Dazu läuft in einer brüllenden Lautstärke Chalga-Musik, jene Mischung von Romablasmusik, griechischen, türkischen, bulgarischen Klängen, aufgemotzt mit vibrierenden Bässen und Technobeats. Immer wieder unterbricht der DJ die Musik mit aufpeitschenden Ansagen. Eine Musikband formiert sich. Die Sängerin, ein Saxofonist, ein Bouzouki-Spieler und ein Trommler tragen ihre Instrumente zu den Gästen an die Tische, wo sie zum Playback des DJs Soloeinlagen liefern. Auch die Schönheiten bewegen sich von ihrem Podest herunter und tanzen an denjenigen Tischen, wo besonders viel konsumiert wird. Die Gäste stehen auf, klatschen in die Hände. Ein Kellner wirft Serviettenbündel in die Luft und lässt sie wie Konfetti auf den Tisch regnen.
"Sin City" ist das bulgarische Zentrum des Chalga, der bulgarischen Popmusik. Auch wenn Bulgarien mittlerweile EU-Mitglied ist, ergötzen sich offenbar immer noch viele an den Attributen der turbokapitalistischen Nachwende-Gesellschaft. Die Botschaft: Alles ist erlaubt. Natürlich stehen vor der Tür des "Sin City" teure Sportflitzer, die Sicherheitsleute verbreiten bewusst einen Hauch von Mafia und Balkanhölle.
"Die Grundstock der Musik ist Folklore, meine Ideen stammen aus dem gesamten Balkan. Nicht nur aus Bulgarien, sondern auch aus Griechenland, der Türkei und Ex-Jugoslawien."
Am Tresen sitzt Svetoslav Loboski. Er komponiert diese Art von Musik für die bulgarische Plattenfirma Payner Music, einer der größten Anbieter von Chalga. Ein Drittel aller Songs der Firma stammen von ihm. Die Interpreten, für die er schreibt, sind in Bulgarien berühmt. Sie heißen Ivana, Preslava oder Veselin Marinov.
"Die rufen bei mir an und bestellen die Musik, die sie haben wollen: Balladen oder schnelle Tänze."
Loboski sieht mit seinen schwarzen Locken, dem weißen Poloshirt und der weißen Hose aus wie ein italienischer Playboy. Gelernt hat er klassisches Klavier und klassische Gitarre, seine Stücke produziert er zu Hause per Computer und Keyboard. Die Chalga-Musik entstand erst nach der Wende; zu sozialistischen Zeiten war diese Form von Unterhaltungsmusik tabu.
"Vor der Wende gab es nur bulgarischen Schlager und klassische Folklore. Wir hatten auch keine Sängerinnen, die so etwas interpretieren konnten, daher kannten wir solche Pop-Folk-Musik nur aus dem Ausland."
Sofia wirkt trotz einer Million Einwohner nicht wie eine Metropole, die vielen engen Straßen mit den Stadtvillen verbreiten ein beinahe kleinstädtisches Flair. Entlang der Hauptstraße, die das Zentrum durchzieht, sind wie Perlen an einer Schnur die kulturellen Schätze der Hauptstadt Bulgariens aufgereiht: die Löwenbrücke, die Mineralbäder, dahinter die Banja-Baschi-Moschee, Treffpunkt für die muslimische Minderheit. Gleich gegenüber steht hinter der Markthalle die alte Synagoge; sie ist eine der größten in ganz Europa.
Wenige Meter weiter steht wie eine Insel im Verkehr die Kirche der heiligen Nedelja. Hier, an der alten Karawanenstraße, die noch vor zweihundert Jahren die Metropole Istanbul mit den westlichen Ausläufern des osmanischen Reiches verband, treffen seit ehedem Kulturen aus Ost und West aufeinander.
Der kleine Stadtpark vor dem Nationaltheater ist der wohl schönste Ort in ganz Sofia. Hier sprudeln die Springbrunnen, alte Männer sitzen beim Schachspiel zusammen und Liebespärchen halten sich an der Hand. Eine Polizeikapelle spielt. Dobrin Atanasov kommt atemlos mit seinem Mountainbike um die Ecke gesaust. Er sieht aus wie Che Guevara als Fahrradkurier: schwarzer Vollbart, schwarze Haare. Eine verspiegelte Sonnenbrille, graues T-Shirt, schwarzer Rucksack. Er entschuldigt sich für die Verspätung.
" Ihr habt S-Bahnen und U-Bahnen, und ihr könnt sehr schnell durch die Stadt fahren. Hier aber verliert man im Stadtverkehr unglaublich viel Zeit. Jetzt geht es noch. Aber nach den Sommerferien ist der Verkehr hier die Hölle, ab September. "
Dobrin Atanasov ist Installationskünstler, er arbeitet mit Licht, mit Videos und Fotos, und er malt. Als er seine Sonnenbrille hochschiebt, zeigen sich nachdenkliche, dunkelbraune Augen. Trotz seiner 30 Jahre ist Dobrin Atanasov bereits Assistenzprofessor an der Universität von Sofia, wo er zeitgenössische Kunst lehrt. Nebenbei hat er seine eigene Plattenfirma und spielt in dem Gitarrenduo Dobri & Pitkin.
Dobrin Atanasov ist der Prototyp des jungen, dynamischen Kulturschaffenden in den aufstrebenden Ländern Osteuropas. Wir gehen in sein Lieblingscafé, das im Garten des Hauses von Nationaldichter Ivan Vasov liegt. Wie alle Balkanstaaten bezieht auch Bulgarien einen wichtigen Teil seiner nationalen Identität durch die Aufstände im 19. Jahrhundert gegen die osmanischen Besatzung. Ivan Vasov hat diese Zeit der nationalen Wiedergeburt in Büchern verarbeitet. Dobrin Atanasov bestellt ein Bier und erzählt von seiner Jugend in einem kleinen Dorf mitten im Balkangebirge. Schon als kleiner Junge hat er gezeichnet, später lernte er die Holzschnitzerei - und, wie man Ikonen malt.
"Mein Urgroßvater war Ikonenmaler, das ist jetzt 100 Jahre her. Noch heute werden in dem Dorf Gábrovo, wo meine Eltern wohnen, Ikonen von ihm verkauft. Aber das hat nichts mit der Frage zu tun, ob man an Gott glaubt oder nicht. Die Ikonenmalerei ist Teil unserer Kultur. Der Glaube ist eine persönliche Sache."
Im ehemals sozialistischen Bulgarien ist der Glaube an Gott nicht besonders ausgeprägt. Dobrin Atanasov ist nicht religiös - jedenfalls nicht im Sinne der kirchlichen Lehre.
"Jeder von uns glaubt an irgendetwas. Ich kann für mich nicht sagen, was es ist. Ich suche nach irgendetwas, ich suche nach meinem Weg. Und ich glaube, dass mein Weg eng mit der Kunst verknüpft ist."
Die bulgarische Kirche hat mit Nachwuchsproblemen zu kämpfen. Die Besucher in der Kirche der heiligen Nedelja sind allesamt schon im gehobenen Alter. Dennoch darf man die kulturelle Bedeutung der orthodoxen Kirche in Bulgarien nicht unterschätzen: Hier begann die Christianisierung Osteuropas, hier liegen die Ursprünge der kyrillischen Schrift. In den seit tausend Jahren gesungenen Liedern des Chores spiegelt sich die byzantinische Epoche.
Auf einer Bank vor der Kirche sitzt die US-Amerikanerin Angela Rodel. Sie lebt seit acht Jahren in Sofia. Seit sie in den 90er Jahren zum ersten Mal den Gesang der berühmten Frauenchöre hörte, ist sie der bulgarischen Musik verfallen. Die Gesänge der bulgarischen Frauen sind weltweit einzigartig, so dass sogar eine Tonaufnahme davon an Bord der Raumsonde Voyager in das Weltall geschossen wurde - als Erbe der Menschheit.
Angela Rodel hat Musikethnologie studiert und schreibt an ihrer Doktorarbeit über bulgarische Musik. Sie hat beobachtet, wie nach der Wende die moderne Popmusik entstand. Als Bulgarien noch kommunistisch war, wurde Hochkultur gefördert. Dafür hatten die Künste als Propagandainstrument zu dienen, reine Unterhaltung war verpönt. Dafür genossen die Musiker eine erstklassige Ausbildung und bereiteten sich auf ein festes Engagement vor. Dann kam die Wende.
"Plötzlich haben sie keinen Job mehr als Folklore-Musiker mehr bekommen, obwohl sie 20 Jahre lang an ihrem virtuosen Spiel gearbeitet haben. Außer sie spielen Popmusik, was für sie Trash ist, Unterschichten-Musik. Intellektuelle sahen 23-jährige Musikmanager plötzlich in Jeeps herumfahren, dabei hatten die nicht einmal Universitätsabschluss. Es war für sie traumatisch, wie ihr Wertesystems völlig zerstört wurde."
Doch mit der Annäherung an Europa und dem EU-Beitritt vor anderthalb Jahren hat sich Bulgarien verändert, und das hat sich sogar auf die Popmusik ausgewirkt. Sie ist gesellschaftsfähig geworden.
"Es wird mehr und mehr wie Popmusik überall auf der Welt. Früher war Chalga viel lokaler. Ein Grund ist sicherlich das Verschwinden der Mafia-Gesellschaft Ende der 90er Jahre. Heute haben die meisten ihre Geschäfte legalisiert. Und jetzt gibt es die Neuen Reichen, die einen besseren Geschmack haben als früher diese Hardcore-Gangster."
Am Eingang zur U-Bahn stehen drei Frauen und tragen traurige Volkslieder vor. Ab und zu erhalten sie ein Geldstück. Obwohl die Gegensätze zwischen Arm und Reich sehr groß sind, sieht man keine Bettler auf der Straße. Immer wird eine Gegenleistung erbracht.
Im Restaurant Chevermeto im Süden der Stadt wird heute ein Folklore-Abend gegeben. Nedyalko Nedyalkov spielt die bulgarische Langhalsflöte, die so genannte Kaval. Der Enddreißiger mit dem schmalen Vollbart ist einer jener Folklore-Musiker, die noch vor der Wende ausgebildet wurden und dann ohne Job dastanden. Seit er einen europäischen Pass hat, reist Nedyalkov durch die Welt und schaut sich nach Engagements um. Er hat Musik mit einem schottischen Dudelsackensemble gemacht, er war in Mexiko, in Kanada und in Berlin. Erstaunt hat ihn, dass Balkanklänge in Westeuropa so beliebt sind. Natürlich kannte er die Musik von Goran Bregovic, der traditionelle Roma-Musik neu aufnahm und damit großen Erfolg hatte. Doch dass die bulgarische Chalga-Popmusik ein naher Verwandter jener mitreißenden Blasmusik ist, ist ihm erst jetzt klargeworden. Inzwischen hat er seinen Frieden mit der bulgarischen Popmusik gemacht. Er bemüht sich um eine neue Sichtweise auf das Reizwort, das Chalga für manche Bulgaren immer noch ist.
"Das Wort Chalga heißt Musizieren. Es ist ein türkisches Wort. Aber wenn Bulgaren das Wort Chalga benutzen, meinen sie schlechte Musik. Sie meinen: Das ist Trash. Aber Chalga ist nichts Schlechtes. Chalga Ji heißt türkisch Musiker. Wenn sie sagen: Er ist Chalga Ji, meinen sie: Er ist ein Musiker."
Und so wird das Wort Chalga wohl bald zu einem Synonym für die Musik des Balkan werden, die so wild ist und gleichzeitig so gefühlvoll. Wie Bulgarien selbst, das Land, in dem so viele Kulturen aufeinandertreffen. Und das dennoch Teil Europas ist.
"Sin City" ist das bulgarische Zentrum des Chalga, der bulgarischen Popmusik. Auch wenn Bulgarien mittlerweile EU-Mitglied ist, ergötzen sich offenbar immer noch viele an den Attributen der turbokapitalistischen Nachwende-Gesellschaft. Die Botschaft: Alles ist erlaubt. Natürlich stehen vor der Tür des "Sin City" teure Sportflitzer, die Sicherheitsleute verbreiten bewusst einen Hauch von Mafia und Balkanhölle.
"Die Grundstock der Musik ist Folklore, meine Ideen stammen aus dem gesamten Balkan. Nicht nur aus Bulgarien, sondern auch aus Griechenland, der Türkei und Ex-Jugoslawien."
Am Tresen sitzt Svetoslav Loboski. Er komponiert diese Art von Musik für die bulgarische Plattenfirma Payner Music, einer der größten Anbieter von Chalga. Ein Drittel aller Songs der Firma stammen von ihm. Die Interpreten, für die er schreibt, sind in Bulgarien berühmt. Sie heißen Ivana, Preslava oder Veselin Marinov.
"Die rufen bei mir an und bestellen die Musik, die sie haben wollen: Balladen oder schnelle Tänze."
Loboski sieht mit seinen schwarzen Locken, dem weißen Poloshirt und der weißen Hose aus wie ein italienischer Playboy. Gelernt hat er klassisches Klavier und klassische Gitarre, seine Stücke produziert er zu Hause per Computer und Keyboard. Die Chalga-Musik entstand erst nach der Wende; zu sozialistischen Zeiten war diese Form von Unterhaltungsmusik tabu.
"Vor der Wende gab es nur bulgarischen Schlager und klassische Folklore. Wir hatten auch keine Sängerinnen, die so etwas interpretieren konnten, daher kannten wir solche Pop-Folk-Musik nur aus dem Ausland."
Sofia wirkt trotz einer Million Einwohner nicht wie eine Metropole, die vielen engen Straßen mit den Stadtvillen verbreiten ein beinahe kleinstädtisches Flair. Entlang der Hauptstraße, die das Zentrum durchzieht, sind wie Perlen an einer Schnur die kulturellen Schätze der Hauptstadt Bulgariens aufgereiht: die Löwenbrücke, die Mineralbäder, dahinter die Banja-Baschi-Moschee, Treffpunkt für die muslimische Minderheit. Gleich gegenüber steht hinter der Markthalle die alte Synagoge; sie ist eine der größten in ganz Europa.
Wenige Meter weiter steht wie eine Insel im Verkehr die Kirche der heiligen Nedelja. Hier, an der alten Karawanenstraße, die noch vor zweihundert Jahren die Metropole Istanbul mit den westlichen Ausläufern des osmanischen Reiches verband, treffen seit ehedem Kulturen aus Ost und West aufeinander.
Der kleine Stadtpark vor dem Nationaltheater ist der wohl schönste Ort in ganz Sofia. Hier sprudeln die Springbrunnen, alte Männer sitzen beim Schachspiel zusammen und Liebespärchen halten sich an der Hand. Eine Polizeikapelle spielt. Dobrin Atanasov kommt atemlos mit seinem Mountainbike um die Ecke gesaust. Er sieht aus wie Che Guevara als Fahrradkurier: schwarzer Vollbart, schwarze Haare. Eine verspiegelte Sonnenbrille, graues T-Shirt, schwarzer Rucksack. Er entschuldigt sich für die Verspätung.
" Ihr habt S-Bahnen und U-Bahnen, und ihr könnt sehr schnell durch die Stadt fahren. Hier aber verliert man im Stadtverkehr unglaublich viel Zeit. Jetzt geht es noch. Aber nach den Sommerferien ist der Verkehr hier die Hölle, ab September. "
Dobrin Atanasov ist Installationskünstler, er arbeitet mit Licht, mit Videos und Fotos, und er malt. Als er seine Sonnenbrille hochschiebt, zeigen sich nachdenkliche, dunkelbraune Augen. Trotz seiner 30 Jahre ist Dobrin Atanasov bereits Assistenzprofessor an der Universität von Sofia, wo er zeitgenössische Kunst lehrt. Nebenbei hat er seine eigene Plattenfirma und spielt in dem Gitarrenduo Dobri & Pitkin.
Dobrin Atanasov ist der Prototyp des jungen, dynamischen Kulturschaffenden in den aufstrebenden Ländern Osteuropas. Wir gehen in sein Lieblingscafé, das im Garten des Hauses von Nationaldichter Ivan Vasov liegt. Wie alle Balkanstaaten bezieht auch Bulgarien einen wichtigen Teil seiner nationalen Identität durch die Aufstände im 19. Jahrhundert gegen die osmanischen Besatzung. Ivan Vasov hat diese Zeit der nationalen Wiedergeburt in Büchern verarbeitet. Dobrin Atanasov bestellt ein Bier und erzählt von seiner Jugend in einem kleinen Dorf mitten im Balkangebirge. Schon als kleiner Junge hat er gezeichnet, später lernte er die Holzschnitzerei - und, wie man Ikonen malt.
"Mein Urgroßvater war Ikonenmaler, das ist jetzt 100 Jahre her. Noch heute werden in dem Dorf Gábrovo, wo meine Eltern wohnen, Ikonen von ihm verkauft. Aber das hat nichts mit der Frage zu tun, ob man an Gott glaubt oder nicht. Die Ikonenmalerei ist Teil unserer Kultur. Der Glaube ist eine persönliche Sache."
Im ehemals sozialistischen Bulgarien ist der Glaube an Gott nicht besonders ausgeprägt. Dobrin Atanasov ist nicht religiös - jedenfalls nicht im Sinne der kirchlichen Lehre.
"Jeder von uns glaubt an irgendetwas. Ich kann für mich nicht sagen, was es ist. Ich suche nach irgendetwas, ich suche nach meinem Weg. Und ich glaube, dass mein Weg eng mit der Kunst verknüpft ist."
Die bulgarische Kirche hat mit Nachwuchsproblemen zu kämpfen. Die Besucher in der Kirche der heiligen Nedelja sind allesamt schon im gehobenen Alter. Dennoch darf man die kulturelle Bedeutung der orthodoxen Kirche in Bulgarien nicht unterschätzen: Hier begann die Christianisierung Osteuropas, hier liegen die Ursprünge der kyrillischen Schrift. In den seit tausend Jahren gesungenen Liedern des Chores spiegelt sich die byzantinische Epoche.
Auf einer Bank vor der Kirche sitzt die US-Amerikanerin Angela Rodel. Sie lebt seit acht Jahren in Sofia. Seit sie in den 90er Jahren zum ersten Mal den Gesang der berühmten Frauenchöre hörte, ist sie der bulgarischen Musik verfallen. Die Gesänge der bulgarischen Frauen sind weltweit einzigartig, so dass sogar eine Tonaufnahme davon an Bord der Raumsonde Voyager in das Weltall geschossen wurde - als Erbe der Menschheit.
Angela Rodel hat Musikethnologie studiert und schreibt an ihrer Doktorarbeit über bulgarische Musik. Sie hat beobachtet, wie nach der Wende die moderne Popmusik entstand. Als Bulgarien noch kommunistisch war, wurde Hochkultur gefördert. Dafür hatten die Künste als Propagandainstrument zu dienen, reine Unterhaltung war verpönt. Dafür genossen die Musiker eine erstklassige Ausbildung und bereiteten sich auf ein festes Engagement vor. Dann kam die Wende.
"Plötzlich haben sie keinen Job mehr als Folklore-Musiker mehr bekommen, obwohl sie 20 Jahre lang an ihrem virtuosen Spiel gearbeitet haben. Außer sie spielen Popmusik, was für sie Trash ist, Unterschichten-Musik. Intellektuelle sahen 23-jährige Musikmanager plötzlich in Jeeps herumfahren, dabei hatten die nicht einmal Universitätsabschluss. Es war für sie traumatisch, wie ihr Wertesystems völlig zerstört wurde."
Doch mit der Annäherung an Europa und dem EU-Beitritt vor anderthalb Jahren hat sich Bulgarien verändert, und das hat sich sogar auf die Popmusik ausgewirkt. Sie ist gesellschaftsfähig geworden.
"Es wird mehr und mehr wie Popmusik überall auf der Welt. Früher war Chalga viel lokaler. Ein Grund ist sicherlich das Verschwinden der Mafia-Gesellschaft Ende der 90er Jahre. Heute haben die meisten ihre Geschäfte legalisiert. Und jetzt gibt es die Neuen Reichen, die einen besseren Geschmack haben als früher diese Hardcore-Gangster."
Am Eingang zur U-Bahn stehen drei Frauen und tragen traurige Volkslieder vor. Ab und zu erhalten sie ein Geldstück. Obwohl die Gegensätze zwischen Arm und Reich sehr groß sind, sieht man keine Bettler auf der Straße. Immer wird eine Gegenleistung erbracht.
Im Restaurant Chevermeto im Süden der Stadt wird heute ein Folklore-Abend gegeben. Nedyalko Nedyalkov spielt die bulgarische Langhalsflöte, die so genannte Kaval. Der Enddreißiger mit dem schmalen Vollbart ist einer jener Folklore-Musiker, die noch vor der Wende ausgebildet wurden und dann ohne Job dastanden. Seit er einen europäischen Pass hat, reist Nedyalkov durch die Welt und schaut sich nach Engagements um. Er hat Musik mit einem schottischen Dudelsackensemble gemacht, er war in Mexiko, in Kanada und in Berlin. Erstaunt hat ihn, dass Balkanklänge in Westeuropa so beliebt sind. Natürlich kannte er die Musik von Goran Bregovic, der traditionelle Roma-Musik neu aufnahm und damit großen Erfolg hatte. Doch dass die bulgarische Chalga-Popmusik ein naher Verwandter jener mitreißenden Blasmusik ist, ist ihm erst jetzt klargeworden. Inzwischen hat er seinen Frieden mit der bulgarischen Popmusik gemacht. Er bemüht sich um eine neue Sichtweise auf das Reizwort, das Chalga für manche Bulgaren immer noch ist.
"Das Wort Chalga heißt Musizieren. Es ist ein türkisches Wort. Aber wenn Bulgaren das Wort Chalga benutzen, meinen sie schlechte Musik. Sie meinen: Das ist Trash. Aber Chalga ist nichts Schlechtes. Chalga Ji heißt türkisch Musiker. Wenn sie sagen: Er ist Chalga Ji, meinen sie: Er ist ein Musiker."
Und so wird das Wort Chalga wohl bald zu einem Synonym für die Musik des Balkan werden, die so wild ist und gleichzeitig so gefühlvoll. Wie Bulgarien selbst, das Land, in dem so viele Kulturen aufeinandertreffen. Und das dennoch Teil Europas ist.