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Sonnenstein als Wegweiser

Nautik.- Sie hatten weder GPS noch Radar oder Kompasse. Dennoch konnten sich die Wikinger schon vor rund 1000 Jahren selbst bei schlechtem Wetter gut auf See orientieren. Eine besondere Rolle spielte dabei ein bestimmter Kristall, wie ein kanadisch-französisches Forscherteam nun herausfand.

Von Frank Grotelüschen |
    Irgendwann in der Wikingerzeit. Träge treibt das Schiff auf dem Nordatlantik. Es ist nebelig und trüb, die Männer an Bord sind verzweifelt. Wegen des Nebels können sie weder Sonne noch Sterne erkennen – weshalb sie komplett die Orientierung verloren haben und nicht mehr nach Hause finden. Doch dann reibt sich der Kleinste unter ihnen, ein Kind mit roten Haaren und kleinem Helm, die Nase – und...

    "Ja! Ich weiß was! Das machen wir, Vater!"

    "Du hast eine Idee? Los, los, raus damit!"

    Der Junge greift zu einem seltsamen Stein, einem Kristall. Er hält ihn vor die Augen, schwenkt ihn hin und her – und plötzlich weiß er, wo die Sonne steht und in welche Richtung die Männer rudern müssen. Die Mannschaft ist gerettet.

    "Du weißt Bescheid: Tu dein Bestes!"

    "Ja, ja, verlass dich drauf. Ich bring das Schiff zurück!"

    Nun, ganz so wird sich die Sache wohl nicht zugetragen haben. Aber dass die Wikinger einen wundersamen Kristall als Navigationshilfe nutzten, scheint durchaus wahrscheinlich. Zumindest haben sie sich erstaunlich gut auf hoher See zurecht gefunden und es sogar bis nach Amerika geschafft – und das trotz widrigster Bedingungen, sagt Vasudevan Lakshminarayanan, indischstämmiger Physiker an der University of Waterloo in Kanada.

    "Besonders im Winter ist der Nordatlantik meist bewölkt, und es ist ziemlich dunkel. Wie lässt sich unter solchen Bedingungen die Sonne ausmachen, um mit ihrer Hilfe zu navigieren? Bedenken Sie: Den Magnetkompass gab es zu Wikingerzeiten noch nicht. Der wurde erst ein paar hundert Jahre später erfunden."

    Die Spur fand sich in den Sagen der Wikinger. Sie erzählen vom Sonnenstein – einem seltsamen Kristall, der den Seefahrern bei der Orientierung geholfen haben soll. Als Kandidat dafür gilt schon seit längerem der Doppelspat. Hinter ihm sieht man alles doppelt, daher der Name – was mit einer besonderen Art der Lichtbrechung zu tun hat.

    "Im Gegensatz zu Glas oder Wasser bricht der Doppelspat einen Lichtstrahl nicht nur in eine Richtung, sondern in zwei verschiedene. Er teilt den Lichtstrahl also auf. Der Grund dafür ist die Polarisation des Lichtes, also die Schwingungsebene, in der eine Lichtquelle schwingt. Der Doppelspat hat die Eigenschaft, unterschiedlich polarisiertes Licht in verschiedene Richtungen zu brechen."

    Das Entscheidende: Das eigentlich unpolarisierte Sonnenlicht wird beim Durchgang durch die Wolken teilweise polarisiert. Und genau diese Polarisierung verrät, wo die Sonne gerade steht – vorausgesetzt, man hat einen Doppelspat zur Hand.

    "Dreht man den Kristall vor dem Auge hin und her, findet man eine Art neutralen Punkt – den Winkel, bei dem die beiden Strahlen etwa gleich hell sind. Und das ist genau der Winkel, wo die Lichtquelle steckt, also die Sonne. Unsere Experimente jedenfalls haben gezeigt, dass sich damit der Sonnenstand selbst bei starker Bewölkung bis auf ein oder zwei Grad genau bestimmen lässt."

    Der endgültige Beweis, dass die Wikinger den Sonnenstein tatsächlich zum Navigieren nutzten, ist das zwar noch nicht. Für die These allerdings spricht ein Fund aus dem Jahr 1977.

    "Nahe der Kanalinsel Alderney wurde damals das Wrack eines Schiffes aus dem 16. Jahrhundert entdeckt. Und an Bord dieses Schiffes fand man ein gut erhaltenes Exemplar eines Sonnensteins – ein Doppelspat aus Island."

    Was dafür sprechen könnte, dass die Legende Recht hat und auch schon die Wikinger den Trick mit dem Doppelspat kannten. Vasudevan Lakshminarayanan jedenfalls ist sich seiner Sache sicher:

    "Irgendein schlauer Wikinger hat entdeckt, dass wenn man durch diesen Stein hindurch guckt, man die Position der Sonne ausfindig machen kann. Und das war ziemlich clever!"

    Und wer weiß – vielleicht war dieser clevere Wikinger ja doch der Junge mit den roten Haaren und dem kleinen Helm.

    "Ich hab's!"