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Smarties für die Prostata

Im Körperinneren ist es dunkel. Mehr Licht allein hilft da nicht unbedingt, denn auch die stärkste Lampe kann nicht ins Innere von Organen leuchten. Doch genau dort können Operateure am meisten falsch machen: oft liegen Tumoren neben wichtigen Adern oder Nervensträngen. Wo genau sollen sie schneiden? Zu viel Gewebe wegzunehmen kann genauso fatal sein wie zu wenig. Informatiker des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg bringen nun Licht ins Dunkel, ohne den Körper unnötig aufzuschneiden.

Von Maximilian Schönherr | 25.05.2008
    Hier unterhalten sich zwei Männer über ein Männerthema: die Früherkennung von Prostatakrebs. Die beiden kennen sich mit der Früherkennung nicht aus, aber mit der Prostata schon. Der eine leitet die Abteilung Medizinische und Biologische Informatik am Deutschen Krebsforschungszentrum in Heidelberg. Der andere ist sein Doktorand und halb so alt. Der junge Mann hat eine Technik entwickelt, mit der der Chirurg während der Operation in das Organ hineinsehen kann, bevor er es tatsächlich öffnet. Und er erprobt die Technik an dem Organ, das sich wie kein anderes versteckt, der Prostata. Gestern war das System erstmals im Einsatz. Heute wartet ein weiterer Patient. Es sieht ganz danach aus, dass diese Idee Routine wird. Und weil man dabei bunte Kügelchen auf den Organen anbringt, heißt diese Sendung:


    " Smarties für die Prostata
    Neue Navigationstechniken verändern die Chirurgie
    Von Maximilian Schönherr"

    Es ist mein zweiter Besuch bei den Heidelberger Informatikern und ihrem Chef, Hans-Peter Meinzer. Vor zwei Jahren konnte er zeigen, wie man das Innere von Organen räumlich sichtbar macht, sodass der Chirurg vor dem Eingriff weiß, wie es in der Leber, in der Niere aussieht. Das schwierigste Organ für die Visualisierung war damals die Bauchspeicheldrüse. An die Prostata wagte man sich noch gar nicht heran. Die neuen Techniken haben nun nichts mehr mit der Vorbereitung zu tun, sondern greifen direkt in die Operation ein. Meinzer:

    "Das war, sagen wir mal so: Diagnose und Operationsplanung. Jetzt sind wir in der Operationsunterstützung tätig. Der nächste logische Schritt ist, den Chirurgen dabei zu unterstützen, Objekte anzufahren, gezielt zu entfernen, eine Probe zu entnehmen oder zu zerstören."

    In Echtzeit, während der Operation?

    Meinzer:

    "Sonst nützt es ja nichts, wenn ich das so sagen darf. Natürlich muss das in Echtzeit sein, denn der Operateur ist ja auch in Echtzeit tätig, und wir können nicht nach fünf Minuten sagen: Mein lieber Freund, das war leider eine falsche Entscheidung, jetzt haben Sie den Patienten beschädigt. Wir müssen im Körper wissen, wo wir sind, also eine Echtzeit-Positionsbestimmung im Körper haben. Wenn ich das salopp sagen kann: ein GPS im Körper. Und das kann man entweder über optische Tracker machen, wenn sich die Objekte von außen ansteuern lassen, oder über elektromagnetische Tracker, und in der dritten, sozusagen raffiniertesten Stufe, über optische Tracker, die schon im Körper eingebaut worden sind."

    Wobei "Tracker" jetzt…

    Meinzer:

    "Entschuldigung, das ist der Tracker mit ‚a’, ein englischer Begriff, und bedeutet: Markierer. Wir können mit einer kleinen Anzahl von drei, vier, fünf solchen Markierern, die übrigens den Arbeitsnamen ‚Smarties’ haben, sehen, wo ein Tumor in einer Niere im Vergleich zu den Blutgefäßen und dem Nierenkelch, der den Urin entsorgt, liegt. Man muss in Objekte hinein, wo man von außen nicht sieht, wie es drinnen ausschaut. Es ist schon besonders pfiffig, ein Objekt von außen zu sehen und zusätzlich noch die innere Struktur in das Bild hineinzuspiegeln, also gleichzeitig das Äußere – das ist ja die Angriffsfläche – und das Innere – wo ich eigentlich hin will, wo ich etwas entfernen muss, und, viel schlimmer, wo es Objekte gibt, die ich auf keinen Fall berühren darf."

    Das hat man früher ‚Hellsehen’ genannt.

    Meinzer:

    "Insofern ist das Hellseherei, man sieht nämlich hell!"

    Baumhauer:

    "Wir haben hier eine Prostata liegen, und zwar aus Schaumstoff."

    Ist die so klein?

    Baumhauer:

    "Die Prostata hat bei einem normalen Mann ungefähr die Form und Größe einer Kastanie, kann aber auch die Größe eines kleinen Eis haben."

    Die grob zusammengeschnittene Oberfläche sagt schon etwas über die Wahrheit aus.

    Baumhauer:

    "Ja, die Prostata sitzt im kleinen Beckenboden, und da sind die Organe sehr stark miteinander verwachsen. Das heißt, es ist für den Chirurgen gar nicht so einfach, zu sagen: Ist dieser Teil vom Gewebe jetzt Prostata-Gewebe, oder handelt es sich um Blase oder etwas anderes? Diese Organe sind in viele Faszien eingebettet. Das sind Gewebenetze und Gewebeschichten, die das ganze umhüllen."

    Kann man denn mit einem klassischen bildgebenden Verfahren, etwa einem CT, die Grenzen des Organs überhaupt sehen?

    Baumhauer:

    "Nein, kann man leider nicht sehen."

    Meinzer:

    "Die Prostata ist ein doppelt vertracktes Objekt. Es liegt an der am schwersten zugänglichen Stelle im Körper, eben im Beckenboden. Und außerdem sind die bildgebenden Verfahren, die man normalerweise einsetzt, Ultraschall, Kernspin und Computertomografie schwierig einzusetzen, weil sich der Tumor der Prostata ‚verstecken’ kann. Das ist so, als würde ich einen schwarzen Fleck auf einer schwarzen Tafel suchen."

    Matthias Baumhauer und ich verlassen jetzt das Betonhochhaus des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg und fahren über die Autobahn eine halbe Stunde nach Heilbronn ins beschauliche Klinikum am Gesundheitsbrunnen. Dort erwartet uns der Chefarzt der Urologie. Wir werden Gast bei einer der modernsten Prostataoperationen sein – die zweite dieser Art. Die erste, gestern, hat schon ganz gut geklappt. Heilbronn ist bekannt für seine hohe Erfolgsquote bei der Prostataoperation, auch ohne High Tech aus dem Deutschen Krebsforschungszentrum. Fast alle Patienten können wenige Wochen nach dem Eingriff wieder normal pinkeln und Geschlechtsverkehr haben. Früher wurden bei der Prostata-OP häufig die dafür zuständigen Nervenstränge irreparabel beschädigt.

    Auf der Fahrt nach Heilbronn erzählt mir der Informatiker, wie er auf seine Idee, während der Operation in die Prostata hineinzusehen, kam. Ein Problem der so genannten Schlüssellochchirurgie hatte ihn darauf gebracht. Bei der Schlüssellochchirurgie, auch minimal invasive Chirurgie oder Laparaskopie genannt, schneidet der Chirurg nicht großräumig den Bauch des Patienten auf, sondern er macht in der Bauchdecke mehrere winzige Schnitte, durch die er dann an dünnen Stäben eine Kamera und seine chirurgischen Werkzeuge ins Körperinnere einführt. Diese Methode ist in der Urologie heute üblich. Sie schont den Patienten erheblich, hat aber den Nachteil, dass der Chirurg sich den künstlich aufgepumpten Bauchraum nicht direkt ansehen kann, sondern nur über einen Bildschirm am Fußende des Patienten. Bei einer offenen Operation dagegen bewegt er ganz natürlich dauernd seinen Kopf, um sich einen räumlichen Eindruck von der Lage der Organe im Bauchinneren zu machen. Bei der Schlüssellochchirurgie geht das nicht. Die Kamera liefert auf dem Monitor ein zwar buntes, sehr detailreiches, aber eben flächiges Videobild. Auf einem zweiten Monitor, erzählt Matthias Baumhauer, sieht der Chirurg ein anderes Bild, schwarzweiß, den Ultraschall. Das Ultraschallgerät befindet sich im Rektum des Patienten, also in seinem Po, und liefert sehr unscharfe so genannte Schichtbilder von der Prostata. Um sich in diese Bilder hineinzudenken und sie mit dem Videobild der Kamera zusammenzubringen, muss der Chirurg Pause machen und nachdenken.


    Baumhauer:

    "Im Videobild sieht er die Prostata vor sich. Er sieht seine Instrumente. Er sieht auch die Blase, die er vielleicht zur Seite hält. Die Prostata befindet sich im Beckenboden direkt unter der Blase. Im Ultraschallbild sieht er wiederum andere Dinge: Da sieht er im Inneren der Prostata die Harnröhre, wie sie verläuft, er sieht wichtige Blut- und Nervenstrukturen in der Nähe der Prostata. Aber er sieht in seiner eigentlichen Chirurgenansicht, mit der er arbeitet, mit dem Videobild, eben nur die Oberfläche der Prostata. Er kann nicht in die Tiefe, ins Organ-Innere gucken. Er kann auch nicht eben mal von der Seite gucken, denn die Endoskopiekamera kommt durch den Bauchnabel in die Bauchhöhle und hat da nur einen sehr eingeschränkten Bewegungsradius und Bereich, in dem das Gerät arbeiten kann."

    Matthias Baumhauers Idee besteht darin, diese beiden Bildquellen zu verbinden, indem er dem Chirurgen in die Aufnahme aus dem Bauchraum die Informationen über die Grenzen des Organs samt der so kritischen Nervenstränge und der mitten hindurch verlaufenden Harnröhre einblendet. Der Arzt muss nicht mehr zwei Bildquellen studieren, es erschließt sich alles in einer. Augmented Reality. Baumhauer:

    "‚Augmented Reality’ heißt eigentlich, man reichert eine tatsächliche Wahrnehmung an. Der Chirurg besitzt als Wahrnehmung fast ausschließlich das Videobild des Endoskops. Er hat ja seinen Tastsinn fast komplett verloren. Seine Wahrnehmung stützt sich auf dieses zweidimensionale Videobild. Wir haben aber viele andere Informationen, die wir aus anderen Bildquellen kennen. Die in Bezug zu bringen, ist die Aufgabe von ‚Augmented Reality’."

    Einfaches Überlagern des Ultraschallbilds über das Life-Video wäre ungefähr so verwirrend, wie zwei Spielfilme gleichzeitig auf einem Fernseher abzuspielen. Hier kommen die "Smarties" ins Spiel, von denen Hans-Peter Meinzer vorhin sprach, kleine Stecknadeln, die man in die Prostata steckt Davon gleich mehr. Während wir uns die grünen OP-Klamotten anziehen, inklusive Kopfbedeckung und Mundschutz, und darauf warten, dass es losgeht, wirkt Matthias Baumhauer cool.

    "Ich sitze gelassen hier, weil ich der Ingenieur bin und nicht der Chirurg, der operieren muss. Außerdem war ich schon bei relativ vielen Eingriffen dieser Art dabei. Das ist für mich langsam Routine."

    Woher wissen wir, dass der Patient einen Krebs in seiner Prostata hat?

    Baumhauer:

    "Im Regelfall läuft das heute so, dass in einer Blutuntersuchung ein erhöhter Wert eines so genannten Biomarkers festgestellt wird, der darüber Aufschluss gibt, dass bestimmte Aktivitäten in der Prostata stattfinden. Das kann einfach nur eine vergrößerte Prostata sein, die so etwas hervorruft. Es ist aber oft auch ein Anzeichen für Tumorverdacht. Wenn dieser Biomarker einen bestimmten Wert überschreitet, dann kann man mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit von einem Tumorverdacht sprechen, und dann wird die Prostata biopsiert, um zu sehen, ob sich der Tumorverdacht bestätigt."

    Biopsiert heißt?

    Baumhauer:

    "Biopsiert heißt, man entnimmt durch den Darm mit einer kleinen Nadel unter Ultraschallsteuerung Gewebeproben, kleine, kleine Zylinder an Prostatagewebe, die dann auf Krebszellen hin untersucht werden."

    Fies!

    Baumhauer:

    "Für den Mann ist es, meine ich, kein sehr angenehmer Eingriff."

    Wir sind im OP-Saal. Ein Mann, um die 60, in Vollnarkose. Bei ihm hat sich durch die Voruntersuchung der Tumorverdacht bestätigt. Er bekommt heute die Prostata entfernt. Der Anästhesist an seinem Kopfende flüstert mir zu, er habe dem Patienten zusätzlich eine Art indianisches Pfeilgift verabreicht, was seine inneren Organe lähmt und von Zuckungen abhält. Der Körper ist mit sterilen Tüchern bedeckt, nur der Bauch und der Penis liegen frei. Im Penis steckt ein Katheter. In den Bauch haben der Chefarzt und seine Assistenten sechs dünne, lange Instrumente eingeführt, das größte – die Kamera – durch den Bauchnabel. Die Ärzte bedienen sie wie Essstäbchen. Das Bild der Kamera zeigt auf einem Monitor am Fußende des Patienten das Innere des Bauchs. Da sehen alle hin. Der Chirurg arbeitet sich langsam am Darm vorbei Richtung Blase vor. Ein Medizinstudent, Tobias Simpfendörfer, bereitet die "Smarties" vor, die in Kürze in die Prostata eingestochen werden sollen.

    Simpfendörfer:

    "Im Moment hab ich diese Navigationshilfen zusammengebaut."

    Navigationshilfen ist ja ein milder Ausdruck für…

    Simpfendörfer:

    "… kleine Stecknadeln, bisschen verändert. Ich habe jetzt fünf vorbereitet, eine gelbe, zwei grüne und zwei blaue."

    Erkennen Sie als Informatiker die Prostata?

    Baumhauer:

    "Ich kann die Prostata erkennen, richtig."

    Wo ist sie denn?

    Baumhauer:

    "Sie liegt unter dem Instrument, wo gerade präpariert wird."

    Wo gerade geschnitten wird, Wo die Rauchschwaden aufsteigen?

    Baumhauer:

    "Richtig, da steigen richtig Rauchschwaden auf. Es geht jetzt darum, die Prostata freizulegen und auch die Blutzufuhr zu unterbinden, damit das Organ später dann gefahrlos entfernt werden kann."

    Für mich ist die Prostata nicht zu erkennen. Im unteren Becken ist alles super eng und verwachsen. Was ist hier Blase, was Darm, was Prostata? Wo ist oben und unten, vorn und hinten? Aber die Experten wissen, wo sie sind und haben nach einer Viertelstunde und vielen winzigen Schnitten etwas freigelegt, was wie ein Schildkrötenpanzer von oben aussieht. Die Mitte dieser Struktur, versichert mir Matthias Baumhauer, ist angeblich die Oberseite der Prostata. Wie, die Mitte? Na ja, die Mitte halt.

    Nun zieht der Chirurg eine seiner kleinen Greifzangen aus dem Bauch des Patienten heraus, lässt sich von der Assistentin eine der vorbereiteten und sterilisierten Stecknadeln geben, greift sie mit der Zange, bewegt diese wieder in den Bauchraum hinein und steckt nun die Nadel mit dem grünen Kopf in das, was angeblich die Oberseite der Prostata ist. Sein Blick ist dabei auf den Monitor gerichtet.

    Chirurg:

    "Links oben? Also hier meinst du?"

    Die Nadel ist jetzt umgeklappt, und jetzt setzen wir sie oben links ein. Da sieht man, was ein Torero für Probleme hat! Den grünen Kopf der Nadel sieht man sehr gut. Herr Baumhauer, zufrieden mit der Position?

    Baumhauer:

    "Die Position ist wunderbar."

    Und Sie hier am – wie heißt dieser Tisch?

    "Instrumentiertisch."

    Sie nehmen die zweite Nadel, die ist blau und wird oben rechts an der Prostata eingesetzt. Also, das geht innerhalb von fünf Sekunden hier vom Tisch in den Bauch hinein. Die Blaue sitzt jetzt unten links. So, die Gelbe kommt jetzt in die Mitte, schätze ich mal. Alle fünf Nadeln sitzen. Während die Chirurgen sich nun um etwas anderes, nämlich die Lymphknoten im unteren Bauchraum kümmern und Proben entnehmen, beginnt die Arbeit für den Medizinstudenten am Rechner. Er drückt zunächst einen Knopf, der eine neue Serie von Schichtbildern des Ultraschallgeräts im Rektum des Patienten aufnehmen lässt. In diesen Aufnahmen ist der Rand der Prostata und der Harnleiter zu sehen. Der Krebs bleibt unsichtbar. Simpfendörfer:

    "Ich markiere hier nur die Oberfläche der Prostata, und daraus errechnet der Computer dann ein 3D-Modell."

    Die Oberfläche haben Sie gerade anhand des Ultraschalls bekommen?

    Simpfendörfer:

    "Genau, ich erkenne, weil das ein tolles Ultraschallgerät ist, genau die Übergänge von Prostata zu umliegendem Gewebe. Die Prostata ist dunkler."

    Und der schwarze Punkt in der Mitte?

    Simpfendörfer:

    "Das ist die Harnröhre. Wir gucken da sagittal drauf."

    Das 3D-Modell der Prostata sieht wie ein Drahtgitter aus. Tobias Simpfendörfer kann es mit der Computermaus drehen, wie er will, und auch heranzoomen. Es wäre Gold wert, wenn man das 3D-Bild der Prostata dieses individuellen Patienten nun dem Chirurgen, der ja die Grenzen des Organs nicht sehen kann, einblenden könnte, bevor er schneidet. Das genau wird jetzt gleich passieren. Im Moment geht es noch nicht, denn woher soll der Medizinstudent wissen, wie er dem Chirurgen das 3D-Bild aus seinem Computer so hindreht, dass es mit dem Video aus dem Bauchinneren genau zusammenpasst? Und wie groß er es ihm einblenden soll?

    Um das Computerbild mit dem Realbild der Endoskopiekamera exakt zusammenzubringen, muss der Rechner genau wissen, wo sich die Kamera befindet und in welche Richtung sie guckt. Hier kommen jetzt die Smarties, die kleinen Nadelköpfe, die in dem Organ stecken, ins Spiel. Die Kamera sieht, je nachdem, wo sie sich gerade befindet, mal alle fünf, manchmal nur zwei oder drei; mal einen blauen, einen grünen, und links den gelben Nadelkopf; mal den gelben oben rechts, drunter zwei grüne. Immer in verschiedenen Winkeln zueinander.

    Der Computer greift sich diese Informationen nun aus dem Video ab und dreht entsprechend das räumliche Modell der Prostata so hin, dass es passt. Tobias Simpfendörfer mischt die beiden Bildquellen, und, der ganze OP-Saal atmet auf, wir sehen das Computerbild in das Endoskopie-Video hellgrün, halbdurchsichtig eingeblendet. Wir sehen, während sich die Endoskopiekamera bewegt, ein Phantom des Organs mit seinen echten Grenzen hindurchscheinen, und mitten drin, in orange dargestellt, die Harnröhre. Jetzt kann der Chirurg genau um den Rand herum schneiden und das Organ sicher entfernen, ohne Nervenstränge zu beschädigen. Die Überlagerung des Bilds funktioniert in Echtzeit. Nur bei schnellen Bewegungen der Endoskopiekamera, oder wenn nur noch zwei Markierungsköpfe zu sehen sind, fängt die 3D-Grafik kurzzeitig an, über dem Realbild zu schwimmen, bis sie dann wieder genau weiß, wo sie ist.


    Inzwischen ist der Chef der Urologie eingetroffen, Jens Rassweiler, einer der gefragtesten Chirurgen auf diesem Gebiet in Europa. Er wird die Operation zu Ende führen. Rassweiler liebt Computer und regt noch einige Feinabstimmungen an. Rassweiler:

    "Da sind die Strukturen so nah beieinander, dass es wirklich Millimeterarbeit ist. Und man möchte dann beim Pathologen nicht den so genannten positiven Rand haben."

    Also ein Organ entnehmen, wo man den Krebs nicht ganz entfernt hat und eigentlich hätte weiträumiger schneiden müssen.

    Rassweiler:

    "Das ist jetzt die spannendste Phase der ganzen Operation. Hier laufen die Potenznerven, und auch, Sie sehen das hier gut durchblutet, die Nerven für den Erhalt der Funktion des Schließmuskels. Und das ist für den Patienten ja eine der wichtigsten Sachen. Wasser halten möchte jeder können, und das geht nur, wenn man diese Schichten sauber hat. Hier sehen Sie den Samenhügel, und das ist sozusagen mein Endpunkt."

    Baumhauer:

    "Also, diese kleinen Navigationshilfen haben den großen Vorteil, dass sie sich mit dem Organ mitbewegen. Gerade bei den Organen des Rumpfbereichs des Körpers gibt es Bewegungen aufgrund der Atmung und des Herzschlags und der chirurgischen Manipulation. Und die Navigationshilfen sind eine elegante Methode, das Problem systemeigen zu kompensieren. Bewegen sich die Organe, dann bewegen sich die Navigationshilfen."

    Wenig später ist die Prostata losgelöst. Jens Rassweiler packt sie mit seinen Greifinstrumenten im Bauchinnenraum in eine Plastiktüte und holt sie über das Loch im Bauchnabel heraus. Die Nadeln stecken noch alle drin. Wir dürfen das warme Organ alle mal durch die Tüte anfassen, aus, so Rassweiler, pädagogischen Gründen.

    Simpfendörfer:

    "Ich halte eine kastaniengroße Prostata in der Hand. Fühlt sich sehr weich an."

    Eine Viertelstunde später hat der Chirurg die Harnröhre verlängert, sie mit kunstvollen Knoten an die Blase angeschlossen und auf Druckfestigkeit getestet. Die Assistenzärzte aus aller Welt – hier in Heilbronn wird international operiert – vernähen die kleinen Schnitte auf der Bauchdecke. Dann wird der Patient in den Aufwachraum geschoben, der OP für den nächsten Patienten vorbereitet, der ohne 3D-Visualisierung auskommen muss. Natürlich wäre die Operation auch ohne die "Smarties" von Matthias Baumhauer erfolgreich verlaufen. Seine Methode wird in Zukunft vor allem Chirurgen Sicherheit geben, die diese und andere heikle Operationen nicht täglich durchführen, wie die Abteilung von Jens Rassweiler.

    Nachbesprechung in Rassweilers Büro. Zwischen der renommierten, kleinen Abteilung für Urologie in Heilbronn und dem Deutschen Krebsforschungszentrum Heidelberg gibt es enge Verbindungen. Rassweiler:

    "Ich hab ja schon mit vielen Bereichen zu tun gehabt. Zum Beispiel haben wir hier in Heilbronn die medizinische Informatik, mit der man eigentlich zusammenarbeiten könnte, aber man merkt, das Verständnis ist nicht ganz so, während es hier einen direkten, fast nahtlosen Übergang gibt zwischen dem Techniker, Informatiker, Physiker und letztendlich dem Mediziner. Und das macht das Arbeiten fruchtbar, leicht und sehr erfolgreich."

    Für den Urologen ist die Visualisierung der Prostatagrenzen nur Vorspiel. Ihn interessiert es, die Tumoren einzublenden. Bei der Prostata geht das noch nicht, weil das Gewebe zu dicht und undurchsichtig ist, um den Tumor sichtbar zu machen. Bei der Niere aber ist er sichtbar, und es lassen sich auf der Nierenoberfläche prima Nadeln anbringen. Rassweiler:

    "Die Niere ist ja bedeckt mit unterschiedlichen Schichten, also zum Beispiel mit dem Nierenfett, und der Tumor sitzt drunter. Sich das dreidimensional zu überlegen, ist nicht so einfach. Und da freu’ ich mich sehr darüber, dass ich interoperativ die Zuordnung habe, wo der Tumor liegt. Hat den Vorteil, dass ich dann ganz gezielt nur dort aufschneiden muss, wo ich den Tumor erwarte, und nicht die ganze Niere freilegen muss, um dann zu gucken, irgendwo da ist es."

    So wird sich künftig in vielen Fällen das Entfernen der gesamten Niere vermeiden lassen. Baumhauer:

    "Unsere Abteilung kommt ja grundsätzlich aus der Richtung Bildverarbeitung, und da liegen auch die Kernkompetenzen der Abteilung, das heißt, die Verarbeitung der Ultraschallbilder auf schnelle Weise in kürzester Zeit im OP-Saal, das Erkennen der Navigationshilfen, das Erkennen der Organgrenzen im Ultraschall. Das sind alles Verfahren, die hier in unserer Abteilung mit viel Aufwand entwickelt wurden."

    Die Königsdisziplin, wo die Navigationshilfen von Matthias Baumhauer einmal zum Einsatz kommen könnten und woran Kollegen in München anfangen zu arbeiten, ist die Herz-OP. Baumhauer:

    "Beim Herzen ist die langfristige Idee, dass der Chirurg, wenn er an einem schlagenden Herzen arbeitet – das ist natürlich immer sehr gefährlich –, dass der Chirurg irgendwann mal in mittelfristiger bis ferner Zukunft an einer Konsole arbeitet, wo das Herz für ihn nicht schlägt, in seiner Sicht auf die Dinge, und der Roboter, der Telemanipulator, der dazwischen geschaltet ist, diese Herzschlag-Bewegung dann automatisch ausführt, das Instrument nachführt und im richtigen Moment wieder wegzieht. Das wäre die langfristige Überlegung bei der Herzchirurgie."

    Und die Markierungspunkte sind da aus demselben Grund wie Ihre?

    Baumhauer:

    "Die Markierungspunkte aus demselben Grund wie meine, einfach, um festzustellen, wohin bewegt sich das Organ gerade, und wo befindet es sich?"


    Wir sind wieder zurück in Heidelberg in der Abteilung für Medizinische und Biologische Informatik am Deutschen Krebsforschungszentrum. Der Leiter, Hans Peter Meinzer, fragt uns, wie es war. Matthias Baumhauer erzählt, dass es zu lang gedauert hat, die Nadeln aus dem Ultraschallbild den echten Nadeln zuzuordnen. Meinzer meint: Nicht so schlimm, lief doch prima fürs zweite Mal!

    Es gibt hier oben im 8. Stock zwei weitere Doktoranden, die die Navigation im Körperinneren in naher Zukunft erleichtern werden. So hat der Informatiker Ingmar Wegner ein Verfahren entwickelt, bei dem das Herumfahren in den feinen Kanälen der Lunge, den Bronchien möglich wird, unter anderem um diese besonders schwer zugänglichen Krebsvarianten am Lungenrand zu erreichen, die wir den neuen Filterzigaretten zu verdanken haben. Erprobt hat Ingmar Wegner das System erfolgreich an Schweinelungen vom Schlachter. Er beatmet sie künstlich mit einem Blasebalg. Dieses künstliche Zwerchfell finden wir auch nebenan bei seiner Kollegin Lena Maier-Hein.

    Das Thema ihrer Doktorarbeit hängt mit einem exakten Stich in ein Organ zusammen, etwa in die Leber. Angenommen, in der Leber ist ein kleiner Tumor, den hat man als dunklen Punkt im CT gesehen. Früher hätte man den Bauch großflächig geöffnet und einen Teil der Leber entfernt. Heute ist der Eingriff minimal. Die Ärzte – das müssen nicht Chirurgen sein, das können auch speziell ausgebildete Radiologen tun – fahren mit einem gezielten Stich durch die Bauchdecke diesen Tumor an und versuchen, ihn mit der Spitze der Nadel zu zerstrahlen. Damit das klappt und die Sonde nicht drei Zentimeter zu tief und einen Zentimeter zu weit links landet, muss der Arzt zunächst das stricknadelgroße Instrument auf der Bauchdecke aufsetzen – wo aber genau? Dann muss er in einem bestimmten Winkel einstechen, durch die Bauchdecke und gleich danach durch die obere Schicht der Leber – in welchem Winkel genau? Und schließlich muss er irgendwann stoppen – aber wann; wie tief liegt der Tumor in dem Organ?

    Das wäre schon schwierig, wenn sich das Organ nicht bewegen würde, aber das Zwerchfell bewegt Leber und Niere mehrere Zentimeter auf und ab, während der Patient atmet. In der Praxis erfordert das Verfahren bisher von den Ärzten weniger operatives Geschick als vor allem genaue Winkelberechnung. Maier-Hein:

    "Es ist ja so, dass er nur die 2D-Information hat. Er muss im Kopf zusammensetzen, wie genau die Nadel jetzt liegt. Wenn er sie nicht in einer Schicht sieht, ist das sehr kompliziert, und da gibt es auch mal kritische Fälle, wo vielleicht ein Herzbeutel oder ähnliches getroffen wird."

    Ein Herzbeutel, weil man die Oberkante der Leber verfehlt hat. Ein weiteres Problem: Während des Eingriffs müssen bislang mehrere Röntgen-Schichtaufnahmen gemacht werden, um immer wieder den Winkel der Nadel und die Eindringtiefe der Sonde zu beurteilen. Das kostet Zeit und belastet den Patienten mit Strahlung. Mit all dem räumt Lena Maier-Hein in ihrer Doktorarbeit nun auf. Sie sticht drei Löcher in den Bauch: Zwei lange Hilfsnadeln rechts und links halten das Organ räumlich quasi fest. Die dritte enthält an der Spitze die Sonde. Videokameras sehen sich die Lage dieser drei Nadeln von außen an und zeigen dem Arzt über einen Bildschirm den Weg zu Ziel, wie in einem Computerspiel.

    Wie weit ist Ihr System noch von der Praxis entfernt?

    Maier-Hein:

    "Wir haben es jetzt kürzlich am Schwein evaluiert."

    Lebendes Schwein?

    Ja, und zwar in vivo, bezüglich Genauigkeit, Strahlenbelastung und Zeit. Wir waren wesentlich genauer als es die konventionelle Methode bisher ist. Wir haben das mit einem Experten verglichen. Auch die Strahlenbelastung war viel geringer, aber, man muss zugeben, dass wir im Moment noch länger gebraucht haben, weil es ja noch ein Prototyp-System ist. Es gibt schon Firmen, die Interesse bekundet haben.

    Und wie geht’s dem Schwein heute?

    Meier-Hein:

    "Ja, das ist nicht mein Lieblingsthema. Leider sind das Tötungsversuche, aber man versucht immer, so viele Experimente wie möglich mit einem Schwein zu machen."

    Das Schwein ist nach all diesen Experimenten tot?

    Meier-Hein:

    "Ja, aber ein solches Experiment dauert auch nicht eine Stunde, sondern 16. Das heißt, wir versuchen, so viel zu machen, wie’s geht, damit es nicht unnötig sterben muss."

    Dem Institutsleiter Hans Peter Meinzer fällt das starke Interesse der Industrie an seinen Arbeiten auf. Den mittelständischen schwäbischen Betrieben war bis vor kurzem nicht klar, dass Feinmechanik in Verbindung mit Software völlig neue Märkte erschließen kann. Sie stellten bisher nur Feinmechanik her, Präzisionsbauteile für die Autoindustrie, die Raumfahrt, die Medizin. Jetzt gehen die Ingenieure und Entscheider dieser Firmen in Meinzers Institut ein und aus. Meinzer fühlt sich wohl damit, denn er braucht die Betriebe, um für seine Forschungen die Sonden, die Navigationshilfen, die kleinen Smarties mit ihren feinen Widerhaken zu bauen. Jetzt kommen sie an und entwickeln Visionen. Das hat gedauert, meint Hans Peter Meinzer.

    "Ich denke, dass wir sehr gute Ingenieure und Ideen haben und das auch beweisen können: Wir haben auch sehr viele Patente. Nur mangelt es manchmal an der Umsetzung von einer Idee in ein Produkt. Und da wird uns immer Amerika vorgehalten. Wenn man allerdings die amerikanische Statistik genau studiert, dann ist es nur ein Staat, der wirklich innovativ ist, nämlich Kalifornien, und dort nur das Silicon Valley. Der Rest ist auch nicht schlauer oder innovativer als die Bundesrepublik oder Old Europe im Allgemeinen. Ich glaube, dass in Deutschland – in ganz Deutschland – alles vorhanden ist und dass auch die Bereitschaft, innovative Ideen in Produkte umzusetzen, in den letzten zehn Jahren stark gewachsen ist. Sagen wir so: Freiwillig haben sie es nicht gemacht. Der Weltmarkt musste schon fast verloren sein, bevor da gewisse Bewegung in gewisse Herren hineinkam. Es gibt ja drei deutsche Regeln: Es war noch nie so, es war schon immer so, und: Da könnte ja jeder kommen. Und solange sich ein Geschäftsführer entlang dieser Regeln bewegt, können seine Technologie-Beauftragten reden, soviel sie wollen. Erst wenn ihnen der Weltmarkt entschwindet, werden sie aktiv. Und das ist unsere große Chance, und deswegen sind interessanter Weise zwei der drei größten Firmen bei uns, und wir dürfen mit ihnen arbeiten, was mich ganz besonders freut."


    Meinzer wird jetzt zur Prostata-Früherkennung gehen. Sein Freund in Heilbronn, der Urologiemeister Jens Rassweiler, hat das schon hinter sich. Auf meine Frage:

    Wie geht’s Ihrer Prostata?


    … hatte Rassweiler erst mal gelacht:

    "Meiner geht’s gut, muss ich sagen. Ich bin ja da einer, der schon weiß, worum es geht. Ich habe ja selber schon eine Biopsie hinter mir und stehe unter Chemoprävention, was ich eigentlich ganz gut vertrage. Mein PSA-Wert ist wieder im Normbereich."

    Sie können sich ja nicht selber operieren!

    "Das ist richtig, das ist ein kleines Problem. Aber ich hatte mich mit der Situation ja wirklich mal auseinandergesetzt und würde mich von meinem Oberarzt operieren lassen."

    Obwohl er ihn nicht in seiner Band mitspielen lässt, der Mannheim Uroband. Leadsänger: Professor Dr. med Jens Rassweiler.