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Sonnenstadt der Träume

"In Minsk wurde die Utopie des Kommunismus in seiner Reinform umgesetzt", erklärt Schriftsteller und Künstler Artur Klinau. Während des Zweiten Weltkriegs fast komplett zerstört, konnte die Stadt von Neuem errichtet werden. Die Folge: Ein Mix aus Barock, Renaissance und Klassizismus.

Von Pauline Tillmann | 12.08.2012
    Wenn man durch die Straßen von Minsk läuft, fühlt man sich klein. Es ist als ob man sich in "Gullivers Reisen" verirrt habe. Die Gebäude wirken groß, mächtig, monumental, epochal. Man selber fühlt sich klein und unbedeutend. Und das hat seinen Sinn. Denn Minsk wurde nicht für einen einzelnen Menschen erbaut, sondern für das Kollektiv. "In Minsk wurde die Utopie des Kommunismus in seiner Reinform umgesetzt", erklärt Schriftsteller und Künstler Artur Klinau.

    "Es gibt zwei große Unterschiede: Daran zu glauben, dass alles ideal ist und so wie es in Wirklichkeit ist. In meinem Buch geht es darum, dass es in Wirklichkeit alles andere als ideal war, aber alle haben daran geglaubt, dass es ideal war. Deshalb wurde hier währen der Sowjetzeit die Utopie des gemeinschaftlichen Glücks umgesetzt – alle glaubten fest daran, dass ihr Leben toll sei."

    Artur Klinau ist 47 Jahre alt und gehört in Belarus zu den einflussreichsten Intellektuellen. Sein Buch "Sonnenstadt der Träume" ist im Suhrkamp-Verlag erschienen. Damit ist ihm gelungen, was vielen belarussischen Schriftstellern nicht gelingt – er hat es zu gewisser Bekanntheit geschafft, und zwar über Landesgrenzen hinaus.

    "Die Sonnenstadt ist ein einzigartiges urbanes Projekt, das es in Europa kein zweites Mal gibt. Wenn wir von der Architektur sprechen, sprechen wir von einer nahezu perfekten Stadt, einer Stadt der Träume. Natürlich kann es die absolut perfekte Stadt nicht geben, aber Minsk kommt dem Ideal schon sehr nah."

    Das hat auch damit zu tun, dass Minsk während des Zweiten Weltkriegs fast komplett zerstört worden ist. So konnte die Stadt von Neuem errichtet werden, mit dem Besten aus allen Epochen – was zu einem Mix aus Barock, Renaissance und Klassizismus geführt hat.

    "Die Stadt wurde nach dem Krieg errichtet als Stadt des Triumphs. Die Sowjetunion hat Nazi-Deutschland besiegt und das sollte man auch sehen. Die wenigen Gebäude, die aus den 30er Jahren übrig geblieben sind, unterscheiden sich sehr von den neu erbauten. Sie sind geprägt vom sowjetischen Konstruktivsmus, das heißt sie verzichten auf Verzierungen und wirken eher asketisch. Die neuen Paläste hingegen sollten Macht demonstrieren und dienten als Monumente des Sieges."

    Die meisten Gebäude im Zentrum wurden zwischen 1945 und 1955 errichtet. Nach Stalins Tod versiegte das Geld aus Moskau. Die Prachtstraße, die heutige Uliza Nezaleshnosti, führte direkt zur sowjetischen Hauptstadt und war deshalb besonders schön geschmückt. An vielen Gebäuden befinden sich opulente Stückverzierungen, häufig durchdrungen von sowjetischer Symbolik. Allerdings galt das nur für die Fassaden.

    "Die Hauptstraße war wie der Weg zum Altar, also nach Moskau. Und die musste schön sein, aber in Wirklichkeit waren die Fassaden flach. Als Spaziergänger sah man dieses Pompöse, reich Verzierte – aber sobald man in einen Hinterhof ging, entdeckte man unverputzte Ziegelsteinwände. Das hat sich mittlerweile geändert. Die meisten Wände sind inzwischen verputzt, aber natürlich bei Weitem nicht so schön ausgeschmückt wie die Fassade."

    Artur Klinau sagt: "Auf der Straße ist die Theaterbühne, hier im Hinterhof spielt das wahre Leben." Aber wen interessiert schon das wahre Leben? Im "Bolschoi Theater" von Minsk jedenfalls keinen. Auf dem Programm stehen zwei Ballettstücke von russischen Komponisten, einer von ihnen Rimski-Korsakov. Die Handlung von "Scheherazade" spielt im Orient – es geht um den Sultan, die Prinzessin und ihren Geliebten.

    Die Gesten der Schauspieler sind groß, die Kostüme bunt und die Primaballerina fast nackt. Tickets gibt es ab 80 Cent. Deshalb ist das Theater – wie jeden Abend – ausverkauft. Die Belarussen verdienen zwar nur 200 Euro im Monat, aber einen Euro fürs Theater kann sich wohl jeder leisten.

    Auch auf dem größten Markt der Stadt, dem "Kommerowsky Rinok", scheint es so, als ob Geld keine Rolle spielen würde. Die Belarussen kaufen Pilze, das Kilo für 2 Euro, Aprikosen für drei Euro und vieles, vieles mehr.

    Als ich in die benachbarte Fleischhalle gehe, bin ich erschlagen vom Raum: eine riesige Halle mit hunderten Fleischverkäufern, die ihre Waren in ungekühlten Truhen feilbieten. Bei der Süßwarenabteilung lugen Verkäuferinnen durch einen Spalt hervor. Rechts und links haben sie Kekse aufgetürmt, sodass man Angst hat, von unten etwas zu bestellen, weil das Kunstwerk wohl ansonsten zusammenbrechen würde. In der Ecke verkauft eine alte Frau Gebetsbücher. Die Orthodoxie ist eben überall.

    Natürlich auch im nationalen Kunstmuseum. Hier entdecke ich alte, wertvolle Ikonen. Aber auch Fidel Castro, der 1973 in Bronze gegossen wurde und eine größere Büste abbekommen hat als Nationaldichter Alexander Puschkin. Die Ausstellung ist geprägt von wildem Stilmix – Realismus trifft auf Expressionismus, Konstruktivismus auf abstrakte Malerei. Schulklassen schieben sich durch die Räume und plötzlich taucht eine Gruppe mit geistig Behinderten auf. Sie werden von jungen Freiwilligen an der Hand genommen. Auf den roten T-Shirts der Freiwilligen steht "Belarussian Orange Projekt" und sie tragen Namen wie Jack, Orla und Cloadgh. Sie versuchen, sich auf Englisch mit den Behinderten zu unterhalten. Eine Behinderte ruft begeistert "Karabli!" – das russische Wort für Schiffe. Eine anrührende Szene, die man so beispielsweise niemals in Russland finden würde. Denn dort werden Behinderte, egal ob körperlich oder geistig, systematisch ausgegrenzt. Ich finde, diese Szene sagt viel über die Belarussen aus. Iljas Lopato ist selber Belarusse und sagt über sein Volk:

    "Belarussen sind gutherzig, manchmal vorsichtig, haben eine breite Seele und es ist ein bisschen… warte, ich sage… sie haben Angst wie ein Hase."

    Iljas Lopato arbeitet als Journalist in Minsk. Gerade eben war der 23-Jährige mit einem Stipendium in Berlin. Seitdem fällt ihm auf, dass viele belarussische Frauen Stöckelschuhe tragen.

    Wir treffen uns am zentralen Platz der Stadt, und dieser Platz ist gleichzeitig der unheimlichste. Wie ein Monolith thront hier der "Palast der Republik". Die Scheiben schillern bronzefarben, ansonsten ist es stockduster. Wenn Staatsgäste empfangen werden, blitzt Licht auf und man merkt in dem Gebäude steckt Leben. Die meiste Zeit ist es aber tot – im Gegensatz zum Rest der Stadt. Minsk hat knapp zwei Millionen Einwohner. Die Belarussen mögen es sich zu verabreden, ins Café zu gehen und gemeinsam Tee zu trinken. Viele von ihnen sind westlich gekleidet. Manchmal vergisst man, dass das hier die "letzte Diktatur Europas" sein soll. Und doch ist die Kontrolle und vor allem auch die Angst der Menschen spürbar – an den vielen Polizisten, aber vor allem an den skeptischen Blicken, wenn man zum Beispiel eine Fotokamera in der Hand hält.

    "In Belarus ist es nicht so einfach manchmal seine eigenen Gedanken zu erzählen, weil manchmal es kann verboten sein… oder gefährlich sein… nicht verboten sondern gefährlich. Die Leute warten einfach, warten auf Zukunft, sie wissen nicht was kommt."

    Und um das Warten angenehmer zu gestalten, werden sie mit jeden Tag mit guter Musik beschallt. "So etwas wie eine Revolution wird es niemals geben", meint Schriftsteller Artur Klinau. Die Belarussen hätten zu viel Angst davor. Und vermutlich hat er Recht damit, denn von 2010 auf 2011 haben sich die Preise für Lebensmittel verdoppelt. Was machen die Belarussen? Sie nehmen es stoisch hin. Minsk ist das pulsierende Zentrum des Landes und in den Köpfen vieler Menschen ist es wohl bis heute die "Sonnenstadt der Träume": die ideale Stadt für die ideale Gesellschaft. Für mich ist es die Entdeckung des Jahres.
    Minsk Park mit Blick auf die Staatssicherheit
    Minsk Park mit Blick auf die Staatssicherheit (Pauline Tillmann)
    Der Palast der Republik in Minsk
    Der Palast der Republik in Minsk (Von Pauline Tillmann)