, nicht darüber dass Deutschland Belgien überfiel. Die Wahrheit der kleinen Fakten bleibt indes für die großen Ideen ein Skandal, weil sie sich daran regelmäßig vergeblich abarbeiten und letztlich daran scheitern. Paul Veyne hat für das Skandalon Foucault eine etwas andere Bezeichnung gewählt:

    "Seine bissigen Bücher sind mit dem Schwert geschrieben, mit dem Säbel eines Samurai, eines durch und durch nüchternen und grenzenlos kaltblütigen und reservierten Mannes. Sie selbst sind Schwerter, deren Handhabung einen Leser voraussetzt, der von sich aus den erforderlichen Lebensschwung besitzt."


    Paul Veyne: Foucault - Der Philosoph als Samurai (2008), Reclam, Stuttgart 2009, 218 Seiten