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Sklavenarbeit am Río de la Plata

2006 starben bei einem Brand in einer Schneiderei in Buenos Aires sechs Menschen, darunter vier Jugendliche. Die Tragödie brachte ans Licht, was bis dahin im Verborgenen gehalten wurde: In vielen Nähereien werden ausländische Arbeitskräfte illegal ausgebeutet.

Von Victoria Eglau | 03.04.2010
    Ein großer, licht- und luftdurchfluteter Raum, im Obergeschoss eines Eckhauses im sozial schwachen Süden von Buenos Aires. An einer Wand stehen zweireihig ein gutes Dutzend Tischchen mit Nähmaschinen. Eine Frau, 30 Jahre alt, die dunklen Haare zu einem Zopf geflochten, steppt die Stoffteile von T-Shirts zusammen.

    "Ich heiße Maria Magdalena Vazquez und arbeite seit drei Jahren hier in der Kooperative La Alameda. Ich bin aus Bolivien, aus der Stadt La Paz."

    In der Kooperative La Alameda arbeiten Frauen, die vorher in illegalen Nähereien ausgebeutet wurden. Rund 3000 solcher Sweatshops gibt es in Buenos Aires, geschätzte 15.000 in der Umgebung der argentinischen Hauptstadt. Maria Magdalena wurde vor fünf Jahren in Bolivien von einer Verwandten ihres Mannes angeworben.

    "Sie hat uns angelogen und uns gesagt, dass wir in Argentinien gut verdienen würden. Sie hat ausgenutzt, dass mein Mann und ich in wirtschaftlichen Schwierigkeiten waren. Wir haben nicht lange überlegt, das wenige verkauft, was wir besaßen, und sind nach Buenos Aires gekommen. Die Fahrtkosten hat die Tante meines Mannes übernommen."

    Kaum in Buenos Aires angekommen, begann das Ehepaar, bei der Tante die Schulden der Fahrt abzuarbeiten. Nicht in einem hellen, belüfteten Raum, sondern in einer in einem Wohnhaus versteckten, stickigen Näherei. Zehn Landsleute beschäftigte die bolivianische Verwandte dort. Untergebracht waren wir alle in einem Zimmer über der Werkstatt, erzählt Maria Magdalena.

    "Es gab ein einziges Bad für alle Arbeiter und die Chefs. Das Essen war sehr schlecht. Diese Näherei war kein menschenwürdiger Ort. Ich habe praktisch von sieben Uhr morgens bis ein Uhr nachts gearbeitet, manchmal sogar bis zwei oder drei."

    Für die Schufterei habe sie hundert Pesos im Monat bekommen, erinnert sich Maria Magdalena, umgerechnet zwanzig Euro. Ihr Mann verdiente achtzig bis hundert Euro.

    "Ich allein hätte das alles wohl ertragen. Aber wegen meines kleinen Sohnes hielt ich es nicht mehr aus. Er hat sehr gelitten. Schließlich habe ich gesagt: ich gehe. Aber ich kannte keinen in Buenos Aires. Ich hatte Angst davor, auf der Straße zu stehen."

    Unter der Näherei-Kooperative, im Erdgeschoss, befindet sich eine Armenküche. Frauen, Männer und Kinder sitzen an Plastiktischen und verzehren ein einfaches Mittagessen. Es sind bolivianische Einwanderer. Die meisten von ihnen sind – wie Maria Magdalena - aus illegalen Nähereien geflüchtet oder haben ihren Job verloren.

    Gustavo Vera hat sein Büro im Keller. Vera leitet La Alameda, eine Organisation, die in Buenos Aires seit bald fünf Jahren gegen die Ausbeutung von Menschen in den Sweatshops kämpft. La Alameda rief die Armenküche, eine Notunterkunft und die Kooperative ins Leben, in der Maria Magdalena Arbeit fand. Die NGO leistet den Opfern auch rechtlichen Beistand.

    "Sklavenarbeit bedeutet, dass die Beschäftigten dort wohnen, wo sie arbeiten, und dass sie ihrem Chef praktisch Tag und Nacht zu Diensten sind. Deshalb sprechen wir von Sklavenarbeit. Das ist kein ein propagandistisches Klischee, das wir verwenden."

    Die Weichen für die Ausbeutung werden bereits im Nachbarland Bolivien gestellt, sagt Vera. Arbeitsagenturen und Radiosender versprächen den Ärmsten der Armen ein besseres Leben in Argentinien. Vera schätzt, dass rund 250.000 Personen Sklavenarbeit in illegalen Textilwerkstätten verrichten, die meisten davon im Großraum Buenos Aires. Polizei und Behörden schauten oft tatenlos zu, Bestechungsgelder seien üblich. Viele Besitzer von Sweatshops sind selbst Bolivianer. Und bei den Auftraggebern handelt es sich um argentinische, aber auch internationale Modefirmen. Vor vier Jahren zeigte Veras NGO La Alameda die ersten Textilunternehmen an. Mittlerweile liegen der Justiz Anzeigen gegen 103 Firmen vor, die von Sklavenarbeit profitieren haben sollen. Auch die deutschen Marken Puma und Adidas gehören dazu.

    Der Stadtteil Palermo in Buenos Aires gilt bei Einheimischen und Touristen als Shopping-Paradies. "Soho" wird das Viertel genannt, in dem sich die meisten Boutiquen konzentrieren. Viele verkaufen Mode, die in Argentinien entworfen und produziert wird. Delina, Anfang 40, zierlich, mit dunklem, glatten Haar, bummelt an Schaufenstern vorbei. Weiss sie, dass viele Modemarken zu Hungerlöhnen produzieren lassen ?

    "Das Problem der Sklavenarbeit ist mir bekannt. Wenn ich Kleidung kaufe, habe ich leider keine verlässliche Informationen darüber, ob sie in einer illegalen Näherei hergestellt wurde oder nicht."

    Roberto, ein leger gekleideter Tourist aus Kolumbien mit Dreitagebart und Brille, zeigt sich überrascht von der Ausbeutung in der argentinischen Bekleidungsindustrie.

    Es ist unbegreiflich, dass im 21. Jahrhundert noch Sklavenarbeit existiert. Es müsste viel mehr Kontrollen geben: durch das Arbeitsministerium, die Polizei und die Migrationsbehörden. Die Verantwortlichen müssen bestraft, und die Nähereien geschlossen werden.

    Kontrollen? Strafen? Schließungen? Gibt es Fortschritte im Kampf gegen die Sklavenarbeit in der Textilindustrie – seit 2006 bei einem tragischen Werkstatt-Brand vier Menschen starben? Eine Frage für den Juristen Mario Ganora, der sich bei der Ombudsmann-Behörde von Buenos Aires um das Thema kümmert und viele Anzeigen gegen Modefirmen begleitet hat.

    "Es gab Verbesserungen, die Behörden begannen mit Inspektionen der Betriebe. Wenn die gesetzlichen Anforderungen nicht erfüllt wurden, verhängten sie Strafen. Inzwischen sehen wir, dass zwar Inspektionen durchgeführt werden, diese aber keine Folgen haben. Was die Sklavenarbeit angeht, herrscht in Buenos Aires heute wieder quasi Straffreiheit."

    Dennoch, es sind auch Erfolge zu sehen - Gustavo Vera, Direktor der NGO Alameda, zählt einige auf:

    "Die Zahl illegaler Textil-Werkstätten in Buenos Aires ist von 5000 auf 3000 gesunken, und die Zahl angemeldeter Arbeitskräfte ist um zwanzig bis 30 Prozent gestiegen. Wir konnten auch verhindern, dass Argentiniens Arbeitsministerium das Gesetz abschafft, das Modefirmen für die Arbeitsbedingungen in den von ihnen beauftragten Nähereien zur Verantwortung zieht."

    Aufgrund dieses Gesetzes zur Regelung der häuslichen Arbeit verurteilte 2007 ein argentinischer Bundesrichter erstmals nicht nur den Chef einer Näherei, sondern auch den auftraggebenden Unternehmer. In Europa tragen die Modefirmen nur eine ethische Verantwortung, hier kann man sie wegen Sklavenarbeit verklagen, meint Gustavo Vera. Doch tatsächlich wurden bisher nur wenige Strafen gegen argentinische Unternehmen verhängt. Und, dass in Buenos Aires heute deutlich weniger Sweatshops existieren, heißt zwar, dass eine Reihe von ihnen geschlossen wurde, aber auch, dass viele vor die Tore der Stadt gezogen sind, wo die Behörden noch laxer vorgehen.