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"So etwas nennt man wohl Entspannungskitsch"

Sie hat Geschichte geschrieben - ZEIT-Geschichte und Zeitungs-Geschichte. Und nicht zu vergessen: Bestseller über ihre Heimat, die sie 1944 verlassen musste und der sie bis zu ihrem Lebensende treu geblieben ist: Ostpreußen. Marion Gräfin Dönhoff hatte ein Herz für Ostpreußen und Königsberg. Für viele war die langjährige Herausgeberin der ZEIT so etwas wie der Leitstern der seriösen deutschen Nachkriegs-Publizistik. Helmut Schmidt nannte sie schlicht eine "wegweisende Mitbürgerin".

Eine Rezension von Norbert Seitz | 29.09.2008
    Ein säkularer Geburtstag wirft seine literarischen Schatten voraus: Zum 100. von Marion Gräfin Dönhoff im nächsten Jahr soll der 2002 im biblischen Alter von 93 Jahren verstorbenen Pionierin einer freiheitlichen Nachkriegspublizistik endlich das wohlverdiente biografische Denkmal gesetzt werden. Dies umso mehr, als es an der Hamburger Elbchaussee einst erhebliches Naserümpfen gegeben hatte -über das Gesprächsbuch von Alice Schwarzer und ein paar Despektierlichkeiten in den Memoiren des Ex-Feuilletonchefs Fritz J. Raddatz.

    Mit Klaus Harpprecht als dem auserwählten Biografen ging man dabei kein größeres Risiko ein. Denn dessen Spezialität ist bekanntermaßen nicht der analytische Scharfsinn, sondern die flockige Trivialpsychologie, eine Mischung aus wortreich verhülltem Ressentiment, spekulativen Anspielungen und schwäbischer Bauernschläue.

    Dabei fällt zunächst auf, dass die Neugier des Autors in der ersten Lebenshälfte der jungen Gräfin aus dem ostpreußischen Friedrichstein stets ins Leere stößt.

    Wo die Donhöff eisern schweigt, gerät Harpprecht ins Fabulieren. Mit einer reichlich kragenverschwitzten Charmeoffensive bugsiert er die Leser durch die hermetische Welt der reservierten Gräfin.

    "Mit welchen Noten sie das Examen passierte, wissen wir nicht. Sie lagen wohl, wir dürfen es annehmen, über dem Durchschnitt."

    Ihrem ersten Streifzug durch die USA reicht er einen kleinen Baedeker nach, bis er resigniert feststellen muss:

    "Es ist merkwürdig, dass sie die frühe Entdeckung Amerikas in ihren Büchern und Artikeln mit keinem Satz erwähnt."

    Nirgendwo lässt sich auch nachlesen, "welche Eindrücke sie vom Fest der Völker "während der Olympischen Spiele in Berlin 1936" gewann.

    Auch beim Thema Reichspogromnacht tappt der Autor wortreich im Dunkeln:

    "Wir wissen nicht, wo sich Marion am 9. November 1938 aufgehalten hat."

    Ebenso kommt es dem Schreiber "seltsam" vor, dass sie die erste Berührung und die späteren Kontakte (zu den beiden Stauffenbergs) niemals genau geschildert hat.

    Und selbst für den magischen 20. Juli gilt:

    "Wir wissen nicht, wie sie den Tag erlebte, dem auch sie so lange entgegengefiebert, entgegengezittert hatte. Sie hat es nirgendwo aufgeschrieben, sie hat es niemandem erzählt."

    Harpprecht findet bei ihr auch keinen Kommentar zum braunen Engagement und zur NSDAP-Mitgliedschaft ihrer Brüder Dieter und Christoph:

    "Ihr Schweigen darüber bleibt auch dem sympathisierend-kritischen Chronisten ein Rätsel, für das weder ihre Freunde noch die vertrauten Verwandten eine schlüssige Erklärung zu finden scheinen."

    Doch der Autor wedelt sofort mit dem Persilschein, sei doch das schwierige Kapitel von ihr ebenso hartnäckig beschwiegen worden - "wie in Millionen deutscher Normal-Familien auch."
    Hier wird gleichsam die Volksvariante der gängigen Reinwaschung, von allem nichts gewusst zu haben, in den Adelsstand erhoben.

    "Geschwisterliche Loyalität" eine "unverbrüchliche Solidarität für die Mitglieder ihrer Familie" hätten jeden "Widerstand der Gesinnung" besiegt.

    Geradezu skandalös ist in diesem Zusammenhang jene Entgleisung:

    "Sie wollte sich das "Opfer ihrer Freunde" nicht von pedantischen Kleinhistorikern in Grund und Boden argumentieren lassen."

    Gilt danach als "pedantisch" und "klein", wer aus Profession zum genaueren Hinschauen verpflichtet ist? Sollen hier neue Tabuschranken und Täterhierarchien aufgebaut werden?

    Nicht der "Hochmut der Spätgeborenen", wie Harpprecht meint, sondern sein eigener und der seiner teuren hanseatischen Freunde kommt hier zum Ausdruck, sich Nachforschungen über die erlauchte Gräfin und ihre hochwohlgeborenen Freunde zu verbitten.

    Ebenso fragwürdig legt sich der Autor gegen Historiker ins Zeug, die Marion Dönhoff nachzuweisen versuchten, dass für sie die "Endlösung", von der sie über ihre Nazi-Brüder hätte erfahren können, kein entscheidendes Widerstandsmotiv gewesen sei:

    "Wie konnten sie von dem reden, das zu schrecklich war, um in das tägliche Bewusstsein Einlass zu finden? Damals wurde, auch unter Freunden, von dem fast Unaussprechlichen in der Tat nur geflüstert."

    Solche Exkulpationsromantik bewegt sich intellektuell auf dem Verschleierungsniveau der frühen 50er Jahre.

    Doch damit nicht genug: Denn Harpprecht holt auch noch zur Attacke gegen jene gewissenhaften Geschichtsarbeiter an einer inzwischen weitgehend geglückten "Erinnerungskultur" aus.

    "Ist die nazistische Vernichtungsmaschinerie nicht längst in der sogenannten "Erinnerungskultur" mythisiert und als Studienobjekt einer akademischen Industrie ins Abstrakte befördert und damit in gewisser Weise neutralisiert worden?"
    Mit solch schrillen Tönen wird der eigentlich Skandal der liberalen Nachkriegspublizistik nochmals unfreiwillig auf den Punkt gebracht: dass nämlich deren erste Protagonistin mit ihrer Verstocktheit relativ unbehelligt durch die Jahrzehnte einer kontinuierlich gewachsenen Geschichtsaufarbeitung kommen konnte.

    Bliebe das Thema Liebe. Es kommt auf Seite 478.

    " Nie gab sie zu erkennen, ob sie einem ihrer Bewunderer die Tür zur völligen Privatheit geöffnet hat."

    Hohngelächter dürfte auch der Satz hervorrufen:

    "Die Männer, die sie liebte und die sie als Partner akzeptiert hätte, waren nicht erreichbar."

    Am Ende scheint sich der Autor bei der Würdigung von Dönhoffs imposantem Aufstieg zur "bedeutendsten deutschen Journalistin der Nachkriegszeit" selber im Wege zu stehen. So liefert er sich noch posthume Rechthaberduelle mit der Verstorbenen, zum Beispiel in der klassischen Auseinandersetzung aus den frühen 60ern zwischen Gaullisten und Atlantikern.

    Und zur Ostpolitik bekundet Brandts früherer Redenschreiber der gebürtigen Ostpreußin mit Blick auf den deutsch-polnischen Grenzvertrag:

    "In gewisser Hinsicht wurde Marion Dönhoff durch die schmerzliche "Anerkennung der Realitäten" ihre Heimat wiedergeschenkt."

    So etwas nennt man wohl Entspannungskitsch.

    "Zwei große Ziele" werden der Publizistin attestiert: Sie habe die Leserschaft für die Ostverträge gewonnen und die Tat des 20. Juli im "Gründungsmythos der Bundesrepublik verankert".

    "Sie hatte, mit anderen Worten, wesentlich an einer Veränderung des Geschichtsbewusstseins mitgewirkt."

    Doch von einer "Tochter der Aufklärung", wie er sie nennt, sollte man wohl eher mythenauflösende Taten als irgendwelche "Mythenverankerungen" erwarten dürfen.

    Sie sei keine "geniale Autorin" gewesen, bemerkt Schönschreiber Harpprecht. Zumindest besaß die Gräfin eine Eigenschaft, wovon ihr Biograf zeitlebens wohl nur träumen konnte, nämlich dass ihr die Kunst des Blendens völlig fremd war.

    Klaus Harpprechts Dönhoff-Biografie liefert ein weiteres fragwürdiges Dokument aus jener "Flakhelfergeneration", die uns neben spät gelüfteten NS-Mitglied-schaften offenbar auch mit neuen Geschichtstabus eine letzte Aufmerksamkeit abringen möchte.