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Skulpturen-Schatzsuche in Kopenhagen
Die vergessenen Riesen

Vestegnen bei Kopenhagen hat einen schlechten Ruf. Doch inzwischen verirren sich sogar Touristen aus Übersee in die Gegend. Sie hoffen dort die gut versteckten Holzskulpturen des Künstlers Thomas Dambo zu finden.

Von Miriam Arndts | 17.12.2017
    Holzskulptur "Lille Tilde" des Künstlers Thomas Dambo nahe Kopenhagen
    Holzskulptur "Lille Tilde" des Künstlers Thomas Dambo nahe Kopenhagen (Deutschlandradio / Miriam Arndts)
    Da hinten zwischen den Bäumen steht sie, ganz still, und blickt mit sanften Augen auf den See vor ihr. Ihr wuchtiger Körper besteht aus unzähligen Holzlatten, die in ihren Braunschattierungen wie ein hölzernes Federkleid aussehen. "Lille Tilde", "Kleine Tilde" steht auf dem Schild neben der Skulptur. Doch klein ist sie mit ihren zirka drei Metern Höhe nicht wirklich.
    Sie ist eine der sechs riesigen Holzskulpturen, die im Vestegnen, der Gegend westlich von Kopenhagen, in der Natur versteckt sind. Ihr Schöpfer, der Recycling-Künstler Thomas Dambo, hat sie die "Vergessenen Riesen" getauft. Vergessen, weil sie allesamt an Orten verborgen sind, die die wenigsten Bewohner des Vestegnen kennen – und die Kopenhagener schon gar nicht. Vestegnen assoziieren viele vor allem mit Sozialbauten und der Autobahn, die aus der Hauptstadt herausführt. Hier aber, wo die Kleine Tilde steht, in diesem kleinen Waldstück neben Naturwiesen und Radweg, ist das Vogelgezwitscher fast lauter als der Autobahnlärm.
    Zirka sechs Kilometer südlich, direkt an der Køgebucht, ist Maria zusammen mit ihren zwei Kindern auf der Suche nach einem der anderen Riesen:
    "Ich glaube, wir gehen gerade in die falsche Richtung."
    Sehr ungenaue Landkarte mit sechs Kreuzen
    Sie hat die Schatzkarte dabei, die der Künstler Thomas Dambo als Teil des "Vergessene Riesen"-Projektes gezeichnet hat. Eine fantasievoll gestaltete, aber sehr ungenaue Landkarte mit sechs Kreuzen – eins für jeden Riesen.
    "Mal sehen. Ich glaube, wir müssen weiter geradeaus. Der Strand müsste in dieser Richtung liegen."
    Maria wohnt heute mit ihrer Familie in Kopenhagen. Aufgewachsen ist sie hier, im Vestegnen. Aber so weit abseits der ausgetretenen Pfade – auf einem kleinen asphaltierten Weg zwischen Strand, Wiese und Wald – war sie zuvor noch nie.
    "Wenn man hier lang geht, sieht man ja, dass Vestegnen viel mehr ist als nur ein Ghetto, was aber die wenigsten wissen. Ich selbst komme auch viel zu selten an diese Orte. Vestegnen hat ja einen schlechten Ruf. Vor vielen Jahre wurden hier diese Wohnkomplexe gebaut, es wurde eine ziemlich harte Gegend. Gerade deswegen ist es gut zu sehen, dass es hier auch diese schönen Ecken gibt und nicht nur das, was man so hört."

    Marias Sohn hat den Holzriesen entdeckt und läuft aufgeregt zu ihm unter die Brücke. Dort sitzt er, den Mund weit aufgerissen, mit Strubbelhaaren aus dünnen Ästen, und hält sich mit seiner riesigen Hand am Brückengeländer fest. "Oskar unter der Brücke" ist, genau wie alle Skulpturen des Künstlers Thomas Dambo, aus recycelten Materialien gebaut. Die Riesen, die ein bisschen an die Monster aus dem Kinderbuch "Wo die wilden Kerle wohnen" erinnern, ziehen aber nicht nur Familien mit Kindern an. Für Lynn und Barkley, ein älteres Ehepaar aus den USA, waren die Holzskulpturen ein wichtiger Programmpunkt während ihres Aufenthalts in Kopenhagen.
    Lynn: "Ich habe auf einer Kunstseite über die Riesen gelesen und fand sie sehr interessant, auch weil sie aus Recycling-Materialien gemacht sind. Es war schwierig, aber ich bin froh, dass wir wenigstens einen gefunden haben."
    Lynn und Barkley sind erschöpft, erzählen sie. Sie sind mit der S-Bahn aus Kopenhagen gekommen und haben sich die gut zwei Kilometer von der Haltestelle Ishøj bis zu Oskar durchgefragt. Ihre Pläne, heute noch weitere Riesen zu finden, haben sie mittlerweile verworfen.
    "Ich bekomme viele E-Mails von Besuchern aus anderen Ländern, die schreiben: 'In welchem Hotel sollen wir wohnen und wo sind die Skulpturen?'"
    Holzskulptur "Bakke Top Trine" des Künstlers Thomas Dambo nahe Kopenhagen
    Holzskulptur "Bakke Top Trine" des Künstlers Thomas Dambo nahe Kopenhagen (Deutschlandradio / Miriam Arndts)
    "Aus Müll ganz fantastische Dinge machen"
    Thomas Dambo sitzt im Büro über seiner Werkstatt in einem Kopenhagener Industriegebiet und grinst verschwörerisch.
    "Und dann schreibe ich zurück: 'Ich stelle nur die Schatzkarte zur Verfügung, ich möchte Ihnen das Erlebnis nicht vermiesen.' Ein großer Teil des Projektes ist es auch, den Leuten die Natur zu zeigen. Wenn sie sich verlaufen, kommen sie ja noch mehr herum in der Natur."
    Thomas Dambo arbeitet seit vielen Jahren mit großen Skulpturen, aber das "Vergessene Riesen"-Projekt ist mit Abstand sein erfolgreichstes. Medien aus aller Welt haben darüber berichtet, im Zuge dessen hat er Dutzende Auftragsangebote bekommen.
    Mittlerweile hat Thomas Dambo vier Angestellte. In seiner Werkstatt, einer alten Lagerhalle, arbeiten sie an verschiedenen neuen Projekten, bohren, sägen, messen aus. Die Regale sind gefüllt mit Holzlatten, leeren Milchkartons und anderem Krimskrams. An der Wand hängt eingerahmt eine plattgedrückte, mumifizierte Ratte. Thomas Dambo hat sie in der Lagerhalle gefunden, als er sie übernommen hat. Die tote Ratte, die zu Kunst wurde, ist ein gutes Beispiel für Dambos Philosophie:
    "Ich arbeite mit recycelten Materialien, weil ich finde, dass es Sinn ergibt, Dinge mehr als einmal zu benutzen. Ich finde es pervers, einen Regenwald auf der anderen Seite der Erde zu fällen und ihn dann nach Dänemark zu schicken, nur um daraus einen Fernsehschrank zu machen. Und wenn man den Schrank nicht mehr braucht, wirft man ihn weg, weil man keine Geduld oder nicht genug Fantasie hat, um etwas Neues daraus zu machen. Ich hoffe, dass ich den Leuten mit den 'Vergessenen Riesen' zeigen kann, dass man aus Müll ganz fantastische Dinge machen kann."
    Holzskulptur "Thomas-på-Bjerget" des Künstlers Thomas Dambo nahe Kopenhagen
    Holzskulptur "Thomas-på-Bjerget" des Künstlers Thomas Dambo nahe Kopenhagen (Deutschlandradio / Miriam Arndts)