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Sowjetischer Surrealismus an der Elbe

Michail Bulgakows Roman "Der Meister und Margarita" ist bereits dreimal als Oper inszeniert worden. Die erfolgreichste Version stammt von York Höller, wurde 1989 in Paris uraufgeführt und ist aktuell als großformatige und reich instrumentailiserte Inszenierung an der Hamburger Staatsoper zu sehen.

Von Frieder Reininghaus | 15.09.2013
    Wahrscheinlich war es richtig, die beiden Schriftsteller in der Psychiatrie unterzubringen – den wankelmütigen, augenscheinlich von Teufels-Halluzinationen heimgesuchten Iwan Besdomny und den vermutlich allgemeingefährlicheren anderen, der einfach nur "der Meister" genannt wird. Weggeschlossen werden sie auch zu ihrer eigenen Sicherheit. Der namenlose Meister wird von fanatischer Wahrheitssuche getrieben. Er kann nicht akzeptieren, dass er nicht über den legendären Pontius Pilatus schreiben soll und darf.

    Aber was "wirklich" abgeht und was die Köpfe in ihrem Inneren inszenieren, das ist keineswegs eindeutig in Bulgakows großem Roman. Und just so in der einzigen Oper des 1941 in Leverkusen geborenen Kölner Komponisten York Höller. In der hallt nicht zuletzt der Ton der sowjetischen 30er-Jahre nach, den kein anderer so signifikant repräsentierte wie Dmitri Schostakowitsch, freilich auch manch anderes Erbgut der Musikgeschichte.

    Die Partitur basiert insgesamt auf einer zwölftönigen Grundgestalt, einer flexibel zu handhabenden Tonfolge, die als Generalformel eine imaginäre Einheit im Gestaltenreichtum der Musik schafft. Auf der Grundlage von deren Themen stiftenden Struktur organisierte Höller ruhige, quasi rezitativische Passagen und dicht gedrängte Momente der Aufgeregtheit, fast lautmalerische Situationsschilderungen.

    Er schreckte auch vor Varieté-, Kaffeehaus- oder Rockmusik-Anklängen nicht zurück. Die kunstrussische Revoluzzerhaftigkeit des jungen Strawinsky blitzt auf, wenn es darum geht, das Groteske, Übernatürliche, Wahnwitzige zu skizzieren oder den Surrealismus der Story laut werden zu lassen. Bemerkenswert erscheint, wie sich die Wahrnehmung der vor zwei Dutzend Jahren als entschieden modern rezipierten Musik verschob und das gegebenenfalls Gewöhnungsbedürftige ablegte.

    Die neue Musik des 20. Jahrhunderts ist insgesamt historisch geworden, diese aber im besten Sinn: Was unter der Stabführung von Marcus Bosch aus dem Orchestergraben aufsteigt, wirkt heute ungleich "schöner" und einvernehmlicher. Jedenfalls selbstverständlicher und verständlicher in der Form und Weise, die der höchst souveräne Dietrich Henschel mit der Titelpartie präsentiert oder der gekonnt diabolische Derek Welton als Monsieur Voland. Die rumänische Mezzosopranistin Cristina Damian unterstreicht, dass sie ebenso mütterlich fürsorglich für das luftige Romanprojekt zu sein hat wie die bodenständige Geliebte des Autors, den man ihretwegen beneiden mag.
    Bei allem Zeit- und Lokal-Kolorit, das in York Höllers Hauptwerk einfloss, ging es mit ihm vor einem Vierteljahrhundert bereits in der Hauptsache in allgemeinerer Form um das Verhältnis von Künstlern und Gesellschaft. Diese Tendenz verstärkt die Inszenierung von Jochen Biganzoli im Bühnenbild von Johannes Leiacker. Ein gleißend weißer Raum, umringt von Leuchtröhren, beherbergt die unterschiedlichsten Szenen und abstrahiert von Moskau und der Zeit der Schauprozesse. Das unterstreicht auch die Kleiderordnung, die der Gegenwart verpflichtet ist; nur Tigran Martirossian in der purpurnen Toga des römischen Präfekten Pontius kontrapunktiert (und der im Tütü popowackelnde Kater Behemoth).

    Um die Gespaltenheit des Meisters zu signalisieren, gesellte Biganzoli dem Bariton Dietrich Henschel einen Tänzer und einen Schauspieler zu. Sie helfen, die anfängliche Textmenge in ein genuin musikalisches Schauspiel hinüberwachsen zu lassen. Und in das wurde – es stellt einen erheblichen Eingriff in die Partitur dar – eine Varieté-Szene hineingebastelt, die unmittelbar auf Hamburger Unpässlichkeiten der Gegenwart anspielt (wie Taxipreise, Falsch- und Steuergeld sowie den Bau der Elbphilharmonie). So wurde der 'alten' Musik mit etwas schalem Entertainment auf die Sprünge geholfen. Die Frage ist, ob Höllers Musik nicht ohnedies fortdauernd genug Sprung- und Schlagkraft hat.