"Sie fuhren in der Nacht, durch die verdunkelten Stadt, die Küste von Long Island entlang. Vom Meer zog Nebel auf, der sich in dicken Schwaden über Buchten und weiße Holzbrücken legte. Die Straßen lagen verlassen im Licht der Sterne, meilenweit war kein Fahrzeug zu sehen. Wie vorgeschrie-ben, hatte James Abblendvorrichtungen auf die Scheinwerfer des Buick ge-schraubt. Er befürchtete, man würde sie vielleicht anhalten, Anne würde aufwachen, und Jay müßte sich die Augen zuhalten, weil irgendein Luft-schutzwart ihn mit der Taschenlampe anstrahlte. Seit Stunden fragte der Junge jedesmal, wenn sie langsamer wurden: "Sind wir schon da?" und jetzt ließ James die Sache nicht mehr los."
Der Erzähler nimmt zunächst die Perspektive von James Langer, dem Vater der Familie, ein. Wir erfahren gleich eine Menge von dem, was die Familie zusammenhält. Es sind kleine Katastrophen, die einen sozialen Or-ganismus zu sprengen in der Lage sind, aber auch Bindungskräfte erzeugen. Der Vater seiner Frau Anne ist kürzlich gestorben. Was bereits einen Umzug der Familie zur Folge hatte. James selbst, Lehrer für Geschichte an einer Provinzschule, hatte ein für alle, auch ihn selbst, unbegreifliches Verhältnis zu einer sechzehnjährigen Schülerin. Und überdies gerät ihr Sohn Rennie gleich doppelt in die Mühle der Geschichte, die so fern und so gigantisch sich bewegt, daß sie dem Schicksal in griechischen Dramen gleicht. Zuerst hatte Rennie den Kriegsdienst verweigert und damit die Ächtung des gesam-ten Clans durch die patriotischen Provinzler bewirkt, eine moralische Verur-teilung, die das normale Leben unerträglich machte. Hier gelingen O´Nan ganz nebenbei tiefe Einblicke in die kollektive psychische Verfassung eines Gemeinwesens zu Kriegszeiten - eben auch in das der so individualistisch und freiheitsliebend verfassten USA. Doch nachdem der einzige College-freund Rennies, der seine Entscheidung respektierte, bei einem Kriegsein-satz umgekommen war, entschließt sich Rennie freiwillig, das Arbeitslager mit einem Einsatz als Sanitäter an der Front zu vertauschen. Nun fährt die Angst in die Familie, ob er wiederkehrt. Diese Angst überzieht den Sommer auf Long Island wie eine fremde Haut, die alles Geschehen ganz leicht ins Unwirkliche verzerrt. Sie verbindet sich mit den familiären Krankheits- und Todesfällen, dem persönlichen Versagen, der Schuld und baut ein Span-nungsfeld auf, in dem der Alltag eine latent dramatische Aufladung erfährt.
Dies ist auch der Grund, warum man die ausufernde Beschreibung der Alltäglichkeit im Roman kaum einmal als langatmig erfährt. Es ist eine be-drohte Ordnung, die hier minuziös entfaltet wird. In der das Licht und die Landschaft, die Schlaf- und Essensgewohnheiten, die letzen Gedanken vor dem Einschlafen oder die Geräusche im Bad Bedeutung gewinnen, einfach in dem, was sie sind. Das Normale wird zur tastenden Bewegung in einer Welt, die ihrer Selbstverständlichkeit beraubt ist. Und zwar deshalb beraubt, weil es eine andere Welt gibt, eine weit entfernte, die Krieg heißt und Ge-walt und Fremdheit.
"A World Away" heißt der Roman im Original. Man kann den Titel ganz allgemein auf das Historische des Romans beziehen, auf den Verlust des vertrauten täglichen Lebens, aber eben auch auf die Kampfhandlungen auf den Alaska vorgelagerten Aleuten, wo Rennie schließlich in Kämpfe mit den Japanern verwickelt wird. Auf jeden Fall führt der deutsche Titel "Sommer der Züge" in die Irre, weil er eben jene sommerliche Melancholie evoziert, die zwar Teil des Romans ist, aber eben eine, die vom Krieg un-barmherzig hinterfangen bleibt. Und hier irrt auch Timothy Food in der New York Times, der schreibt "Forget the war. It adds to the strain but is really only a kind of scarecrow, not a decisive force". Der Krieg ist kein erzähleri-sches Blendwerk, keine Vogelscheuche, er ist genau das, was in den frühe-ren Romanen O´Nans Mord und Gewalt waren. Die Abgründe, aus denen Angst und Trauer, Abwehr und Zynismus, Schuld und Zweifel hervorquel-len. Nur wenige kurze Kapitel erzählen von Rennies Erfahrungen beim Mili-tär und im Kampf, sehr eindringliche übrigens, aber die indirekte Anwesen-heit des Kriegs in der lädierten Pseudoidylle auf Long Island erzeugt die leicht verrückte, bei größtem Detailrealismus immer auch dunkel-träumerische Stimmung, die den Roman im Ganzen bestimmt.
O´Nan läßt seinen Erzähler die verschiedenen Perspektiven der Famili-enmitglieder einnehmen. James leistet für einige Wochen kriegswichtige Arbeit in einer nahen Flugzeugfabrik. Er registriert minutiös die Gesten sei-ner abweisenden Frau, wartet inbrünstig auf kleinste Zeichen, wenn nicht der Vergebung, so doch der freundlichen Normalität. Trotzdem kann er sei-nen Fehltritt nicht einfach bereuen. Immer wieder steht ihm das Bild von Diane, der mädchenhaften Geliebten vor Augen:
"Warum mußtest Du es mir sagen?" hatte Anne gefragt. Er hatte keine Antwort gewußt, die sie nicht verletzt hätte, und hatte gesagt: "Ich weiß nicht." Er hätte bis zum Tagesanbruch mit ihr reden können und hätte immer noch nicht alles gesagt, doch sie hatte im Dunkeln auf der anderen Seite des Bettes gelegen, ohne zu schluchzen (was für eine Erleichterung wären ihre Tränen gewesen!), als ob sie auf einem anderen Kontinent wäre, und ihr Schweigen war wie die Nacht über dem offenen Meer gewesen. Ich liebe dich, hatte er sagen wollen - irgendeinen einfachen Satz zu ihrer Rettung - , doch er hatte sich nicht getraut. Ihre Hoffnungslosigkeit und ihre Wut hatten sie mit einer Unnahbarkeit umgeben, die sie ihnen beiden auf-bürdete. Er hatte die Zettel, die ihm Diane zusteckte, ihren mörderischen Blick in den Fluren ertragen können, hatte seit langem wieder ein reines gewissen (ach, das stimmte ja gar nicht), odch damals in diesem dunklen Zimmer - draußen die schlafende Stadt, der eiskalt vorbeiströmende Fluß, die herabblickenden Berge - hatte James befürchtet, diese Schwermut würde Anne nie wieder loslassen."
Wie alle anderen in der Familie weiß Anne, seine Frau, um die Schwäche des dicklichen, optimistischen, versöhnlichen, entscheidungsschwachen Ja-mes. Doch mildert dieses Wissen nicht den Schmerz über seinen Verrat. Sie beginnt ein Verhältnis mit einem gut aussehenden Soldaten auf einem nahen Stützpunkt, wo sie vorübergehend als Krankenschwester arbeitet. Sie läßt sich in diese Liebschaft fallen wie in einen sentimentalen Liebesfilm. Hier scheint O´Nan gelegentlich den Kitsch zu streifen, wenn das Meer und der Himmel bei Montauk wie Geigen die amourösen Stelldicheins untermalen. Aber er bildet damit genau jenen Fluchtwillen Annes ab, die niemanden im Stich lassen wird, aber ein, zwei Augenblick des Glücks festhalten will.
Jay, ihr zweiter Sohn, viel jünger als Rennie, ist in seiner jugendlichen Verschlossenheit, dem Bruder am nächsten. Er geht ins Kino und erkennt in den Kriegsstreifen mit Humphrey Bogart ("Action in the North Atlantic") das Schicksal seines Bruders. In seinen nächtlichen Träumen entstellt er die Filmplots zu Gemälden der Grausamkeit, in denen er das Schicksal Rennies in signifikanten Details erfasst: die Zerstörung seines Gesichts.
Dann ist da noch Dorothy, Rennies Frau, die ihn zum Ausbildungslager in San Diego am Pazifik begleitet hat und dort hochschwanger in einer Waf-fenfabrik schuftend auf ihn wartet. Und schließlich Rennie selbst, aus des-sen Perspektive recht knapp erzählt wird, eben weil seine schmerzende Ab-wesenheit die Sichtweisen der anderen verbindet.
Alle leben sie in ein- und demselben Mikrokosmos. Sie erinnern zumeist dieselben familiären Ereignisse. Es ist von seltener Virtuosität, wie locker und selbstverständlich O´Nan die Vorgeschichten der einzelnen Figuren einholt in die Gegenwart, wie unmerklich er die diversen Bewußtseinströme an die beschädigte Gegenwart der Figuren bindet. Das ist das eine.
Aber erstaunlicher noch ist die Weise, wie er die Erinnerungen der Figu-ren sich begegnen, sich kreuzen, sich signifikant verfehlen läßt. Wir kennen schon nach ein paar Dutzend Seiten die Grundzüge der Ereignisse und wie sie die einzelnen Familienmitglieder berührt haben. Nach dieser Exposition werden wir in einen Raum geführt, in dem sich die Sichtweisen mischen und die äußeren Tatsachen gewissermassen Herzenstatsachen werden, und zwar Herzenstatsachen einer Familie. Denn in diesem Raum der Vermischung entsteht tatsächlich so etwas wie ein neuer Körper, ein Familienkörper. Die exponierten Invidualitäten wachsen zusammen. Aus der Serie individueller Beschädigungen entsteht ein weniger heiles als heilendes Ganzes.
Stewart O´Nan hat diese selten hoffnungsfrohe Vision, hervorgegangen aus lauter harten Schlägen, aus Verrat, aus Krieg und Grausamkeit, sehr vorsichtig ins Werk gesetzt, damit auch keiner auf die Idee komme, hier werde die Rettung der Familie aus dem Geist der nationalen Bedrohung in Kriegszeiten gefeiert.
Zum einen hält er Politik und Krieg spürbar auf Distanz. Wie immer in-teressieren ihn weit mehr die Mythen des Alltags, Swing-Musik aus dem Radio, Heldenfilme, neue Automodelle, die Farben von Lebensmittelkarten usw. als die Faktizität von Großereignissen und erst recht Meinungen oder Kommentare dazu. Eben deshalb ist es auffällig, daß im Roman unentwegt Kriegsnachrichten im Radio gehört werden, täglich von morgens bis abends Zeitung gelesen wird, aber kaum etwas vom Kriegsverlauf berichtet wird. Für den psychischen Haushalt des Roman ist der mit Tod drohende Krieg, paradox gesagt, lebenswichtig. Dennoch blieben die Nazis und die ´Japse´ Schemen, ungeheure ferne Schatten. Selbst die Schlacht an der Rennie teil-nimmt, wirkt wie ein Theater der Grausamkeit, inszeniert auf einem frem-den Stern. So daß die mittlere Sphäre zwischen dem Individuum und dem großen Kollektiv wie von alleine den entscheidenden Rang einnimmt: die Familie eben.
Zum anderen gibt es eine Ebene des Familienzusammenhalts, auf der die Traumata und Schuldgefühle und Befreiungsversuche nicht mehr wesentlich greifen: das ist eben jene, die Kurt Tucholskys moralischer Imperativ "Es gibt nichts Gutes, außer man tut es" meint: Der ganze Roman läßt sich näm-lich auch lesen als Bericht einer Sterbebegleitung. Der Schlaganfall des Großvaters setzt die Romanbewegung in Gang. Mit seinem Tod und der Ab-fahrt der Familie von Long Island endet der Roman. Dazwischen haben wir eine äußerst sanfte und einfühlsame, aufmerksam tätige Hinwendung zu ei-nem Sterbenden erlebt. Vom tägliche Vorlesen der Zeitung bis zur Reini-gung des Besudelten findet die Familie in Hilfsbereitschaft zusammen.
Und dann die Geschichte Rennies. Alle fürchten, er käme nicht mehr heim. Verlustangst beherrscht die Figuren bis ins letzte Drittel des Romans. Tatsächlich gibt es nur eine nicht-imaginäre Verbindung zwischen der ´World Away´ des Krieges und der Familie: das Telegramm der Western Union, die Nachricht von der Heeresleitung. Der Leser fiebert längst schon hin auf diesen Augenblick, in dem der Telegrammzusteller auftaucht, in der Regel durch einen Anruf vorbereitet. Eine frühere Nachricht hatte Rennie schon als vermißt gemeldet, und schon diese hatte schwere Folgen für die Verfassung aller Familienmitglieder. Doch dann kommt ein Schreiben, das seine baldige Heimkehr ankündigt. Wie O´Nan das Umkippen der Situation mit minimalen sprachlichen Gesten faßt und dann die Ankunft des verwun-deten Kriegsteilnehmers Rennie beschreibt, ganz eng an den hilflosen inne-ren Bewältigungsversuchen der Verwandten, so objektiv wie es ihnen mög-lich ist, doch mit Angst versetzt und schierer seelischer Not folgend, das ist schlicht ergreifend, ohne daß der Gegenstand auch nur eine Spur dämoni-siert würde. Stewart O´Nan nutzt die auf langer Strecke massiv entfachte Erwartung des Lesers, läßt sie aber nicht in einem großen AHA! verpuffen, sondern lenkt sie auf die breit und genau geschilderten Klammheit der Si-tuation, auf den verlorenen Boden, das Hilflose und Haltsuchende der Figu-ren, die um eine lebbare Kommunikation mit dem an Leib und Rede be-schädigten Sohn und Vater ringen.
"Sie lösen sich voneinander, und James faßte Rennie am Arm und muster-te ihn, bemühte sich aber, weder sein Kinn noch das Verwundetenabzeichen an seiner Brust anzusehen. "Willkommen daheim", sagte er. Rennie nickte und sagte - mit zusammengeklemmten Zähnen, nur die Lippen bewegten sich - etwas scher Verständliches: "Bin froh wieder dabei?" Es war nicht seine Schuld, doch in dem Augenblick, den James brauchte, um die Worte zu entschlüsseln, begriff er, daß er, wenn sein Sohn später einmal zu ihm kommen würde, um zu fragen, was passiert sei, genau wie sein Vater nicht imstande sein würde, alles zu erklären, sondern nur dasitzen würde, ein alter Mann, der stumm alle Vorwürfe über sich ergehen ließ. "Ja", sagte James, "wir sind auch froh, daß du wieder da bist."
Was dann folgt, ist die ganz unaufdringliche Aufnahme der Ausnahme in die rettende Familienordnung. Rennie ist schwer verwundet, er trägt nach vielen Operation an Mund und Kinn bizarre Gesichtszüge, kann nichts Fe-stes zu sich nehmen, nicht mehr richtig sprechen. Und doch ist er bald schon in seiner Qual, durch die er sich mühsam einen Alltag zurückerobern muß, und sind seine Nächsten in ihrer Not, die richtige Umgangsform zu finden, wieder Teil eines normalen Lebens, das vor allem: Familienleben ist, Fami-lienleben, das unentwegt Beschädigungen auffängt und Verletzungen aus-gleicht und so auch die des Kriegsversehrten. Wie umgekehrt das Schicksal Rennies auch die Familie zentriert hatte und jetzt in ein neues Gleichgewicht führt.
Am Ende wird der Körper der Familie ein würdiges Sterben ermöglicht haben, wird seelische und physische Verletzungen ausgeglichen und einen Krieg abgefedert haben. Ganz zum Schluß reisen die Langers ab, und im Auto beugt sich die Mutter, ihrem Mann James zutiefst gram, über den vor-ne im Buick sitzenden Sohn Jay, "bedeckte ihn mit ihrem Körper und küsste seinen Vater - was genauso schockierend war, als wenn sie auf ihn einge-schlagen hätte. Jay saß da, wagte nicht, sich zu rühren und damit alles zu verderben. Ihr Duft hüllte ihn ein, und ihr Körper drückte sich fest an ihn. Im Radio gewannen die Amerikaner den Krieg in Italien; zum Beweis knat-terten die Gewehre. Seine Mutter ließ los und lächelte ihn dann an, und diesmal war es keine Lüge. Sie war wirklich so froh, weil sie abreisten, weil sie nach Hause fuhren."
Man kann diese Apotheose der Familie schwerlich überlesen, und doch ist sie bis auf wenige Momente, wie den just zitierten, kaum greifbar. Wäre es anders, hätte Stewart O´ Nan Kitsch in Zeiten des Krieges geschrieben. Hat er aber nicht. Sein "Sommer der Züge" ist ein historisches Sittenbild, das Grausamkeit und Liebe, Verletzung und Heilung austariert. Ob er das darf oder nicht, ist keine politisch-moralische Frage, sondern eine des Könnens. Und das steht außer Frage.
O´Nan verbindet die leidenschaftliche Genauigkeit in der Schilderung des Alltags, die so viele amerikanischen Erzähler auszeichnet, mit einem feinen Sensorium für die atmosphärische Schwingungen zwischen den Per-sonen. Dabei läßt er den Figuren ihren Raum, urteilt in keiner Weise über sie. Der Tschechow-Leser O´Nan ist mit seinem "Sommer der Züge" seinem zwei Generationen älteren Kollegen John Updike ziemlich nahe gekommen. Näher als sich selbst in seinen anderen Romanen. Und das ist eine Selten-heit: Daß einer in jedem Roman als ein anderer schreibt. Und alle gelingen sie. Natürlich gibt es Konstanten, wie die des vorausgesetzten Einbruchs der Gewalt in ein Ordnungsgefüge. Aber jeder Roman fühlt sich ganz anders an, hat eine andere Dichte, eine andere Textur. Noch längst ist nicht alles vom achtunddreißigjährigen Stewart O´Nan, der mit seiner Frau und zwei Kindern in der Provinz, in Avon /Conneticut lebt, von wo er auch geistreich Politik und Zeitgeschehen kommentiert, veröffentlicht. Und wie man hört, und im Internet unter www.stewart-onan.com mitlesen kann, schreibt er heftig weiter. Wir dürfen gespannt sein.