Der Gießener Soziologieprofessor und Theologe Reimer Gronemeyer hat ein düsteres Resümee der Aids-Aufklärungskampagnen in Afrika gezogen – mit dem Titel: "So stirbt man in Afrika". In seiner Streitschrift kommt Gronemeyer zu dem Schluss, dass die Zerstörung der afrikanischen Lebenswelt die entscheidende Voraussetzung für den Erfolg des tödlichen HI-Virus sei. Für ihn ist Aids in Afrika schlicht eine "Modernisierungskatastrophe" oder – anders ausgedrückt – ein "Globalisierungsproblem".
Reimer Gronemeyer, Soziologieprofessor aus Gießen, will in seinem neuen Buch der Frage nachgehen, warum bei der Bekämpfung von AIDS westliche Gesundheitskonzepte im südlichen Afrika scheitern. Das jedenfalls verspricht der Untertitel. Gronemeyer nennt sein Buch "eine Streitschrift":
Es gibt so eine Übereinkunft darüber, wie man mit dieser großen schwierigen Krankheit, mit dieser Seuche umgehen sollte, und ich glaube, dass diese Übereinkünfte, die so unter dem Großbegriff "Krieg gegen AIDS" laufen, falsch sind. Deswegen eine Streitschrift.
Afrikas AIDS-Bilanz ist erschreckend: Mehr als 6000 Menschen sterben täglich an der Seuche. Im Süden des Kontinents trägt bis zu einem Drittel der sexuell aktiven Bevölkerung den HI-Virus im Körper, die Zahl der Neuinfektionen ist unverändert hoch - trotz jahrelanger Aufklärungskampagnen. Hier setzt Gronemeyer mit seiner Kritik an. Er sieht eine Armada von Helfern, den "AIDS-Bekämpfungskomplex", am Werk: Vom Westen erdacht, vom Westen finanziert, teilweise mit Menschen aus dem Westen umgesetzt - und deshalb in Afrika zum Scheitern verurteilt. Weil, so Gronemeyer, die Strategen aus Europa und Nordamerika ihr Rezept aus Aufklärung und dem Benutzen von Kondomen auf den Trümmern des traditionellen Afrika propagieren:
Hinter all dem, glaube ich, ist ganz wichtig zu sehen, dass es die Moderne ist, die Globalisierung, die die Lebensverhältnisse in Afrika so verändert hat, dass die Menschen - sagen wir mal - in einer allgemeinen Beschleunigung, Beschleunigungsgesellschaft sich befinden, in der sie ihre Orte verlassen, in der sie in die Städte ziehen, in der die traditionellen Werte sie nicht mehr halten, was dazu führt, dass aus diesem zerstörten, trümmerhaften Milieu, Verhaltensweisen entstehen, die zu wechselnden Geschlechtsbeziehungen, zu Unvorsichtigkeit, zum allgemeinen Unterwegssein im direkten und indirekten Sinne des Wortes beiträgt.
Wanderarbeiter kommen nur einmal im Jahr nach Hause und bringen ihren Ehefrauen den Virus mit. Lastwagenfahrer transportieren Waren - und die Seuche - von Ort zu Ort. Jugendliche vertreiben sich die Zeit in ihren abgelegenen Internatsschulen während langweiliger Wochenenden mit ungeschütztem Sex.
Afrika ist die moderne Welt versprochen worden, die Konsumwelt. Sie ist nicht greifbar, sie ist für die meisten so fern wie nur irgendetwas. Nur in Bildern da. Man kann sich die Nase an Schaufensterscheiben gewissermaßen platt drücken. Und dann passiert etwas, dass man sagt, wenn wir das alles schon nicht kriegen können, Sex jedenfalls kostet nichts.
Dass Männer und Frauen bei vielen afrikanischen Völkern wechselnde Sexualpartner haben, irritierte bereits die christlichen Missionare vor hundert Jahren - das war lange vor AIDS. Solche Gewohnheiten bezieht der frühere Pastor Gronemeyer in seine Betrachtungen allerdings nicht ein. Er zeichnet das Bild einer sexuell und auch sonst wohl geordneten, wenn auch materiell bescheidenen Welt der Tradition, während die konsumorientierte Moderne vielfältige Zerstörungen verursacht.
Damit ist allerdings immer noch nicht die Frage wenigstens angesprochen, warum die Männer kein Kondom überstreifen. Und warum die Frauen nicht auf einem Kondom bestehen. Nach Lektüre des Buches hat man den Eindruck, der Gießener Professor und sein Team haben bei ihren von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mitfinanzierten zahlreichen Interviews solche Fragen gar nicht gestellt.
Gronemeyer schreibt, dass afrikanische Liebespaare beim Sex Körpersäfte austauschen und Sexualität nicht von Fruchtbarkeit trennen wollen. Belege, etwa Zitate aus Interviews, lesen wir für diese Behauptungen nicht.
Nun ist es sicher richtig, dass sich afrikanische Frauen und Männer im Durchschnitt mehr Kinder wünschen als europäische und dass sie sich in der Regel nicht freiwillig für Kinderlosigkeit entscheiden. Aber das erklärt noch lange nicht, warum so viele Menschen sich nicht schützen.
Tatsächlich gibt es Untersuchungen, die den Kern des Problems ansprechen. Forschungen aus Zimbabwe etwa zeigen, dass Verletzungen produzierende Sexualpraktiken und Machtverhältnisse in sexuellen Beziehungen, die der Frau ein "Nein" unmöglich machen, wichtige Gründe für die rasante Verbreitung von AIDS sind.
Auch Gronemeyer geht auf verrohte Verhältnisse zwischen Männern und Frauen ein - am Rande. Er erwähnt ...
... die wirklich fürchterlich große Zahl von Vergewaltigungen, die es im südlichen Afrika gibt, die nun wiederum damit zusammenhängen, dass die sozialen Kontrollen, die es bisher gegeben hat, in diesen Gesellschaften traditionellerweise, weitgehend zerstört sind, so dass die Männer, insbesondere die jüngeren Männer, meinen, dass sie sich nehmen können, was ihnen zusteht, und für die Frauen, die jungen Mädchen, es oft so ist, dass ihnen kein Nein zur Verfügung steht.
Subtilere Ausdrucksformen der Machtverhältnisse zwischen Geschlechtern spart Gronemeyer in seinem Buch aus. Zum Beispiel, dass ungeschützte Sexualität in den ländlichen Internatsschulen keineswegs nur eine Sache zwischen gleichaltrigen Schülerinnen und Schülern ist, sondern dass allzu oft Lehrer ihre Position nutzen und Sex mit minderjährigen Schülerinnen haben, bleibt unerwähnt.
Statt dessen erliegen bei Gronemeyer Frauen den Konsumlockungen der globalisierten Welt, während die Männer nun einmal so sind, wie sie sind - nämlich scharf auf Sex, und zwar ohne Kondom:
Entscheidend ist doch, dass junge Mädchen für eine Cola oder für ein T-Shirt oder für eine Handy-Attrappe heute bereit sind, mit älteren Männern, mit jüngeren Männern Sexualität auszuüben.
Der Autor erweckt mitunter den Eindruck, seine Bestandsaufnahme gelte für den gesamten Kontinent. Das allerdings ist unredlich. Noch vor zehn Jahren spielte Uganda in puncto AIDS die Rolle, die heute dem südlichen Afrika zukommt: Horrende Infektionsraten und entvölkerte Landstriche, nachdem Lastwagenfahrer und marodierende Soldaten den Virus verbreitet hatten. In Uganda machte die Regierung das Thema zur Chefsache, brach das Tabu. HIV-Infizierte engagierten sich in Aufklärungskampagnen. Heute ist Uganda aus den AIDS-Schlagzeilen verschwunden, die Infektionsrate der besonders gefährdeten Gruppe junger Frauen liegt weit unter zehn Prozent. Diese afrikanische Erfolgsgeschichte erwähnt Reimer Gronemeyer nicht.
Reimer Gronemeyer: So stirbt man in Afrika an Aids. Die Streitschrift ist erschienen bei Brandes & Apsel in Frankfurt, hat einen Umfang von 176 Seiten und kostet 15,90 Euro.
Reimer Gronemeyer, Soziologieprofessor aus Gießen, will in seinem neuen Buch der Frage nachgehen, warum bei der Bekämpfung von AIDS westliche Gesundheitskonzepte im südlichen Afrika scheitern. Das jedenfalls verspricht der Untertitel. Gronemeyer nennt sein Buch "eine Streitschrift":
Es gibt so eine Übereinkunft darüber, wie man mit dieser großen schwierigen Krankheit, mit dieser Seuche umgehen sollte, und ich glaube, dass diese Übereinkünfte, die so unter dem Großbegriff "Krieg gegen AIDS" laufen, falsch sind. Deswegen eine Streitschrift.
Afrikas AIDS-Bilanz ist erschreckend: Mehr als 6000 Menschen sterben täglich an der Seuche. Im Süden des Kontinents trägt bis zu einem Drittel der sexuell aktiven Bevölkerung den HI-Virus im Körper, die Zahl der Neuinfektionen ist unverändert hoch - trotz jahrelanger Aufklärungskampagnen. Hier setzt Gronemeyer mit seiner Kritik an. Er sieht eine Armada von Helfern, den "AIDS-Bekämpfungskomplex", am Werk: Vom Westen erdacht, vom Westen finanziert, teilweise mit Menschen aus dem Westen umgesetzt - und deshalb in Afrika zum Scheitern verurteilt. Weil, so Gronemeyer, die Strategen aus Europa und Nordamerika ihr Rezept aus Aufklärung und dem Benutzen von Kondomen auf den Trümmern des traditionellen Afrika propagieren:
Hinter all dem, glaube ich, ist ganz wichtig zu sehen, dass es die Moderne ist, die Globalisierung, die die Lebensverhältnisse in Afrika so verändert hat, dass die Menschen - sagen wir mal - in einer allgemeinen Beschleunigung, Beschleunigungsgesellschaft sich befinden, in der sie ihre Orte verlassen, in der sie in die Städte ziehen, in der die traditionellen Werte sie nicht mehr halten, was dazu führt, dass aus diesem zerstörten, trümmerhaften Milieu, Verhaltensweisen entstehen, die zu wechselnden Geschlechtsbeziehungen, zu Unvorsichtigkeit, zum allgemeinen Unterwegssein im direkten und indirekten Sinne des Wortes beiträgt.
Wanderarbeiter kommen nur einmal im Jahr nach Hause und bringen ihren Ehefrauen den Virus mit. Lastwagenfahrer transportieren Waren - und die Seuche - von Ort zu Ort. Jugendliche vertreiben sich die Zeit in ihren abgelegenen Internatsschulen während langweiliger Wochenenden mit ungeschütztem Sex.
Afrika ist die moderne Welt versprochen worden, die Konsumwelt. Sie ist nicht greifbar, sie ist für die meisten so fern wie nur irgendetwas. Nur in Bildern da. Man kann sich die Nase an Schaufensterscheiben gewissermaßen platt drücken. Und dann passiert etwas, dass man sagt, wenn wir das alles schon nicht kriegen können, Sex jedenfalls kostet nichts.
Dass Männer und Frauen bei vielen afrikanischen Völkern wechselnde Sexualpartner haben, irritierte bereits die christlichen Missionare vor hundert Jahren - das war lange vor AIDS. Solche Gewohnheiten bezieht der frühere Pastor Gronemeyer in seine Betrachtungen allerdings nicht ein. Er zeichnet das Bild einer sexuell und auch sonst wohl geordneten, wenn auch materiell bescheidenen Welt der Tradition, während die konsumorientierte Moderne vielfältige Zerstörungen verursacht.
Damit ist allerdings immer noch nicht die Frage wenigstens angesprochen, warum die Männer kein Kondom überstreifen. Und warum die Frauen nicht auf einem Kondom bestehen. Nach Lektüre des Buches hat man den Eindruck, der Gießener Professor und sein Team haben bei ihren von der Deutschen Forschungsgemeinschaft mitfinanzierten zahlreichen Interviews solche Fragen gar nicht gestellt.
Gronemeyer schreibt, dass afrikanische Liebespaare beim Sex Körpersäfte austauschen und Sexualität nicht von Fruchtbarkeit trennen wollen. Belege, etwa Zitate aus Interviews, lesen wir für diese Behauptungen nicht.
Nun ist es sicher richtig, dass sich afrikanische Frauen und Männer im Durchschnitt mehr Kinder wünschen als europäische und dass sie sich in der Regel nicht freiwillig für Kinderlosigkeit entscheiden. Aber das erklärt noch lange nicht, warum so viele Menschen sich nicht schützen.
Tatsächlich gibt es Untersuchungen, die den Kern des Problems ansprechen. Forschungen aus Zimbabwe etwa zeigen, dass Verletzungen produzierende Sexualpraktiken und Machtverhältnisse in sexuellen Beziehungen, die der Frau ein "Nein" unmöglich machen, wichtige Gründe für die rasante Verbreitung von AIDS sind.
Auch Gronemeyer geht auf verrohte Verhältnisse zwischen Männern und Frauen ein - am Rande. Er erwähnt ...
... die wirklich fürchterlich große Zahl von Vergewaltigungen, die es im südlichen Afrika gibt, die nun wiederum damit zusammenhängen, dass die sozialen Kontrollen, die es bisher gegeben hat, in diesen Gesellschaften traditionellerweise, weitgehend zerstört sind, so dass die Männer, insbesondere die jüngeren Männer, meinen, dass sie sich nehmen können, was ihnen zusteht, und für die Frauen, die jungen Mädchen, es oft so ist, dass ihnen kein Nein zur Verfügung steht.
Subtilere Ausdrucksformen der Machtverhältnisse zwischen Geschlechtern spart Gronemeyer in seinem Buch aus. Zum Beispiel, dass ungeschützte Sexualität in den ländlichen Internatsschulen keineswegs nur eine Sache zwischen gleichaltrigen Schülerinnen und Schülern ist, sondern dass allzu oft Lehrer ihre Position nutzen und Sex mit minderjährigen Schülerinnen haben, bleibt unerwähnt.
Statt dessen erliegen bei Gronemeyer Frauen den Konsumlockungen der globalisierten Welt, während die Männer nun einmal so sind, wie sie sind - nämlich scharf auf Sex, und zwar ohne Kondom:
Entscheidend ist doch, dass junge Mädchen für eine Cola oder für ein T-Shirt oder für eine Handy-Attrappe heute bereit sind, mit älteren Männern, mit jüngeren Männern Sexualität auszuüben.
Der Autor erweckt mitunter den Eindruck, seine Bestandsaufnahme gelte für den gesamten Kontinent. Das allerdings ist unredlich. Noch vor zehn Jahren spielte Uganda in puncto AIDS die Rolle, die heute dem südlichen Afrika zukommt: Horrende Infektionsraten und entvölkerte Landstriche, nachdem Lastwagenfahrer und marodierende Soldaten den Virus verbreitet hatten. In Uganda machte die Regierung das Thema zur Chefsache, brach das Tabu. HIV-Infizierte engagierten sich in Aufklärungskampagnen. Heute ist Uganda aus den AIDS-Schlagzeilen verschwunden, die Infektionsrate der besonders gefährdeten Gruppe junger Frauen liegt weit unter zehn Prozent. Diese afrikanische Erfolgsgeschichte erwähnt Reimer Gronemeyer nicht.
Reimer Gronemeyer: So stirbt man in Afrika an Aids. Die Streitschrift ist erschienen bei Brandes & Apsel in Frankfurt, hat einen Umfang von 176 Seiten und kostet 15,90 Euro.