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Skeptischer Blick auf die Revolution

Es kommt vor, dass ein Künstler lange nach seinem Tod plötzlich wieder in aller Munde ist. Bei Historikern dagegen ist das eher eine Ausnahme. Ein Fall ganz eigener Art ist Jacob Burckhardt. Mit über 100-jähriger Verspätung wurde jetzt ein Werk des 1897 verstorbenen Basler Historikers vorgelegt.

Von Günter Müchler |
    Burckhardt war erst knapp über vierzig, als er abrupt seine Publikationstätigkeit einstellte. Bis dahin hatte er sich mit der "Zeit Constantins des Großen" und der "Cultur der Renaissance in Italien" einen Namen gemacht. Die Fachwelt wartete auf die Fortsetzung seines Werkes. Stattdessen widmete sich Burckhardt fortan nur noch der akademischen Lehre.

    Schon die "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" waren für den Druck nicht vorgesehen gewesen. Doch Burckhardts Neffe hielt sich glücklicherweise nicht an den Letzten Willen des Onkels, der lautete, die Vorlesungsmanuskripte zu vernichten. Erst 1905, acht Jahre nach Burckhardts Tod, erschienen die "Weltgeschichtlichen Betrachtungen" als Rekonstruktion seiner Aufzeichnungen.

    Mit der "Geschichte des Revolutionszeitalters" ist jetzt, über 100 Jahre nach dem Tod des Autors, ein weiterer neuer Burckhardt nachlesbar. Es handelt sich um Band 28 der Kritischen Gesamtausgabe. Der mit Apparat schlanke 1683 Seiten umfassende Band basiert auf den Materialien einer Vorlesung, die Burckhardt zwischen 1859 und 1882 insgesamt zwölfmal hielt, und zwar in freier Rede. Den Herausgebern stand neben knapp 1000 durchnummerierten sogenannten Grundstockblättern eine Vielzahl von Beiblättern zur Verfügung, Notizzettel, auf denen Burckhardt Anmerkungen niederschrieb und die Ergebnisse der neueren Literatur zum Thema kommentierte. Wie lange haben die Herausgeber an dem Werk gearbeitet? Mitherausgeber Wolfgang Hartwig, Historiker an der Humboldt-Universität:

    "Ziemlich genau zehn Jahre, etwa ein Jahr war teilweise vorher noch ausgefüllt mit Vorarbeiten und der Antragstellung. Man braucht für so ein Projekt vergleichsweise viel Geld, jedenfalls aus der Sicht der Geisteswissenschaften viel Geld."
    Der durchgängig skeptische Blick, den Burckhardt auf die Revolution wirft, kann nicht überraschen. Burckhardt war jeder Messianismus ein Gräuel, in der Geschichte wie in der Geschichtsschreibung. Das Hinschreiben der Geschichte auf ein allgemeines Ziel ging ihm gegen den Strich. "Geschichtsphilosophie", so heißt es in der Einleitung zu den "Weltgeschichtlichen Betrachtungen", "ist ein Kentaur, eine contradictio in adjecto, denn Geschichte, das heißt das Koordinieren, ist Nichtphilosophie und Philosophie, das heißt das Subordinieren, ist Nichtgeschichte".

    Burckhardts Sache ist also das Koordinieren historischer Phänomene, wobei ihn besonders fasziniert, was periodisch ist und immer wiederkehrt. Hier bietet die Revolution reichhaltiges Anschauungsmaterial. In der Startphase herrscht grenzenloser Optimismus. Die Devise heißt: Alles ist möglich, alles ist erlaubt. Dann kommt die Ernüchterung, die aber aufseiten der Revolutionäre keineswegs produktiv verarbeitet wird, sondern Tempo und Gewaltsamkeit der Umformung nur noch weiter steigert. Am Ende wird die Vorstellung, der Mensch sei gutmütig und nur durch die Fesseln einer unguten Ordnung gehindert, es zu zeigen, grauenhaft dementiert durch den Terror, bis sich aus dem Chaos die cäsaristische Militärdiktatur erhebt.

    Vom Revolutionspersonal ist niemand, dem Burckhardt Gnade angedeihen lässt. Er macht sich lustig über den "honetten" Radikalismus der Girondisten. Er geißelt die moralische Indifferenz Dantons und der Abbé Siéyès, der auf die Frage, was er eigentlich in der Schreckenszeit gemacht habe, antwortet, "ich habe gelebt", erntet seine Verachtung. Als Bruch mit allem, was bei großzügiger Rechnung durch die Lauterkeit der Absichten exkulpiert werden könnte, sieht Burckhardt die Septembertage 1792 an. Schon hier, also noch vor der Hinrichtung des Königs, der Niederschlagung der Gironde und der "großen" Terreur, verfällt der Walzer der Freiheit in den Totentanz der Schreckensherrschaft. Gegen Louis Blanc weist Burckhardt nach, dass der Blutrausch des Pariser Pöbels, der wahllos Priester, Schweizer Gardisten und Zufallsopfer niedermetzelt, keineswegs spontan, sondern geweckt und propagandistisch vorbereitet ist, vor allem durch Marat und sein Hassblatt, den "Ami du peuple". Dem Volk sollen Furcht und Fieber eingeimpft werden, ein Strom von Blut soll den Weg zurück ein für alle Mal abschneiden.

    Weil am Ende alles im Chaos versunken ist, wirft sich das Volk Napoleon an den Hals. Im Phasenverlauf des revolutionären Karnevals spielt der Korse die Rolle des "sauveur", des Retters, für den man alle Freiheiten deshalb bereitwillig suspendiert, weil man sie, wie Burckhardt ironisch anmerkt, niemals genossen hat.

    Der Staatsstreich des 18. Brumaire legt den Grundstein für Monarchie und Despotie, das meint Burckhardt, der Napoleon so skizziert: Zitat: "Ein Despotismus wie der seinige war in Frankreich ohne Kriege gar nicht zu behaupten.- Ohnehin war er, Napoleon, als Krieger emporgekommen und im Kriegsgetümmel allein war ihm noch wohl. Das Kaiserthum war schon der Krieg an sich." Zitat Ende. Dem ließe sich widersprechen. Burckhardt unterschätzt das zivile Ordnungswerk Napoleons, die Beendigung des Bürgerkriegs, die Sanierung der Finanzen, die Straffung der Verwaltung, den Code Napoleon, das Ganze zivile Ordnungswerk des Korsen, das die Überlegenheit Frankreichs auf dem Kontinent bis zum Wendejahr 1813 sichert.

    Ein Genuss sind Burckhardts ironische Spitzen. Dafür zwei Beispiele: So stellt er fest, Napoleon habe die Franzosen respektlos gegen fremdes Recht gemacht, um diese Feststellung dann mit einem Klammersatz zu entkräften: "Hm? Das waren sie schon durch die Revolution!" An anderer Stelle lässt er sich über Napoleons philanthropische Selbststilisierung auf Sankt Helena aus. Folgt der Satz: "Viele glauben es ihm heute noch und wundern sich, dass dieser sanfte edle Mensch nicht Landpfarrer geworden."

    Insgesamt ist der Band eine editorische Glanzleistung. Bleibt die Rätselfrage, weshalb der Sonderling Burckhardt aus der Fülle seiner Notate niemals einen Fließtext, ein Buch gemacht hat. Auch Wolfgang Hartwig hat hierauf keine schlüssige Antwort.

    "Jacob Burckhardt steht relativ fremd in der Universitätslandschaft des 19. Jahrhunderts, und uns heute scheint seine Haltung noch schwerer verständlich als seinen Zeitgenossen. Die waren auch schon befremdet. Burckhardt hat bis zu seinem 42. Lebensjahr publiziert, danach keine Zeile mehr. Das heißt, er hat sich zurückgezogen auf den Lehrstuhl, auf das Schreiben nach wie vor, er hat Manuskripte ausgearbeitet, zum Teil bis zur Druckfertigkeit. Aber er hat seine Lebensaufgabe von diesem Zeitpunkt an, 1860, im gesprochenen Wort gesehen, also im Vortrag, im Hörsaal der Universität."

    Günter Müchler rezensierte Jacob Burckhardt: Geschichte des Revolutionszeitalters. Der Band ist Teil 28 der bei C.H. Beck erschienen Kritischen Gesamtausgabe, umfasst 1638 Seiten und kostet 268 Euro, ISBN: 978-3-406-59186-0.