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Sommerwind und Spardiktat

Warum braucht eine Landesrundfunkanstalt gleich zwei Sinfonieorchester? Das fragen sich Unternehmensberater und der Intendant des Südwestfunks. Antworten geben die neuen Aufnahmen der SWR-Sinfoniker aus Baden Baden und aus Stuttgart.

Von Ludwig Rink | 09.04.2012
    Über den angeblich meist grauen Häuptern der Klassik-Liebhaber brauen sich dunkle Wolken zusammen. Schallplattenfirmen haben in den letzten Jahren viele Aktivitäten zurückgefahren. Selbst die Großen der Branche scheuen schon lange das Risiko, groß besetzte Orchesterwerke oder ganze Opern sorgfältig im Studio zu produzieren. Sie behelfen sich mit Konzertmitschnitten, bei denen dann nachträglich noch mal eine relativ kurze Sitzung stattfindet, um die schlimmsten Patzer nach zu produzieren.

    Doch inzwischen schärfen auch die Chefs öffentlich-rechtlicher Hörfunkanstalten zunehmend die Äxte, um den nach ihrer Auffassung allzu dichten Klassikwald gehörig zu lichten. Angesichts einer neuerdings schon wieder geplanten Reform des Musikprogramms beim Westdeutschen Rundfunk in Köln haben sich jedenfalls via Internet schon über 17.000 "Radioretter" aufgeschwungen, um aus ihrer Sicht Verwerfliches für Kultur und Musik zu verhindern. Und wenn ich Ihnen heute zwei neue Produktionen des Labels hänssler classic vorstelle mit Sinfonien von Mahler und Bruckner, komme ich an dieser Problematik nicht vorbei. Denn sowohl das Orchester der Mahler-Aufnahme aus Freiburg als auch das der Bruckner-Aufnahme aus Stuttgart gehören zum Südwestrundfunk, kurz SWR, und dessen Intendant hat sich offenbar von externen Beratern überzeugen lassen, zwei komplette Rundfunk-Sinfonieorchester seien für eine Zweiländeranstalt mit Aktivitäten in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz zu viel. Als Gründe für den geplanten Abbau werden benannt: die sinkende Einnahmeprognose, das sich wandelnde Mediennutzungsverhalten und die drohende Überalterung des Publikums der ARD. Jedenfalls liegen Konzepte auf dem Tisch und sollen am 24. April im SWR Rundfunkrat beraten werden, die die Planstellenzahl in beiden Orchestern deutlich nach unten korrigieren und längerfristig sicher auch eine Zusammenlegung nicht ausschließen.

    In dieser Situation erscheint die erste CD, die das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg mit seinem neuen Chefdirigenten Francois-Xavier Roth aufgenommen hat: Sie bietet Gustav Mahlers 1. Sinfonie und das Idyll "Im Sommerwind" von Anton Webern.

    Gustav Mahler
    aus: Sinfonie Nr. 1, 2. Satz
    aus Track <2>
    SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg
    Leitung: Francois-Xavier Roth
    LC 10622 hänssler classic
    CD 93.294


    Seit über 60 Jahren spielt das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg bei den nach wie vor für die Musikentwicklung bedeutenden Donaueschinger Musiktagen und auch anderenorts zahlreiche Uraufführungen. Hunderte von Werken aller namhaften Komponisten des 20. und 21. Jahrhunderts sind dort nicht nur zum Leben erweckt worden, sondern bilden auch die Basis für den Kanon der bis heute wichtigen Orchesterwerke. Das Wissen um diese Musik und die Tradition kontinuierlicher Arbeit mit Komponisten wie Strawinsky, Nono, Boulez, Stockhausen, Lachenmann oder Rihm sind ein einzigartiger Schatz. Und aus dieser Tradition erwächst auch ein besonderer Blick auf die Musik der Vergangenheit: Geschichte wird hier gegenwärtig. Sich wandelndes Mediennutzungsverhalten hin oder her: noch gelingt es den jugendlicher daherkommenden privaten oder öffentlich-rechtlichen Sendern oder dem angeblich alles bietenden Internet nicht, sich auch nur ansatzweise einer solchen Förderung des zeitgenössischen und einer adäquaten Darstellung des vergangenen Musikschaffens anzunehmen. Und ob dort jemals eine solche Qualität wie hier beim SWR Sinfonieorchester und Anton Weberns "Im Sommerwind" erreicht wird, darf bezweifelt werden.

    Anton Webern
    aus: Im Sommerwind. Idyll
    aus Track <5>
    SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg
    Leitung : Francois-Xavier Roth
    LC 10622 hänssler classic
    CD 93.294


    Aber auch ohne eine solche spezielle, gerade auch der neuen Musik verpflichtete Aufgabenstellung sind beide SWR Klangkörper wichtiger Teil des kulturellen Lebens eines ganzen Bundeslandes. Das SWR Sinfonieorchester gibt in jedem Jahr in Freiburg und dem übrigen Sendegebiet über 40 zu 95 Prozent ausgelastete Konzerte und hat fast 1.200 Abonnenten an sich gebunden. Nicht anders sieht es beim Radio-Sinfonieorchester Stuttgart aus, das in der Landeshauptstadt 40 und im Sendegebiet weitere 10 Konzerte pro Jahr veranstaltet. Die Orchester machen sich schon rein räumlich keine Konkurrenz; das genannte Pensum wäre von einem Klangkörper überhaupt nicht zu bewältigen. Nicht zu vergessen auch die übrigen Tätigkeiten der einzelnen Orchestermusiker, die durch Ensemblespiel und Lehre erst den Boden dafür bereiten, dass Politiker in Sonntagsreden das Bild von der "Musiknation Deutschland" zeichnen können.

    Ein ganz besonderes Profil konnte in den letzten 12 Jahren auch das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR entwickeln. Seinem Chefdirigenten Roger Norrington gelang es, die Erkenntnisse der historischen Aufführungspraxis auf ein großes modernes Sinfonieorchester anzuwenden. Das betrifft die Anzahl der jeweils mitwirkenden Musiker ebenso wie deren Aufstellung, die zu wählenden Tempi, die Phrasierung, Artikulation oder Bogenführung. Offensichtlichstes Kennzeichen der Stuttgarter Interpretationen unter Norrington war der deutlich reduzierte Gebrauch von Vibrato. Die vermutlich letzte Einspielung unter Sir Roger kam jetzt ebenfalls bei hänssler classic auf den Markt: Anton Bruckners Sinfonie Nr. 9 d-Moll in der Fassung von 1894.

    Anton Bruckner
    aus: Sinfonie Nr. 9, 1. Satz
    aus Track <1>
    Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR
    Leitung: Roger Norrington
    LC 10622 hänssler classic
    CD 93.273


    Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart mit einer beispielhaft "entmystifizierten" Interpretation von Anton Bruckners 9. Sinfonie, kein weihevoller sakraler Akt, sondern sozusagen Bruckner mit menschlichen Gesichtszügen.

    Warum geraten gerade jetzt die beiden SWR Orchester durch ein Spardiktat in Gefahr? Ist es die günstige Gelegenheit, dass nach dem Weggang von Sylvain Cambreling und Sir Roger Norrington international anerkannte Größen der Dirigentenszene Platz für zwar hochtalentierte, aber noch nicht so vernetzte Orchesterchefs gemacht haben? Klar steht auch der SWR wie wir alle unter dem Eindruck der verschiedenen Finanzkrisen, seien sie nun von Banken oder von Staaten verursacht, die über ihre Verhältnisse gelebt haben. Öffentlich rechtlicher Hörfunk jedoch ist weder von Banken noch in finanzieller Hinsicht allzu direkt vom Staat abhängig, denn sinnvollerweise finanziert er sich aus Gebührengeldern. Die Art und Weise, wie diese erhoben werden, wird sich ändern, und es gab die Sorge, durch die neue Einzugsweise könne weniger Geld in die Kassen fließen. Doch nach neueren Untersuchungen muss dies nicht unbedingt der Fall sein – es könnte sogar etwas mehr zusammenkommen. Ein weiteres Problem war, dass angesichts hoher Arbeitslosenzahlen viele Hörer und Seher von der Gebühr befreit werden und somit Mindereinnahmen entstehen.

    Aber dies hat im ebenso arbeitsamen wie erfindungsreichen " Ländle" nie eine so starke Rolle gespielt wie in dem einen oder anderen neuen Bundesland, und außerdem sind im letzten Jahr die Arbeitslosenzahlen zum Glück ja deutlich nach unten gegangen. Die Frage bleibt: Wieso gerade jetzt? Und warum überhaupt? Die Gesellschaft für neue Musik hat errechnet, dass auf beide Orchester lediglich 1Prozent der Ausgaben entfallen, die der SWR für 2012 geplant hat. Hier den Rotstift anzusetzen, bringe minimale Einsparungen fast schon im Promillebereich. Unsinnig, dafür den Standortvorteil einer kulturell regen Region in Frage zu stellen oder denen in die Hände zu spielen, die die durch den Kulturauftrag gegebene Legitimation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bereits heute infrage stellen. Oder, wie es Bundestagspräsident Norbert Lammert am 15. März der Badischen Zeitung sagte: "Mich überzeugt diese Art der Sparbemühungen überhaupt nicht, weil es einmal mehr die Suche nach Einsparungsmöglichkeiten genau in dem Bereich ist, der die Gebühren rechtfertigen könnte ... Ich fürchte, dass die Anstalten zunehmend dabei sind, den Ast abzusägen, auf dem sie selbst sitzen." Soweit Norbert Lammert.

    Gustav Mahler
    aus: Sinfonie Nr. 1, 3. Satz
    aus Track <3>
    SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg
    Leitung : Francois-Xavier Roth
    LC 10622 hänssler classic
    CD 93.294


    Aber es wäre pharisäerhaft, wenn ich an dieser Stelle nur die Verantwortlichen beim SWR zum Erhalt beider Orchester in sinnvoller Mannstärke auffordern würde. Denn bekanntlich sollte, wer im Glashaus sitzt, nicht mit Steinen werfen. Und es gibt wohl kaum eine öffentlich-rechtliche Anstalt, das Deutschlandradio eingeschlossen, die nicht schon einmal versucht war, Einsparungen gerade im Bereich von Kultur und Musik zu realisieren.
    Die drohende Überalterung des Publikums – ob man ihr durch den Abbau von Orchesterstellen entgegenwirken kann? Vorsicht ist angebracht, denn sie werden nicht nur immer mehr, sondern auch zunehmend anspruchsvoll, diese Alten: Sie besuchen Ausstellungen und gehen in Konzerte. Scharenweise.

    Anton Bruckner
    aus: Sinfonie Nr. 9
    aus Track <2>
    Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR
    Leitung : Roger Norrington
    LC 10622 hänssler classic
    CD 93.273


    Die Neue Platte – heute mit zwei CDs südwestdeutscher Rundfunk-Sinfonieorchester, die sich in ihrer heutigen Existenzform bedroht sehen: Das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg mit Gustav Mahlers erster und das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart mit Anton Bruckners 9. Sinfonie.