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Sorge um demokratische Legitimation Europas

Finthammer: Herr Sommer, für Sie als DGB-Chef und Noch-SPD-Mitglied, wie ich mal sagen möchte, müsste ja die vergangene Woche eine mit einer gewissen politischen Sprengkraft gewesen sein. Die SPD stürzt bei der Europawahl und der Landtagswahl in Thüringen geradezu ab. Am Dienstag aber bekommt der Kanzler auf der Jahrestagung des Bundesverbandes der Deutschen Industrie den Rücken gestärkt für seine Reformpolitik, am Mittwoch gleich unterzeichnen die führenden Vertreter der Wirtschaftsverbände im Kanzleramt den Ausbildungspakt und beerdigen ja damit die von Ihnen geforderte Ausbildungsplatzabgabe. Und am gleichen Tag werden in Bayern vier Gewerkschaftler aus der SPD ausgeschlossen, weil sie offensiv mit dem Gedanken eines eigenen Wahlbündnisses spielen. Gibt es eigentlich in dieser Liste einen Aspekt, bei dem Sie Genugtuung empfinden?

    Sommer: Nein, aber zu Ihrer Eingangsbemerkung: Ich bin SPD-Mitglied und werde es bleiben. Ich bin genau so legitimes Mitglied wie der Bundeskanzler, auch wenn wir an der einen oder anderen Stelle unterschiedliche Auffassungen haben. Das ist aber nicht der zentrale Punkt. Der zentrale Punkt ist, dass der DGB-Vorsitzende der Dachverbandsvorsitzende von Einheitsgewerkschaften ist, also jemand, der dafür sorgen muss, dass die Gewerkschaftsbewegung parteipolitisch unabhängig – nicht politisch neutral, aber parteipolitisch unabhängig ihrer Arbeit nachgeht. Und unser Ziel muss es sein, in dieser Situation, in der wir stecken, letztendlich das politische Koordinatensystem wieder von rechts stärker in die Mitte auf sozial zu schalten. Und da sind die Ereignisse, die Sie angesprochen haben, nicht zielführend. Ich fange mal an mit der Frage des Ausbildungsplatzes. Dass wir überhaupt so weit gekommen sind, hat etwas damit zu tun, dass Franz Müntefering sich in seiner Partei durchgesetzt hat und wir dieses Gesetz durch den Bundestag bekommen haben. Ich sage unverhohlen: Mir wäre es lieber gewesen, wenn dieses Gesetz verabschiedet worden wäre, dann hätte man seine Anwendung immer noch aussetzen können, das sah das Gesetz ausdrücklich vor. Aber man hätte eine Handhabe dagegen gehabt, wenn die Arbeitgeber ihr Wort brechen, was sie in der Vergangenheit immer wieder getan haben. Jetzt ist dieser Weg gegangen worden. Ich habe vor diesem Weg gewarnt, weil ich auch glaube, dass er die Politikverdrossenheit junger Menschen dann fördert, wenn sie sehen, dass ein Gesetz zu ihren Gunsten nicht verabschiedet wird, anderes aber durchaus sehr schnell möglich ist. Auch "Florida Rolf" konnte man sehr schnell regeln, die Ausbildungsplatzabgabe aber offensichtlich nicht. Nichts desto trotz – jetzt ist der politische Weg eingeschlagen worden. Wir werden darauf achten, dass die Zusagen der Wirtschaft dann auch eingehalten werden – das ist das Minimum – damit die sich da nicht rausreden können: Also, die Gewerkschaften hatten das ja nicht gewollt und deswegen wollten sie nun auch nicht. Das Zweite ist: Wir wissen, die Zahl reicht nicht aus. Wir haben eine Lücke derzeit nach offiziellen Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit von 100.000, dazu kommen noch zusätzliche Bewerber in diesem Jahr und es sind weniger Angebote, so dass sich die Lücke derzeit bei 130.000 bewegt. Dagegen die 30.000 zugesagten neuen der Wirtschaft, sie sagen ja nicht, dass sie zusätzlich sind. Das heißt: Wir haben im Herbst eine schwierige Situation, und wir werden nicht aufhören, darauf zu drücken, dass die Wirtschaft ihrer Ausbildungsverpflichtung nachkommt. Was ich besonders an dem Pakt nicht schätze ist, dass praktisch dieses Gesetz mindestens bis zum Herbst 2005 auf Eis gelegt worden ist, es ist also praktisch beerdigt worden. Und es ist übrigens auch kein gutes Zeichen für die Demokratie in diesem Land, dass letztendlich die Arbeitgeberverbände es in der Hand haben, mit mehr oder minder unverbindlichen Zusagen die Verabschiedung eines Gesetzes zu verhindern.

    Finthammer: Das war eine ziemlich lange Diskussion über die Ausbildungsplatz-umlage, und am Anfang war es gerade Franz Müntefering, der sich mit Verve für die Umlage ins Zeug gelegt hat – gegen den Kanzler, gegen den Wirtschaftsminister. Was hat ihn denn aus Ihrer Sicht dazu bewogen am Ende doch auf den Pakt einzusteigen und das Gesetz quasi liegen zu lassen?

    Sommer: Also, zwei Punkte. Der eine, den ich durchaus als ehrenwert halte: Franz Müntefering hat mir immer gesagt, ihm ginge es um die jungen Menschen, um denen Ausbildungsplätze zu sichern. Darum geht es mir auch, es geht mir nicht um ein Gesetz per se. Das andere ist, dass Franz Müntefering natürlich das Kräfteverhältnis in seiner eigenen Partei einschätzen musste, insbesondere der Haltung der Ministerpräsidenten Beck und Steinbrück. Und ich glaube, dass . . .

    Finthammer: . . . haben die ihn im Regen stehen lassen?

    Sommer: Das weiß ich nicht. Das sind alles mehr oder minder Fragen, die die SPD bzw. die große Regierungspartei zu beantworten hat. Meine Informationen waren die, dass Nordrhein-Westfalen nicht bereit war, den Weg des Gesetzes zu gehen. Und damit war die Situation für Franz Müntefering ausgesprochen schwierig. Ich weiß auch nicht, ob es letztendlich gelungen wäre, ebenso wie zum Beispiel zum ALG II, die Kanzlermehrheit im Bundestag zu mobilisieren. Das sind ja auch offene Fragen. Nur, da muss man sich natürlich auch die Frage stellen – wenn das eine geht und das andere nicht, was das für ein Bild ist, das da letztendlich diese Regierung in solcher Frage abgibt. Nichts desto trotz, ich bleibe dabei: Wir werden darauf achten, dass die 30.000 neuen Plätze tatsächlich entstehen. Und da soll sich niemand die Hoffnung machen, dass wir da nicht ganz genau hingucken.

    Finthammer: Schauen wir weiter auf die Fakten, aber zu einem anderen Thema: Die SPD ist am Sonntag für ihre Reformpolitik abgestraft worden. Gleiches haben aber viele Wähler in Europa mit ihren Regierungen getan. War das denn für Sie eine reine Protestwahl gegen die Agenda 2010 der Koalition, oder anders gefragt: Hat es die SPD verdient, so abgestraft zu werden?

    Sommer: Also, zu allererst war das ein schwarzer Sonntag für Europa. Die absolut geringe Wahlbeteiligung zu einem Parlament, das ja immer wichtiger wird, ist letztendlich eine – ich sage mal – politisch legitimatorische Krise für die Union selbst. Wenn das Europaparlament nicht mehr diese demokratische Legitimation hat durch eine breite Teilnahme an den Wahlen, muss das einen besorgt machen. Wir sollten in den nächsten fünf Jahren bis zur nächsten Wahl sehr daran arbeiten, das Bewusstsein darüber, was das Europäische Parlament bedeutet, so zu stärken, dass es tatsächlich einen echten Europawahlkampf gibt. Dann werden die Menschen auch zur Wahl gehen.

    Finthammer: Aber die Wahlergebnisse zeigen doch, dass überall vorwiegend nationale Politiken im Mittelpunkt standen und die Wähler darüber entschieden haben, nicht so sehr über Europa - allenfalls, dass einige Europaskeptiker gestärkt worden sind, wäre ein Zeichen dafür.

    Sommer: Ja, Herr Finthammer, Sie haben recht. Nur, diese nationalen Politiken sind ja fast identisch, sie sind ja der Weg des neokonservativen Kurses, den Weg aus der Krise herauszufinden – egal, ob Sie jetzt nach Österreich, nach Frankreich, nach Italien oder wohin auch gucken: Sie sehen immer wieder, dort versuchen die Regierungen – egal, ob sie jetzt sozialdemokratisch geführt sind oder konservativ geführt sind –, den Weg des Sozialabbaus zu gehen, um der Krise und auch den demografischen Problemen Herr zu werden. Und diese Politik ist allerdings von den Wählern in Europa abgestraft worden. Das ist das politische Signal dieser Wahl durch die Wähler. Worüber ich geredet habe, ist die Tatsache, dass ich große Besorgnis habe, dass wir die politische Legitimation für dieses gemeinsame Europa verlieren. Ich bin persönlich sehr froh, dass es jetzt gelungen ist, doch die Europäische Verfassung ganz offensichtlich unter Dach und Fach zu bringen – ohne jetzt alle Texte genau zu kennen. Aber das war auch eine schwierige Frage. Bis in die letzten Stunden hinein war es fraglich, ob Großbritannien sich mit der Forderung durchsetzt, den Grundrechtskatalog nicht verbindlich zu machen Wir haben hinter den Kulissen sehr dafür gekämpft, dass der Grundrechtskatalog Teil dieser Europäischen Verfassung als verbindlicher Teil ist. Da ging es interessanterweise Tony Blair vor allen Dingen auch um die Frage des Streikrechts. Man reibt sich die Augen, ist verblüfft – aber letztendlich hat es gehalten. Und da muss man sagen: Da sind auch die Anstrengungen einiger Regierungschefs, ich nehme an, auch des deutschen, wirklich ausschlaggebend gewesen. Das ist jetzt ein gutes Zeichen, nun sehen wir zu. Aber insgesamt müssen wir wesentlich mehr bei den Bürgern dafür sorgen, dass dieses Europa akzeptiert wird.

    Finthammer: Ich komme noch einmal zurück zur Wahl am vergangenen Sonntag und zum Ergebnis der SPD. Sie haben es am Anfang schon erwähnt: Hatte es die SPD wirklich verdient, bei den Kommunalwahlen, bei der Landtagswahl in Thüringen und eben bei der Europawahl so abgestraft zu werden?

    Sommer: Ich will die Frage anders herum beantworten. Wir sind in einer Situation, dass ganz offensichtlich die Menschen in Deutschland diese Form von Politik nicht akzeptieren, weil sie sie für ungerecht halten. Das haben sie deutlich gemacht in den großen Demonstrationen am 3. April, wo die Politik noch dachte, man könne darüber hinweggehen. Und jetzt diese doch klaren Abstrafungen bei der Europawahl. Ich will allerdings auch auf eines hinweisen: Die Alternative, die dann gewählt worden ist – oder die dann favorisiert worden ist, genau gesagt – also die Konservative, macht es ja nicht besser. Im Gegenteil. Sie droht ja, diesen Kurs noch deutlich zu verschärfen. Wenn ich zum Beispiel jetzt aktuell den bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Stoiber höre, der mit einem gnadenlosen Populismus für die Verlängerung der Arbeitszeiten eintritt, wenn ich das Wahlprogramm kenne in puncto Tarifautonomie, Kopfpauschale im Gesundheitswesen und, und, und, und – dann ist das ja für uns keine wirkliche politische Alternative, im Gegenteil. Woran wir arbeiten als Gewerkschaften ist derzeit, die Diskussion so zu führen, dass das politisch Spektrum sich insgesamt wieder in die Mitte bringt und diese radikalen Ausschläge beseitigt. Andererseits muss sich die SPD natürlich fragen, was sie in ihrer Politik verändert. Vielleicht ist Ihnen aufgefallen – oder auch nicht, dass sich die Gewerkschaften in der vergangenen Woche sehr zurückgehalten haben mit politischen Äußerungen bei der Bewertung dieser Wahl. Das hat auch etwas damit zu tun, dass wir der Überzeugung sind, dass die Parteien selbst jetzt erst einmal die Diskussion in ihren Reihen führen müssen um Kurskorrekturen, um Änderungen der Politik. Und dass wir an der einen oder anderen Stelle durchaus auch unsere Stimme erheben, um deutlich zu machen, was wir wollen, das ist klar. Aber wir sind nicht diejenigen, die für die Parteien die Wahlen auswerten können. Wir können nur darauf hinweisen, dass ganz offensichtlich der politische Kurs von den Wählern nicht geschätzt wird, insbesondere auch nicht von den Gewerkschaftsmitgliedern. Und das muss die SPD auch zur Kenntnis nehmen.

    Finthammer: Der Kanzler hat ja tags darauf gesagt, er habe die Wahl verstanden

    Sommer: . . . ja, das hat er schon einmal gesagt . . .

    Finthammer: . . . und sein "weiter so" angekündigt, dass er ja nach wie vor kein Jota da von seiner Agenda 2010 abweichen will. Und auf der Jahrestagung des Bundesverbandes der Deutschen Industrie bekam Schröder natürlich auch Unterstützung für diesen Kurs. Von einem Politikwechsel, auf den Sie setzen, kann da ja keine Rede sein. Da fehlen Ihnen doch auch die Bündnispartner innerhalb der SPD?

    Sommer: Nun, wir wollen mal abwarten, wie die SPD in der nächsten Woche weiter diskutiert. Am Montag ist Parteivorstandssitzung, wo Franz Müntefering angekündigt hat, eine deutliche Wahlanalyse vorzunehmen. Ich bin gespannt, welchen Kurs oder Kurskorrekturen insgesamt eingeschlagen werden. Wer meint, auf einem Weg weitergehen zu können nach dem Motto "weiter so, Deutschland", der wird die Herzen und die Stimmen der Menschen nicht gewinnen. Davon bin ich leider überzeugt. Das ist ein Weg, der geht nicht. Wie man die Korrekturen ansetzt, will ich in aller Deutlichkeit sagen: Es gibt einige Beschlüsse aus der ganz großen Koalition des Vermittlungsausschusses, die für uns nicht akzeptabel sind und wo wir erwarten, dass es wirklich zu einem Kurswechsel kommt. Das gilt zum Beispiel beim Arbeitslosengeld II oder bei der Zumutbarkeit für Langzeitarbeitslose, weil dieses gesetzliche Bestimmungen sind, die dermaßen das Gesicht dieser Republik verändern würden, dass wir es nicht ertragen können. Ich will Ihnen das an einem Beispiel klarmachen: Wenn diese gesetzlichen Bestimmungen so blieben, und heute wird jemand, der vielleicht 45, 46, 47 Jahre ist, arbeitslos, und wenn der innerhalb eines Jahres keine Arbeit findet, dann wird er in Zukunft in die Armut durchgereicht. Dann würden seine möglicherweise vorhandenen Vermögen bis auf ein Minimum gesprengt, die muss er dann verbrauchen, die Pateneinkommen würden angerechnet. Es führt zu einer Verarmung, und zwar bei vielen Leuten. Es trifft nicht nur erst einmal die zwei Millionen Arbeitslosenhilfeempfänger, die unmittelbar betroffen wären. In der Folge betrifft es jeden, der Angst haben muss, einen Arbeitsplatz zu verlieren oder dessen befristete Beschäftigung ausläuft und der keinen anschließenden Job findet. Das ist eine Veränderung der Gesellschaft, die möglicherweise einige Leute gewollt haben. Wir werden uns hiergegen stemmen, so gut es geht.

    Finthammer: Aber das, was Sie da beschreiben, ist ein Kerngedanke der Agenda 2010 – eben, dass man die Sozialkosten mit allen Mitteln, auch mit einem stärkeren Druck – Zumutbarkeitsdruck – für die Arbeitslosen verringern will. Das ist erklärtes Ziel und von allen bislang unterstützt.

    Sommer: Ja, bis auf die Gewerkschaften, die immer darauf hingewiesen haben, dass sie dieses Ziel nicht unterstützen. Es muss auch in Zeiten der Krise sozial gerecht zugehen. Das ist sozial ungerecht, insbesondere wenn wir auf ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gucken. Und wenn man meint, die Lasten der Krise sich von den Opfern der Krise bezahlen lassen zu können, dann geht man einen falschen Weg. Das führt auch zu Verwerfungen dieser Gesellschaft, die nicht gut sind. Und ich hoffe sehr, dass sich die kritischen Kräfte innerhalb der SPD oder auch bei Rot-Grün, meinetwegen auch bei der CDA, die ja in solchen Fragen durchaus auch eine eigene Meinung haben, so durchsetzen, dass wir dort zu deutlichen Korrekturen kommen.

    Finthammer: Heute wird SPD-Chef Franz Müntefering erstmals öffentlich wieder mit Oskar Lafontane zusammentreffen. Da wird es gewiss einen Händedruck vor den Kameras geben müssen, weil viele Kameras da sein werden. Lafontane will aber insgeheim wohl mehr. Würden Sie das unterstützen?

    Sommer: Oskar Lafontane hat sich entschieden vor einigen Jahren, als Finanzminister und als Parteivorsitzender zurückzutreten. Das war eine Entscheidung, die halte ich für nicht mehr rückholbar. Das geht im politischen Prozess nicht. Ich selbst kenne Oskar Lafontane relativ gut. Ich sympathisiere an der einen oder anderen Stelle auch mit seinen Überzeugungen. Nur – er hat die Ämter niedergelegt in einer Phase, wo er das nicht hätte tun müssen, jedenfalls nicht beide Ämter. Und jetzt kann man nicht wiederkommen. Das bleibt meine Kritik an Oskar Lafontane.

    Finthammer: Von Franz Müntefering war schon mehrmals die Rede. Wie würden Sie Ihr Verhältnis zum SPD-Parteivorsitzenden beschreiben?

    Sommer: Mein Verhältnis zu Franz Müntefering ist erst einmal ein geschäftsmäßig gutes und ein persönlich gutes, es ist beides. Wir reden offen miteinander, wir reden manchmal auch kontrovers miteinander Aber wir wissen, dass wir einander vertrauen können, und ich glaube auch, dass da eine stabile Basis ist. Die Situation für den SPD-Parteivorsitzenden ist nicht einfach. Nichts desto trotz – die Gewerkschaften und auch der DGB-Vorsitzende werden die SPD letztendlich an der Politik messen und nicht an der Sympathie für ihren Vorsitzenden. Aber dass die Gesprächsbasis zwischen uns stimmt, das will ich ausdrücklich sagen.

    Finthammer: Der SPD-Vorsitzende selbst spricht aber davon, dass sich ihre Wege immer weiter trennen und dass für beide Seiten das Miteinander immer schwieriger werde, denn die Kritik der Gewerkschaften schade sowohl der SPD und den Gewerkschaften.

    Sommer: Ja, das sagt er aus seiner Rolle heraus. Ich habe das auch gelesen und auch gehört. Ich habe mit ihm auch darüber persönlich geredet. Franz Müntefering sagt mir, er wisse, dass die SPD ohne die Gewerkschaften Wahlen nicht gewinnen könne. Es ist nun allerdings auch nicht die Aufgabe der deutschen Gewerkschaften, für irgend jemand die Wahlen zu gewinnen, sondern es ist Aufgabe der Parteien, bei den Gewerkschaftsmitgliedern für ihre Ziele zu werben. Und ich glaube schon, dass wir weiter in eine vernünftige Diskussion kommen. Sie bemerken ja auch, dass ich sehr bewusst nicht auflade die Themen, aber ich erwarte schon Korrekturen. Und die 500.000 Menschen, die demonstriert haben am 3. April, erwarten eine Korrektur, und zwar eine deutliche Korrektur. Und die Wähler erwarten eine Korrektur, und zwar eine deutliche Korrektur. Und ich glaube, da muss sich die SPD auch bewegen. Wenn sie es nicht tut, dann wird sie einen Weg gehen, der für sie sehr schwer sein wird.

    Finthammer: In dieser Woche sind vier Gewerkschaftler aus der SPD ausgeschlossen worden, weil sie mit ihrer Initiative ‚Arbeit und soziale Gerechtigkeit‘ ein Wahlbündnis links von der SPD gründen wollen. Das spricht ja einerseits für die mögliche Zerrüttung von SPD und Gewerkschaften, wenn es mit der Kritik ernst wird, aber sowohl dem DGB wie der IG-Metall war der Parteiausschluss keine Stellungnahme wert.

    Sommer: Als diese Partei vor Gründung sich etablierte im April, habe ich in aller Deutlichkeit gesagt, dass der DGB für eine solche Politik nicht zur Verfügung steht. Ich halte es persönlich für falsch, die linken Kräfte zu spalten, das ist der eine Teil, aber der andere Teil ist der, dass ich der Auffassung bin, dass die Gewerkschaftler in die Parteien reingehen sollten, dort wirken sollten. Das ist schwierig genug, sowohl in der SPD als auch in der CDU/CSU, von der FDP gar nicht zu reden. Und bei den Grünen ist es auch nicht immer ganz einfach, als Gewerkschaftler aufzutreten. Nichts desto trotz; Es gibt keinen vernünftigeren Weg, als in die Parteien zu gehen. Ich halte von Parteineugründungen und Spaltungen nichts, das schwächt letztendlich die fortschrittlichen und sozialen Kräfte und stärkt sie nicht.

    Finthammer: Die IG-Metall will mit dem Anfang Juni gestarteten Arbeitnehmerbegehren bis in den Herbst hinein ja ebenfalls für eine andere Reformpolitik werben und ein Votum in den Betrieben und der Öffentlichkeit sammeln, um es dann den politischen Parteien quasi als Quittung zu präsentieren. Glauben Sie wirklich, die Regierungskoalition mit solchen Aktionen umstimmen zu können?

    Sommer: Diese Aktion zielt nicht auf die Regierungskoalition, sondern sie zielt darauf, tatsächlich die Stimmung in diesem Land so zu ändern, dass sich die Politik ändert, und zwar von beiden großen Parteien und auch von Rot-Grün. Ich will noch mal eindeutig sagen: Das, was die CDU)CSU und die FDP vorschlägt, also die FDP mit der Abschaffung der gesetzlichen Krankenversicherung, das ist doch für Arbeitnehmer absolut inakzeptabel, genau so, wie es für uns nicht hinnehmbar ist, dass es keine Korrekturen an den sozialpolitischen und arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen der Agenda 2010 gibt. Es zielt auf beides. Und wir wollen deutlich machen: Die Menschen in diesem Land wollen diese Art von Politik nicht. Das hat erst einmal mit Parteipolitik gar nichts zu tun. Und im übrigen finden diese Arbeitnehmerbegehren nicht nur in den Betrieben statt, die von der IG-Metall organisiert werden. Alle Gewerkschaften beteiligen sich daran, alle Mitgliedsgewerkschaften des DGB, übrigens spezifisch mit Text, die auf ihre Branche bezogen sind. Wer da meint, da gibt es große politische Unterschiede, der irrt sich. Es geht wirklich darum, dass wir mit den Kolleginnen und Kollegen in dem Betrieb das Gespräch suchen und auch deren Meinung einholen wollen. Das werden wir im Herbst als Deutscher Gewerkschaftsbund auch bündeln. So lange diese Form von Politik anhält und so lange die Bedrohung anhält, dass es – wenn man so will – noch mal potenziert wird durch die Union, so lange werden wir unsere Aktivitäten für Arbeit und soziale Gerechtigkeit fortsetzen. Und ich kann Ihnen sagen, wir werden das machen bis zu den nächsten Wahlen, und zwar nicht im Sinne eines Wahlkampfes für irgend eine Partei, sondern mit dem Ziel, tatsächlich das politische Meinungsklima zugunsten der Arbeitnehmer in diesem Land zu verändern.

    Finthammer: Dennoch müsste ja das Ziel letztlich sein, dass sich dieses Meinungsklima auch ein einem Wahlergebnis widerspiegelt und entsprechende Parteien oder mögliche Parteien Zulauf bekommen, um eben die politischen Verhältnisse im Land ändern zu können. Davon sind Sie doch weiter denn je entfernt, wenn man auf der anderen Seite konzedieren muss, dass die CDU zwar nicht Gewinner aber auch nicht Verlierer dieser Entwicklung ist. Sie ist zumindest im Moment mit Abstand stärkste Partei und wird es voraussichtlich in den nächsten Wochen und Monaten auch bleiben bei den anstehenden Wahlen.

    Sommer: Nichts desto trotz, Politik ist ja ein Prozess, und in der Politik muss es möglich sein, bestimmte Prozesse zu verändern und neue Wege zu gehen, möglicherweise auch den einen oder anderen Anknüpfungspunkt zu finden. Ich will Ihnen das an einem Beispiel deutlich machen: Wenn es den Gewerkschaften nicht gelingt, mit der SPD oder Rot-Grün in puncto Sozialabbau zu einer übereinstimmenden Meinung zu kommen – das halte ich momentan für unmöglich, auch für ausgeschlossen –, dann heißt das ja nicht, dass wir nicht in der Lage sein können, an der einen oder anderen Stelle über Korrektur so zu reden, dass die schlimmsten Auswüchse dieser Maßnahmen beseitigt werden und auch gemeinsame Projekte anzugehen. Sie wissen, ich habe ausdrücklich die Innovationspolitik des Bundeskanzlers unterstützt, die darauf zielt, die industriepolitische Basis und die Dienstleistungsbasis unserer deutschen Ökonomie wieder zu verbessern. Ich mache mir große Sorgen um die Zukunftsfähigkeit unserer Wirtschaft, wenn es nicht gelingt, diese Innovationsprozesse voranzubringen.

    Finthammer: Herr Sommer, schauen wir mal auf Ihr ureigenes Gestaltungsfeld oder das ureigenste Gestaltungsfeld der Gewerkschaften – die Tarifpolitik. Da geraten ja die Gewerkschaften in diesem Jahr auch erheblich unter Druck, denn egal, in welche Branche man schaut: Überall da, wo entsprechende Verhandlungen anstehen, fordern die Arbeitgeber längere oder zumindest flexiblere Arbeitszeiten, meist ohne Lohnausgleich, Nullrunden, Kürzungen beim Urlaubs- und beim Weihnachtsgeld und anderes mehr. Ja selbst die Metall- und Elektroindustrie ist ja schon ein Beispiel dafür, wie diese Öffnung auch allmählich vollzogen wird. Der Tarifvertrag, der jüngste, enthält eine Klausel zur Betriebsvereinbarung über die 40-Stundenwoche, die ja von immer mehr Unternehmen ja auch genutzt wird. Und die gesellschaftliche Debatte geht noch weiter. Nüchtern gesprochen: Stehen die Gewerkschaften da doch mit dem Rücken zur Wand, oder sehen Sie aktuell noch wirklich größeren tarifpolitischen Gestaltungsspielraum, der in eine andere Richtung zielt?

    Sommer: Die Verteilung von Arbeit – sprich die Arbeitszeitverkürzung – ist momentan Thema in einigen großen Unternehmen, wo versucht wird, damit Beschäftigung zu stabilisieren – denken Sie an Opel, denken Sie an die Deutsche Telekom und an andere. Das sind durchaus erfolgreiche Modelle, um in der Krise – wenn Sie so wollen – Beschäftigung zu sichern. Das, was sich auf der anderen Seite abspielt, ist letztendlich der Versuch von Seiten der radikalisierten Arbeitgebervertreter, einen politischen Rollback zu machen. Die wollen zurück zur 40-, zur 42-Stundenwoche, am besten ohne Lohnausgleich, das heißt, für umsonst. Dem haben die Kollegen der Metallindustrie am Anfang des Jahres eine deutliche Abfuhr mit ihren Warnstreiks erteilt. Dass jetzt SIEMENS und andere versuchen, es weiter zu führen, dass wir für den öffentlichen Dienst die Auseinandersetzung für den Herbst und Winter erwarten müssen in der Frage, ist klar. Aber die Gewerkschaften stehen an dem Punkt zusammen. Wir werden uns gegen eine Politik der Arbeitszeitverlängerung und dann noch ohne Lohnausgleich, also sprich eine faktische Lohnkürzung, widersetzen, weil dies auch genau der falsche Weg ist, ökonomisch der falsche Weg und sozialpolitisch der falsche Weg.

    Finthammer: Bei den Beschäftigten, argumentiert Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt, gebe es aber längst die Bereitschaft, für das gleiche Geld mehr zu arbeiten, um eben die eventuelle Verlagerung zu verhindern. Und das Beispiel SIEMENS, wo hinter den Kulissen massiv verhandelt wird, um eben die Arbeitsplätze hier halten zu können, würde das ja erneut wieder beweisen, dass die Mitarbeiter durchaus zu solchen Lösungen bereit sind, um ihre Arbeitsplätze hier zu behalten.

    Sommer: Ich glaube nicht, dass man mit politischer und sozialer Erpressung auf Dauer auskommt in diesem Land und den sozialen Frieden – übrigens auch in den Betrieben – aufrecht erhalten kann. Was wir machen mit den Arbeitgebern gemeinsam ist, nach Wegen zu suchen, wie wir die Produktivität der deutschen Wirtschaft noch mehr steigern. Wir haben, was die Arbeitszeitregime anbetrifft, die flexibelsten Systeme der Welt. Da gibt es überhaupt nichts dran zu deuteln – übrigens tarifvertraglich vereinbart. Und die kann man nutzen. Was da geführt wird, ist teilweise eine ideologische Debatte. Das ist ja nicht nur Dieter Hund, das ist ja Edmund Stoiber, das ist Angela Merkel – die immer sagen, wir müssten jetzt wieder länger arbeiten, um letztendlich die Gestaltungsbedingungen für die Arbeitgeber zu verbessern und drohen dann mit der Abwanderung ins Ausland. Ich kann Ihnen sagen, der Grundansatz dieser Politik ist schon deshalb falsch, weil der suggeriert, dass man mit geringeren Lohnkosten oder geringeren Arbeitskosten tatsächlich den globalisierten Wettbewerb beeinflussen kann. Und das kann man nicht. Ich war neulich in Tschechien bei meinem Kollegen. Der hat mir gesagt, die deutschen Firmen, die nach Tschechien gekommen sind wegen der niedrigen Lohnkosten, die sind schon lange wieder weg, die sind in der Ukraine. Und wer diesen wirklichen ökonomischen Todeslauf nicht will, der muss andere Wege suchen.
    Finthammer: Dennoch, an der faktischen Tatsache gibt es nichts zu rütteln, dass diese Lohnkonkurrenz da ist. Und die Unternehmer versuchen natürlich, diese Vorteile zu nutzen, um eben höhere Gewinne zu erzielen, das ist keine Frage. Das hat ja auch mit unpatriotischem Verhalten nichts zu tun, wie das der Kanzler mal ins Spiel gebracht hat. Aber wie kann denn eine Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik diesen Wettbewerbsdruck auffangen und dafür sorgen, eben – dass die Arbeitsplätze hier bleiben und nicht abwandern?

    Sommer: Also, durch mehrere Faktoren. Das eine ist, dass es wirklich gelingt, innovativ in dieser Wirtschaft zu handeln, das heißt, neue Produkte zu entwickeln, höherwertige Produkte zu entwickeln, damit die Wettbewerbsfähigkeit zu halten. Die Automobilindustrie beweist, dass es geht. Das Zweite ist: Wir brauchen in diesem Europa eine vernetzte Produktion. Das muss man einfach sehen. Wir werden nicht alle Arbeitsplätze in Deutschland halten können, aber wir müssen sehen, dass wir die hochwertigen in Deutschland halten und dann über eine Vernetzung der Produktion in Europa tatsächlich dazu zu kommen, dass auch die Arbeitsplätze in Deutschland stabilisiert werden. Direktinvestitionen im Ausland, die dieses Ziel haben, insgesamt die Wettbewerbsfähigkeit eines deutschen Unternehmens hochzuhalten, dagegen kann ja niemand was haben. Aber wogegen wir etwas haben, das nenne ich dann nach wie vor vaterlandslos, das sind die Leute, die hier die Subventionen einstreichen, anschließend ins Ausland gehen wegen der niedrigen Löhne und zum Schluss noch ganz ins Ausland übersiedeln, damit sie die Erbschaftssteuer nicht zahlen müssen. Beispiele gibt es ja. Mir geht es darum, dass wir in dieser Europäischen Union wirklich auch die Chancen sehen. Und die Chancen für die deutsche Wirtschaft sind durchaus besser als die Risiken. Nur wir müssen sehen, dass wir das auch sozial abfedern auf der einen Seite, und zum anderen über eine sehr vernünftige Politik der ökonomischen Vernetzung und der Vernetzung von Produktionen tatsächlich auch Arbeitsplätze in Deutschland zu stabilisieren. Das geht.