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Sopranistin Birgit Nilsson
Ein einzigartiges Phänomen

Wie ein Blitzschlag im Himmel: Die Stimme von Birgit Nilsson war phänomenal außergewöhnlich - und darum auch nur schwer aufzunehmen. Neu erschienene live-Aufnahmen kommen der echten Naturgewalt jetzt so nah wie keine Studioproduktion zuvor.

Von Jürgen Kesting | 03.10.2018
    Birgit Nilsson blickt ergriffen nach oben, hält die Hände vor ihren Hals.
    Birgit Nilsson als Elektra an der Royal Opera (Zoe Dominic)
    "Ihre Stimme schien mir aufzuleuchten wie ein Blitzschlag am Himmel", sagte Plácido Domingo 2009 über Birgit Nilsson bei einer Dankesrede für Birgit Nilsson, mit der vierzig Jahre zuvor zum ersten Mal gesungen hatte: in "Turandot". Ihm war gerade der mit einer Million Dollar dotierte Preis übergeben worden, den die schwedische Sopranistin ausgelobt hatte. Domingos Rede setzt gleichsam den Ton für ein opulent ausgestattetes Buch zum 100. Geburtstag der Sängerin, in dem auf 700 Seiten Erinnerungen, Huldigungen und Kränze von Chronisten, Kollegen und Weggefährten ihrer fast vier Jahrzehnte langen Laufbahn zu lesen sind: "Wahrhaftig ein Wunder ... force of nature ... eine wie sie wird es nie wieder geben." Aus allen Beiträgen geht hervor, dass Birgit Nilsson die Antwort auf die Frage war, wie Partien zu singen sind, die – mit einem Satz von Richard Wagner zu sprechen – "auf das Gelingen des Unmöglichen abgesehen sind" wie Brünnhilde und Isolde, Elektra und Turandot. Ihre Stimme konnte aber nicht nur aufleuchten wie ein Blitz, sondern auch lyrisch leuchten wie in der Szene, in Isolde erzählt, dass es Tristans Blick war, der ihr das Schwert, mit dem sie ihn töten wollte, aus der Hand nahm: "Er sah mir in die Augen".
    Musik: Richard Wagner, Tristan und Isolde, aus einer Bayreuther Aufführung unter Wolfgang Sawallisch 1957: "Sein Lob hörtest du eben"
    Termingerecht zum 17. Mai, dem Tag ihres Geburtstages, brachte die Deutsche Grammophon eine 71 CDS umfassende Edition mit den Aufnahmen heraus, die sie für Deutsche Grammophon, Decca und Philips gemacht hat: darunter die von Wagners Tetralogie "Der Ring des Nibelungen" unter Sir Georg Solti, die seit Ende der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts eine neue Ära der Schallplatte einleitete, sodann von Richard Strauss "Elektra" und "Die Frau ohne Schatten" und von italienischen Opern wie "Don Giovanni", "Un Ballo in Maschera", "Aida", "Tosca" und Turandot". Es entspricht der Ästhetik der Schallplatte, dass ihre Stimme, die, erinnern wir uns, wie ein Blitzstrahl aufleuchtete ... dass also ihre Stimme in den Gesamtklang des Ensembles eingefügt werden musste und auch das Orchester nicht überstrahlen durfte. Und das heißt: Sie musste dynamisch zurückgenommen werden. In einem womöglich zu flapsigen Vergleich habe ich vor langer Zeit geschrieben, dass ihre Stimme sich im Studio so entfalten konnte wie ein Porsche in einem Hinterhof.
    Wie die Klangpracht ihres dramatischen Soprans sich im weiten Rund eines Theaterraums entfaltete, ist in der soeben von Sony veröffentlichten Edition unter dem Titel "Birgit Nilsson – The Great live Recordings" zu erleben. Zu hören ist sie in neun ihrer zentralen Partien: darunter als "Fidelio"-Leonore" unter Leonard Bernstein, drei Mal als Isolde und zwei Mal als Elektra wie als Brünnhilde und als Turandot. Wie einzigartig Birgit Nilsson hinsichtlich der Energiekonzentration in der hohen Lage war, betonte Paul Jackson, der Chronist der "Metropolitan Opera Broadcasts", mit der Feststellung: "one hundred musicians bowing and blowing could not drown her". Das alliterierende Wortspiel "bowing and blowing" läßt sich nur sinngemäß übersetzen: Dass eine Hundertschaft von Streichern und Bläsern sie mit all ihren Klangwogen nicht ertränken konnte. Nun ein Moment, in dem ihre Stimme aufleuchtet wie der Blitz, den Plácido Domingo bewunderte: Isoldes Fluch.
    Musik: Richard Wagner, Tristian und Isolde, "Das wär ein Schatz" (Birgit Nilsson, Sopran; Orchester der Bayreuther Festspiele, Wolfgang Sawallisch)
    Isoldes Fluch, bei dem die Stimme blitzt wie ein Damaszener-Klinge. Allerdings ist eine aus Stahl geschmiedete und mühelos durchs Orchester schneidende Stimme nicht per se eine dramatische Stimme. Dramatik lässt sich nicht in Dezibel messen, sie liegt in der Intensität eines von innen glühenden Klangs. Übersteigt die Temperatur ihres Klangs in den Studio-Aufnahmen nur selten das körperliche Normalmaß von 37 Grad, so hat er im Theater eine Intensität, die man nur oxymoronisch beschreiben kann: als heiß-kalt. Die in eisige Höhe führende Partie der Turandot zwang sie, anders als die meisten Kolleginnen, nicht zur Selbstaufopferung. In den zwei Studio-Aufführungen unter Erich Leinsdorf und Francesco Molinari-Pradelli führt ihre Brillanz eher zu Problemlosigkeits-Problemen. Zu spüren ist, dass sie sich, nach eigenem Wort, in einer "party role" entspannt. Hingegen lässt der Mitschnitt einer Met-Aufführung unter Leopold Stokowski erkennen, wie ihre Stimme den Raum durchlodert, gerade im Unisono mit Franco Corelli. Er war im italienischen Fach der Partner, den Birgit Nilsson im deutschen Fach nur selten fand – abgesehen von einer denkwürdigen Aufführung von "Tristan und Isolde" in Orange mit Jon Vickers unter Karl Böhm, die auch in der Sony-Edition vertreten ist. Nun die Stimme der Nilsson, wie sie in eisigen Höhen glüht: mit Turandots "In questa reggia" – mit dem Orchester der Metropolita Opera unter Leopold Stokowski, mitgeschnitten am 4. März 1961.
    Musik: Giacomo Puccini, Turandot, "In questa reggia" (Birgit Nilsson, Sopran; Franco Corelli, Tenor; Orchester der Metropolitan Opera; Leopold Stokowski)
    Birgit Nilsson - The Great Live Recordings
    31 CDs
    Sony Classical