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So richtig von gestern

Der spanische Regisseur Calixto Bieito ist berüchtigt für seine unberechenbaren Inszenierungen. Umso erstaunlicher, dass ihm bei seiner Interpretation von "Leonce und Lena" so gar nichts Überraschendes einfallen wollte.

Von Rosemarie Bölts | 24.06.2013
    Soviel steht nun fest: Calixto Bieito hat einen Ruf zu verlieren. Der spanische Regisseur, Enfant terrible auf deutschen Opern- und Theaterbühnen, gilt gemeinhin als skandalös, unberechenbar, gewalttätig, für jede - böse - Überraschung gut. Frei nach dem Motto: Berserker meets Klassiker, gern laut, lieber: obszön, prügelt Bieito noch jeden Altvorderen, bis nichts mehr von ihm übrig bleibt.

    Diesmal war Georg Büchner dran. Ja, genau, der Geniale, Sprachpoet, Feinsinnig-
    Kraftvolle, viel zu jung Gestorbene, der schon mit 23 so viel Furor besaß, dass er sogar aus seiner einzigen Komödie eine flirrende Politsatire zwischen "Leonce", dem Prinzen aus dem Popo-Land, "und Lena", der Prinzessin aus dem Pipi-Land, schuf.

    Vergiss es. Hier ist jetzt, und jetzt inszeniert Bieito, und der nimmt sich - mit seinem Dramaturgen Marc Rosich - "Fragmente" aus Büchners Werk vor: Dantons Tod, Lenz, einen Essay über den Selbstmord, eine medizinische Abhandlung über den Versuch, 30 verschluckte Stecknadeln wieder herauszuoperieren, um die Protagonisten leitmotivisch den Überdruss am Leben zitieren zu lassen. Weshalb Regisseur und Dramaturg ja wohl auch den Zusatz "Nacht der Seele" an den Titel gehängt haben, und die Bühne farblich passend mit einer schwarzen Plastikplane, geröllig den Boden bedeckend, und einer an Schnüren aufgehängten, schwarzen Plastikplane als wabernder Berglandschaft apokalyptische Stimmung unter dem gleißenden Mondlicht verbreiten soll. Damit es auch die letzte Zuschauerreihe mitkriegt:

    "Was die Leute nicht alles aus Langeweile treiben! Sie studieren aus Langeweile, sie beten aus Langeweile, sie verlieben, verheiraten und vermehren sich aus Langeweile und sterben endlich aus Langeweile, und - und das ist der Humor davon - alles mit den wichtigsten Gesichtern, ohn zu merken, warum, und meinen weiß Gott was dazu."

    200 Jahre her, der Büchner, weshalb man, bevor sich der Vorhang im Münchner
    Residenztheater hebt, die Erklärung "zum Stück" durchlesen sollte, um eine Ahnung davon zu bekommen, was eigentlich beabsichtigt wurde. Oder? Da ist dann unter anderem von einer "Neuerfindung von Leonce und Lena" die Rede, von Bieitos "theatralischer Praxis, die auf der gewaltsamen Verbindung von Texten und Musik beruht", die "die bloße visuelle und traumartige Macht der hervorgerufenen Bilder darstellt". Das soll man glauben. Sehen tut man davon nichts. Noch nicht mal die Gewalt, neben der betonten Sexualisierung eigentlich Bieitos hervorstechendstes Inszenierungsmerkmal. Eine in jeder Hinsicht billige Aufführung.

    Selbst die drei hervorragenden Live-Musiker mit Geige, Cello und Flügel als Dauer-Untermalung können das Rezitationstheater nicht rausreißen. Einerseits. Andererseits sorgten die eigens von Maika Makovski geschriebenen Liedern wenigstens für so etwas wie eine melancholische Grundstimmung und geben den fünf Schauspielern des Residenztheater-Ensembles immerhin die Gelegenheit, ihr Können in dieser Form unter Beweis zu stellen, auf Englisch.

    Die fünf Protagonisten, die im Programm nur mit ihrem Namen und in der Textfassung nur mit ihrem Vornamen aufgeführt werden, spielen ja auch nicht, verkörpern keine Rollen, sondern staksen über die spitzhügelige Plastikwelt, wenn sie nicht gerade als Statuen verharren oder in allerlei kopulierenden Gesten und Vorführaktionen involviert sind, gern in dichten Nebelschwaden. Nackt ist auch angesagt. Und ab und an ins Publikum schreien. In den Flügel kriechen und sich lasziv vor dem Pianisten ausstrecken.

    Den Brautstrauß ins Publikum schmeißen. Dem Regisseur fällt offenbar nichts mehr ein, womit er das Publikum schocken oder zumindest überraschen kann. Calixto Bieito: so richtig von gestern.