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Sonia Delaunay-Retrospektive
Die Grenzen der Kunst erweitert

Von Kathrin Hondl | 16.11.2014
    Sonia Delaunay war moderner als die Kunstgeschichte der Moderne erlaubte. Und sie war eine Frau. So einfach erklärt sich, weshalb Madame so lange im Schatten ihres Gatten Robert stand. Dabei bereicherte das Ehepaar Delaunay gemeinsam die Avantgardekunst um einen neuen "-ismus", oder vielmehr gleich um zwei: "Orphismus" nannte der Dichter Apollinaire die Kunst der Delaunays. Die Künstler selbst sprachen lieber vom "Simultanismus" und schufen vor gut hundert Jahren Pionierwerke der Abstraktion: In bunten konzentrischen Kreisen, Dreiecken oder Rechtecken erforschten sie Zusammenspiel und Wirkung von Primärfarben, Mischtönen und Komplementärkontrasten, brachten Leinwände zum Leuchten und Formen zum Tanzen. Robert und Sonia Delaunays Bilder der Jahre 1913 oder '14 ähneln sich. Doch der ganz gewöhnliche Sexismus und die außergewöhnliche Vielfalt des Werks von Sonia Delaunay sicherten erst einmal nur Robert einen herausragenden Platz in der Kunstgeschichte, sagt Anne Montfort, eine der beiden Kuratorinnen der Pariser Ausstellung:
    "Als die Geschichte der modernen Kunst in den 1950er Jahren geschrieben wurde, waren die Autoren Männer. Diesen Kunsthistorikern ging es darum, die moderne Kunst in die Tradition der Malerei einzureihen. Sonias Problem war, dass sie nicht nur malte, sondern auch enorm viele andere Sachen machte, zum Beispiel Mode. Das disqualifizierte sie in den Augen der Kunsthistoriker, die meinten, sie würde die große Kunst vulgarisieren."
    Sonia Delaunay deklinierte die Prinzipien der abstrakten Malerei nicht nur auf der Leinwand durch, sondern transportierte sie in den Alltag. Eine Patchwork-Babydecke für ihren Sohn Charles gestaltete sie 1911 wie die Bilder des Simultanismus als eine abstrakte Farben- und Formenlandschaft – nur eben aus Stoff und nicht mit dem Pinsel. Als eine Art "living sculpture" trug sie von ihrer Malerei inspirierte Kleider – sogenannte "robes simultanées" - auf den Bällen des Pariser Nachtlebens und verewigte diese dann wieder in Gemälden wie dem großformatigen "Bal Bullier". Kontinuierlich erweiterte sie die Grenzen der Kunst: Sonia Delaunay kreierte Bühnenkostüme für die ballets russes in Paris, sie entwarf Stoffe und Kleider mit farbenfrohen geometrischen Mustern und inszenierte sie 1925 in einem der ersten Farbfilme der Geschichte, der jetzt frisch restauriert in der Pariser Ausstellung zu sehen ist.
    Beim Gang durch die Retrospektive im Pariser Musée d'Art moderne wird deutlich: Die Kunst von Sonia Delaunay ist ein Gesamtkunstwerk, das fast alle Bereiche des modernen Lebens erfasst. Für die Weltausstellung 1937 zum Beispiel malt sie farbenfrohe Elogen auf die Luftfahrt – Flugzeugmotoren, Propeller und ein Cockpit. Und nach dem Krieg wird in Sonia Delaunays Malerei auch die Musik ihrer Zeit sichtbar. Ihr Sohn Charles ist ein großer Jazz-Experte und führt sie ein in die Welt des Hot Jazz von Django Reinhardt und Co.
    "Sonia ging auf alle Konzerte. Und der Rhythmus ihrer Malerei der 40er- und 50er-Jahre, das Ruckartige, die sich wiederholenden Formen, erinnern an die Musik, die sie damals hörte."
    "Rythme couleur" - "Rhythmus Farbe" nannte sie diese Bilder, mit denen sie ab den späten 60er Jahren auch endlich die Anerkennung fand, die ihr Kunsthistoriker und -kritiker lange verwehrt hatten - als Pionierin der abstrakten Kunst, die ihrem 1941 gestorbenem Mann in nichts nachstand. Im Gegenteil. Sonia Delaunay war eine der innovativsten und experimentierfreudigsten Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts - besser als in der umfassenden und lange überfälligen Pariser Retrospektive kann man das nicht zeigen.
    Sonia Delaunay - Les Couleurs de l'abstraction
    Retrospektive auf das Werk von Sonia Delaunay im Pariser Musée d'art moderne, noch bis 22. Februar 2015