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So blieb er ein Fremder

"Ich habe ein schlechtes Gedächtnis" lautet eines der "Bekenntnisse eines Bürgers" von Sándor Márai. Es ist nicht das Erkennen von Fakten, mit dem der erst zehn Jahre nach seinem Tod 1999 wieder entdeckte Schriftsteller und Publizist zu internationalem Ruhm gelangt: Es ist seine unbestechliche, fast peinigende Suche nach der Wahrheit.

Von Monika Künzel und Christian Brückner |
    Wie in der "Glut" schickt er seine Romanfiguren stets auf eine Gratwanderung der Gefühle, bei der Lüge und Verrat, Hoffnung und Enttäuschung geradezu fatal nebeneinander liegen.
    So illusionslos und resignativ seine Einblicke in das Tollhaus der Zeitläufe und des menschlichen Seins auch geraten, so unbändig glaubt dieser durch die Verfolgungen des 20. Jahrhunderts entwurzelte Europäer trotz aller persönlicher schicksalhafter Wirren an das Leben. Erst mit dem Tod seiner Frau nach sechs Jahrzehnten gemeinsamen Lebens weicht die letzte Kraft aus seiner geschundenen Seele. Christian Brückner liest in dieser Langen Nacht Prosatexte von Sándor Márai, aber auch aus dessen literarischen Reflexionen und den Tagebüchern der letzten Jahre bis zu seinem Selbstmord 1989 im kalifornischen San Diego.


    Ernö Zeltner
    "Sandor Marai. Ein Leben in Bildern"
    Piper Verlag
    Sándor Márais Biographie - ein bewegtes, ebenso erfolgreiches wie tragisches Schriftstellerleben, in dem sich das 20. Jahrhundert in seinen künstlerischen und politischen Dimensionen spiegelt. Mit zahlreichen erstmals veröffentlichten Dokumenten und Photos.
    NDR: Sandor Marai: Das Leben des ungarischen Autors

    Sándor Márai
    Tagebücher 1984-1989.
    Ausgew. u. aus d. Ungar. v. Hans Skirecki.
    Nachw. v. Ernö Zeltner. Hrsg. v. Siegfried Heinrichs.
    2002. -PIPER-

    Aus: Tagebücher
    1985 - 1989
    1 Audio-CD.
    Eine Auswahl.
    75 Min.. Gelesen v. Christian Brückner.
    parlando prosa. 2000.
    -PARLANDO EDITION CHRISTIAN BRÜCKNER-
    IM LEBEN GESCHEHEN keine "großen Dinge". Wenn wir später zurückblicken und den Augenblick suchen, als uns etwas Bestimmendes, Unumkehrbares zustieß - das "Erlebnis" oder das "Unglück", welches unser späteres Leben formte -, finden wir meistens nur solche bescheidenen Spuren, manchmal noch weniger. Eigentlich gibt es kein anderes "Erlebnis" als die Familie und keine andere "Tragödie" als den Augenblick, in dem du entscheiden musst, ob du in der Familie und ihrer großen, breitgefächerten Vielfalt, der "Klasse", der Weltanschauung, der Menschenart bleibst - oder ob du deinen eigenen Weg gehst und weißt, dass du fortan für immer allein bist, dass du frei bist, aber jedermanns Beute, und dass nur du dir selbst helfen kannst...Ich war vierzehn Jahre alt, als ich von zu Hause ausriss; danach kehrte ich nur noch zu Besuch heim, zu Feiertagen, für eine kurze Zeit; die Zeit ist ein großer Anästhesist, und zuweilen schien es schon, als wäre die Wunde völlig geheilt. Aber viel später, nach zwanzig Jahren, brach sie überraschend und "grundlos" wieder auf und schmerzte fast unerträglich; dann wurde sie wieder taub, und wir sprachen von etwas anderem. Ich möchte hier die Wahrheit schreiben. An die Wahrheit gewöhne ich mich wie der Schwerkranke an die lebensgefährliche, bittere Medizin; möglich, dass sie tötet, aber vielleicht hilft sie; im Grund genommen habe ich nichts zu verlieren. Die Wahrheit ist, dass ich wegen meines Wesens und der Wende meines Schicksals niemandem Vorwürfe machen kann.

    Sándor Márai
    Bekenntnisse eines Bürgers.
    Erinnerungen.
    Aus d. Ungar. v. Hans Skirecki. Hrsg. v. Siegfried Heinrichs.
    2000. -PIPER-

    Sándor Márai
    Himmel und Erde.
    Betrachtungen.
    Aus d. Ungar. u. mit e. Nachw. v. Ernö Zeltner.
    2002 -PIPER-

    Aber etwas habe ich in den vierzig Jahren doch erfahren: Ich lernte, dass man die Geschenke des Lebens nicht demütig, nicht ehrfurchtsvoll genug annehmen kann, und auch darauf kann gar nicht genug geachtet werden, dass man sein Herz nicht völlig, nicht uneingeschränkt den Lebenden schenkt. Wer seine Gefühle bedingungslos an die Menschen bindet, wird leiden und am Ende zugrunde gehen. Ich will nicht Gleichgültigkeit, arrogante Überlegenheit oder kalte Nüchternheit predigen. Nur eben das: Liebe, aber in Maßen. Glaub nicht denen, die die Flamme, das rücksichtslose Opfer, die totale Hingabe fordern. Sie sind Wucherer; wenn sie dich in ihre Fänge bekommen, saugen sie dir Blut und Gefühle aus, und das ist dein Ende. Freue dich über das Licht, und liebe, auch dankbar kannst du sein, doch etwas behalt für dich. Man muss darüber nicht groß reden. Lächeln soll man, sich über das Leben freuen, genau so viel geben, wie man bekommt. Um nichts mehr, verstehst du?

    Ich dachte gar nicht daran, "Karriere" zu machen, und ich glaube, ich hielt nicht viel von meiner Verbindung zu dieser "Provinzzeitung". Ich veröffentlichte in der "Frankfurter Zeitung" die gleichen Artikel und Feuilletons, die ich später einem Kaschauer Blatt gab, und was man in Kaschau zu meinen Versuchen sagte, war mir mindestens so wichtig wie die Meinung der Frankfurter Kritiker und die Tatsache, dass die große Zeitung sonntags meine Beiträge an die Spitze des Feuilletonteils stellte. In meinem Leben ergab sich alles so. Wenn ich zur "Frankfurter Zeitung" sehr "gewollt" hätte, wäre ich vielleicht abgeblitzt. Vom Schreiben, vom Gewicht der Wörter und von ihren Folgen hatte ich keine Ahnung. Ich schrieb, wie ein junger Mensch atmet, aus voller Lunge, mit einer barbarischen Vergnügtheit. Ich wusste nicht, dass überall in der Welt ausgebuffte alte Schriftsteller hockten und sonst etwas dafür gegeben hätten, dass das Blatt sie druckte; ich sah im Schreiben für eine große Zeitung eher nur einen Zeitvertreib, der fürstlich honoriert wurde. Später lernte ich, dass es nicht lohnte, Geld von ihnen zu verlangen, ich fuhr besser, wenn ich die Summe des Honorars ihnen überließ. Als ich Frankfurt verlassen hatte, schickten sie mich durch einen einfachen Anruf in Paris nach London zu irgendeiner politischen Konferenz, nach Genf, weil sie "bunte" politische Bilder wollten, in italienische oder belgische Provinzstädte, wo "etwas los war", oder auf eine mehrmonatige Orientreise, deren gesamte Kosten sie trugen...Ich lernte, dass es nicht lohnte, der "Frankfurter Zeitung" eine Kostenrechnung zu schicken, niemals konnte ich so viel verlangen, wie mir die Zeitung freiwillig anwies.

    Das Blatt war ein Meisterwerk, ein so sensibler Organismus wie der diplomatische Apparat eines kleinen Staates. Und in der Tat, seine Diplomaten saßen in New York, London und Paris, angesehene Redaktionen mit Botschaftern und Attachés, und alle Depeschen, ausländischen Rezensionen oder Londoner Modebriefe hatten ihre Folgen. Das Blatt registrierte die Erscheinungen, aber was noch wichtiger und aufregender war, es bestimmte ihre Bedeutung und wies jedem aktuellen Ereignis seinen geistes- oder kulturgeschichtlichen Platz zu. Es hieß, die deutsche Schwerindustrie finanziere das Blatt; doch diese Meldung erwies sich damals, zu Beginn der zwanziger Jahre, als unwahr. Später legte der größte deutsche Industriekonzern tatsächlich die Hand darauf, noch später das Dritte Reich, allerdings sehr lange sehr vorsichtig; die "Frankfurter Zeitung" war vielleicht die einzige im Reich, die von den Nazis vorerst nicht "gleichgeschaltet" wurde. Sie lebte von ihrer Autorität , ihrer geistigen Überlegenheit und ihrer Unabhängigkeit, und daneben ging es in ihrem Frankfurter Stammhaus geradezu familiär her; Henry Simon achtete auf jede Zeile, und mochte eine Meldung in einer der täglich drei Ausgaben noch so unbedeutend sein, er hatte sie vorher gelesen. Wer erst einmal aufgenommen war, wurde wie ein Familienmitglied behandelt. Wem sie vertrauten, der konnte sich auf sie verlassen. Allerdings musste man für jede Zeile, die in dieser Zeitung erschien, hart arbeiten; Nachlässigkeit und Ungenauigkeit wurden nicht verziehen. Mit der großen Zeitung stand ich jahrelang in Verbindung. Eines Tages endete diese von selbst, so merkwürdig und ohne Grund, wie sie begonnen hatte. Da lebte ich bereits seit Jahren in Paris; ich tat viel für sie und vielerlei. Eines Tages begannen sie, mir meine Artikel zurückzuschicken. Einer erschien, drei bekam ich zurück. Ich verstand nicht, warum. Die Artikel waren nicht schlechter und nicht dümmer als meine früheren. "Dies hatten wir von Ihnen eigentlich nicht erwartet", schrieben sie. Ich dachte nach und verstand. Als ich zu ihnen gestoßen war, war ich gelehrig und geschäftig. Und als ich allmählich meine eigene Stimme fand, wurde ihnen alles, was ich schrieb, immer fremder. Ich schrieb auf deutsch, aber in fremder Mentalität. Hin und wieder druckten sie mich noch, aus Höflichkeit, nur so, wie man eine verlassene Geliebte grüßt.

    Ich könnte mir denken, dass man eines Tages antworten muss. Der gestrenge Richter wird sagen: "Lüge nicht. Es stimmt nicht, dass alles Bitternis war, Enttäuschung und Hoffnungslosigkeit. Glücklich warst du auch. Wenn auch nicht oft, so doch für einen Augenblick. Nenne mir diesen Augenblick." Was kann ich antworten? Ich werde das Haupt senken, mich hinterm Ohr kratzen und verwirrt vor mich hinsehen. Und meine Antwort: "Ja, ich war auch glücklich. Ganz sicher war ich auch glücklich. Ich erinnere mich an das Glück, habe seinen Geschmack sogar hier auf der Zunge, den Duft in der Nase, in den Nervenbahnen sine Spannung. Aber wann war es? In der Kindheit?...Nein, die Kindheit war nicht gut, man hat mir viel Leid zugefügt. Im Jünglings-, im Mannesalter?...Die düsteren Erinnerungen sind stärker, decken alles zu. Dennoch, wann bin ich denn dann glücklich gewesen?...Jetzt hab' ich es: in dem Augenblick, der mir so gleichgültig war, das ich mich nicht einmal mehr daran erinnern kann.

    DAS LEBEN wird in Augenblicken gelenkt, wenn wir neben Argument, Einsicht und "nüchternen Verstand" einem inneren Widerstand nachgeben: Der Mensch stolpert, irrt und sucht unwissend seinen weg, und nie weiß er genau, was er machen müsste, aber manchmal klipp und klar, was er nicht machen darf. Wir können unser Tun nicht berechnen; aber es gibt ein passives Tun, wenn wir das sichere Gefühl haben, dass etwas zu verweigern, irgendwo nicht hinzugehen, etwas abzulehnen, an einem Ort zu bleiben und sich nicht zu rühren einem Handeln gleichkommt. Ein gerader Weg führte heimwärts; ich klammerte mich mit beiden Händen an alles Erreichbare, um nicht weggerissen zu werden von der plötzlichen Panik, dem persönlichen Orkan, dem vom "nüchternen Verstand" gerechtfertigten Kuschen aus Schwäche und Feigheit; ich musste draußen bleiben, in Florenz oder anderswo, meine Zeit, heimzufahren, war noch nicht gekommen. Die Welt stand nach allen Seiten offen; zwar hatte ich meistens nicht das Geld für die Straßenbahn, aber vor dem Geld hatte ich keine Angst, immer noch nicht, ich konnte es einfach nicht als Hindernis ansehen, es gehörte nicht zu den Bedingungen, denen ich mein Tun anpasste. Ich wusste, dass Freiheit eine innere Bedingung ist, eine Fähigkeit der Seele; auch arm kann man grenzenlos frei und unabhängig sein, und später, unter glücklicheren Umständen, vermochte ich mich mit Geld und Reisepass in der Tasche nicht mehr wegzurühren; ich war nicht mehr in Schwung, unsichtbare Gewichte hielten mich fest, geheimnisvolle Fesseln waren mir angelegt...

    Weitere Werke von Sándor Márai:

    Aus: Christian Brückner liest "Die Glut"
    Erscheinen bei Parlando Prosa - Edition Christian Brückner
    4 Cassetten

    "Die Glut" ist auch erschienen als Hörbeispielbearbeitung:
    Sándor Márai
    Die Glut, 1 Cassette.
    Eine Aufnahme d. Saarländischen Rundfunks, Saarbrücken,
    84 Min.. Hörspielbearb. v. Sebastian Goy;
    Sprecher: Thomas Holtzmann, Rolf Boysen, Doris Schade u. a.; Regie: Walter Adler.
    2000. -HÖRBUCH HAMBURG-

    Sándor Márai
    Die Glut
    Roman.
    Piper - Ersch. 1942 unter dem Titel "A gyertyák csonkig égnek""
    Deutsch 1999 von Christina Viragh
    Leseproben finden Sie unter:
    Leselust: Sándor Márai - Die Glut

    Im Düsseldorfer Schauspielhaus steht zur Zeit "Die Glut" auf dem Spielplan: Düsseldorfer Schauspielhaus: Die Glut
    Sándor Márai
    Das Vermächtnis der Eszter
    Roman.
    Piper - Ersch. 1939 unter dem Titel "Eszter hayatéka"
    Deutsch 2000 von Christina Viragh
    mehr dazu:
    Leselust: Sándor Márai - Das Vermächtnis der Eszter

    Sándor Márai
    Die Gräfin von Parma.
    Roman.
    Aus d. Ungar. v. Renee von Stipsicz-Gariboldi.
    2002. -PIPER-

    Sándor Márai
    Die jungen Rebellen.
    Roman. Aus d. Ungar. v. Ernö Zeltner.
    2001 -PIPER-
    Sándor Márai
    Der Wind kommt vom Westen.
    Amerikanische Reisebilder.
    2002. -PIPER-
    Sándor Márai
    Die Nacht vor der Scheidung.
    Roman.
    Aus d. Ungar. v. Margit Ban
    2004 Piper
    ISBN 3-492-04287-2 | KNV-Titelnr.: 12398008
    Sándor Márai
    Die Nacht vor der Scheidung
    5 Audio-CDs.
    CD
    Ungekürzte Lesung. 377 Min.. Gelesen v. Charles Brauer
    2004 Hörbuch Hamburg
    Sándor Márai
    Reise im Mondlicht
    5 Audio-CDs.
    von Antal Szerb
    CD
    gekürzte Lesung. 398 Min.. Sprecher: Heikko Deutschmann
    2004 Hörbuch Hamburg