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"Sonst holen Dich die Zigeuner…"

In Tschechien und der Slowakei leben viele Roma-Familien in abgeschlossenen Siedlungen ohne viel Kontakt zum Rest der Bevölkerung. Zwei Autorinnen und ein Zeichner vermitteln nun die Welt der Roma in Bildern und wagen sich damit auf das noch recht unbeschrittene Terrain des Doku-Comics vor.

Von Christina Janssen | 13.09.2010
    Für das ungewöhnliche Projekt haben sich zwei junge Autorinnen zusammengetan: Die Roma-Wissenschaftlerin Masa Borkovcova und ihre Mitstreiterin Marketa Hajska erzählen in ihrer Comic-Trilogie keine Heldengeschichten, sondern zeigen den Alltag der Roma in Tschechien und der Slowakei.

    "Unsere Absicht war es, die Lebensgeschichten konkreter Personen zu vermitteln", sagt Autorin Masa Borkovcova. "Dazu haben wir Menschen ausgewählt, die wir schon lange persönlich kennen, die sehr unterschiedliche Lebensgeschichten haben und von denen wir wussten, dass sie gut erzählen können. Denn wir sind der Ansicht, dass die Stimme der Roma in der tschechischen Gesellschaft unterrepräsentiert ist."

    In einem der drei Bände lernen die Leser Keva kennen, eine junge Frau aus Prag. Auf der Grundlage von Familienfotos haben die Autorinnen gemeinsam mit Zeichner Vojtech Masek Kevas Lebensgeschichte bebildert: Es geht um ihre Erfahrung im Kinderheim, um Kriminalität und Diskriminierung in der Schule, aber auch um das, was das typische Teenagerleben ausmacht: um Liebe und Träume. Die anspruchsvollen Schwarz-Weiß-Zeichnungen werden der komplexen Thematik gerecht. Die Comics sind keine leichte Kost, zielen aber dennoch auf ein breites Publikum:

    "Uns erschien die Form des Comics sofort ideal", sagt die Sozialanthropologin Marketa Hajska, "weil sich durch sie die Lebensumstände der Roma plastischer darstellen lassen als in einer literarischen Beschreibung. Und außerdem ist ein Comic eine sehr zugängliche Form – im Unterschied etwa zu einem Dokumentarfilm."

    Masa Borkovcova ergänzt: "Außerdem gibt es kaum original tschechische Comics für Erwachsene. Wir haben hier eine lange Kindercomic-Tradition, aber für Erwachsene gibt es fast nichts. Meines Wissens sind wir die ersten, die einen solchen Dokumentar-Comic überhaupt gemacht haben."
    Abseits von Klischees und Stereotypen gibt es in Tschechien und der Slowakei keinen nennenswerten Diskurs über das Zusammenleben von Minderheit und Mehrheitsgesellschaft. Die Lebenswelten überschneiden sich kaum, vielerorts leben die Roma in weitgehend abgeschlossenen Siedlungen oder Slums. Als Freunde, Kollegen oder nette Nachbarn kennen die Tschechen die Roma deshalb praktisch nicht. "Wenn Du nicht brav bist", lautet ein typischer Elternspruch, "dann holen Dich die Zigeuner ... ."

    Masa Borkovcova sagt dazu: "Das Thema der sozialen Ausgeschlossenheit ist in der Trilogie sehr präsent, vor allem in den Bänden über Keva und Ferka. Armut und auch eine starke Familienbindung sind für viele Roma ein wichtiges Thema. Auf der anderen Seite wollten wir aber vor allem die Geschichten ganz konkreter Menschen erzählen. Sie machen deutlich, dass die gängigen Stereotype eben nicht auf alle Roma zutreffen, wenn man genauer hinschaut."

    Von den tschechischen Feuilletons wurde die Trilogie einhellig mit Begeisterung aufgenommen. Einige Leser reagierten auf die Publikation indessen kritisch:

    "Oft waren die Leute überrascht, dass wir nicht das positive Roma-Bild zeichnen, das sie vielleicht erwartet hatten. Sondern dass wir – bewusst - auch die widersprüchlichen Seiten unserer Comic-Helden gezeigt haben", berichtet Masa Borkovcova.

    Das aber, ohne die prekäre Situation der Roma in Tschechien zu relativieren: Organisationen wie Amnesty International sprechen immer wieder von systematischer Diskriminierung. Zwar ist der Lebensstandard der Roma in der Slowakei dramatisch schlechter, doch die soziale Ausgrenzung hat in Tschechien nach Einschätzung vieler Experten in den vergangenen zehn Jahren zugenommen. Die neue Comic-Trilogie spricht politische Themen zwar nicht direkt an – vielleicht ist sie aber gerade deshalb ein wichtiger Beitrag zur aktuellen europäischen Debatte.

    Masa Borkovcova: "Sowohl Frankreich als auch Rumänien beschäftigen sich vor allem mit der Frage, wie man Menschen loswerden kann, die Schwierigkeiten machen. Und nicht damit, wie man denjenigen helfen kann, die Hilfe brauchen. Es geht in der politischen Debatte aus meiner Sicht vor allen Dingen darum, die Perspektive zu wechseln: nicht abschieben, sondern integrieren."