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Sowjetunion ade

Zwanzig Jahre nach dem Austritt aus der ehemaligen Sowjetunion sieht sich Litauen mit enormen Problemen konfrontiert. Zwar steht das Land trotz der aktuellen Finanzkrise besser da als sein Nachbar Lettland, dafür zählt Litauen zu den korruptesten Ländern in der EU.

Von Birgit Johannsmeier | 11.03.2010
    Es ist Sonntag, der 11. März 1990. Begeistert erheben sich die litauischen Abgeordneten von den Stühlen, als ihr frisch gewählter Parlamentspräsident den Sitzungssaal betritt. Vytautas Landsbergis, Führer der nationalen Bewegung "Sajudis". Zwei Wochen zuvor hat er es in den ersten freien Wahlen an die Spitze der Sowjetrepublik Litauen geschafft. Aber genau jetzt, um 18.00 Uhr, soll diese Sowjetrepublik von ihrem Obersten Rat abgeschafft werden.

    "Ich möchte jetzt die Resultate verlesen. Jeder von Ihnen hat für oder gegen die Wiederherstellung der Unabhängigkeit des litauischen Staates gestimmt. Ich werde Sie nun einzeln aufrufen."

    An diesem Abend sollte sein größter politischer Wunsch in Erfüllung gehen, erinnert sich Vytautas Landsbergis. Im Sommer 1988 hatte der Musikprofessor die Unabhängigkeitsbewegung "Sajudis" mitbegründet und sich seither als Vorsitzender für Litauens Austritt aus der Sowjetunion engagiert.

    "Die Mehrheit von uns Litauern wollte ein Ende der 50-jährigen sowjetischen Besatzung sehen, die eine Folge des Hitler-Stalin-Paktes war. Die westlichen Siegermächte ließen uns nach dem Zweiten Weltkrieg einfach unter der Herrschaft Stalins und der damaligen Sowjetunion. Wir blieben vergessen. Aber unsere Leute kämpften als Partisanen, als Dissidenten im Untergrund und kamen zu "Sajudis". Wir gaben nicht auf. Mit rechtlichen Mitteln wollten wir unsere Unabhängigkeit zurück."
    Was die Abgeordneten hinter verschlossenen Türen besprechen, dürfen ihre Anhänger sogar auf der Straße verfolgen: Tausende scharen sich seit dem frühen Morgen um die Lautsprecher vor dem Parlamentsgebäude, um jeden Moment mitzuerleben. Auch Arvydas Anushauskas fiebert mit. Der angehende Historiker hat soeben die erste Umfrage über Litauens Zukunft ausgewertet.

    "Die Sowjetunion steckte damals in einer tiefen Krise. Überall waren Mängel zu spüren, das hat die Leute unzufrieden gemacht. Wir Litauer wollten nicht mehr viele Millionen Rubel an Moskau überweisen, um die Löcher im Haushalt der Sowjetunion zu stopfen. Unsere Eltern hatten erlebt, dass ein einfacher Arbeiter bis 1940 für sein Gehalt alles kaufen konnte. In der Sowjetrepublik Litauen verdienten wir zwar 150 Rubel, aber die Geschäfte waren leer. Deshalb wollte keiner der Befragten Litauen zukünftig noch in der Sowjetunion sehen. Weder Litauer noch Russen. Keiner. Das war sogar für Michail Gorbatschow eine große Überraschung. Immerhin hatte der Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion noch bis zum 11. März 1990 gehofft, uns in einer reformierten Union behalten zu können."
    Michail Gorbatschow war seit 1985 der erste Mann im Kreml. Sein Eintreten für mehr Offenheit und Demokratie in der sowjetischen Politik – Glasnost und Perestroika - ebnete Litauen ungewollt den Weg in die Freiheit. Noch wenige Monate vor dem 11. März habe Gorbatschow Litauen besucht, erinnert sich Vytautas Landsbergis. Dass ein einfacher Arbeiter ihm gegenüber von der Sehnsucht nach dem eigenen Staat sprach, habe den Generalsekretär beunruhigt. Er hatte hinter dieser Idee nur eine kleine Gruppe vermutet. Stattdessen stimmten jetzt 130 vom Volk gewählte Parlamentarier über Litauens Austritt aus der Sowjetunion ab.
    "Gorbatschow war angetreten, um die Sowjetunion zusammenzuhalten. Er sollte mit Reformen die Wirtschaft retten und die Freiheitsbewegungen in den Sowjetrepubliken stoppen. Gleichzeitig sollte er das Bild verändern, das die Welt von der Sowjetunion hatte. Er bot Abrüstung und ein Ende des Kalten Krieges an. Gorbatschow war ein Symbol der Reformen, aber sie sollten unter der Kontrolle Moskaus bleiben. Nur kleine Länder wie wir forderten mehr und mehr und so stieß Gorbatschow plötzlich an seine Grenzen."
    Das Litauische Parlament hatte sich bereits am Vortag der Abstimmung vom "Obersten Rat der LSSR" einfach in "Obersten Rat" umbenannt. Alle sowjetischen Zeichen und Symbole hatte Vytautas Landsbergis in dem Gebäude mit Tüchern verhängen oder entfernen lassen.
    Zurück im Plenarsaal am 11. März um 18.00. Nacheinander bittet Vytautas Landsbergis alle Abgeordneten, sich zu erheben und mit einer Handbewegung ihre schriftliche Entscheidung zu bestätigen.

    "Brauzauskas - dafür. Sepetys – dafür."

    Algirdas Brazauskas, bisheriger Staatschef und Vorsitzender der Kommunistischen Partei, hebt die Arme zum Sieg und klopft seinem langjährigen Weggefährten auf die Schulter: Lionginas Sepetys, ehemaliger Sekretär des Zentralkomitees. Seit 1988 haben beide "Sajudis" unterstützt. Viele Genossen wechselten sofort zu "Sajudis". Im Dezember 1989 verließen die litauischen Kommunisten die Kommunistische Partei der Sowjetunion und gründeten die eigene Litauische KP. Algirdas Brazauskas und Lionginas Sepetys verzichteten auf das staatliche Machtmonopol und riefen die erste freie Wahl aus, an der sich auch "Sajudis" beteiligen durfte. Beide Politiker wussten, dass die KP als Partei in Litauen ausgedient hatte. Die Wähler verhalfen Algirdas Brazauskas und seinem Freund trotzdem zu einem Mandat. Lionginas Sepetys:

    "Wir haben uns freiwillig den Ideen von 'Sajudis' angeschlossen, denn wir waren immer echte Litauer. Deshalb waren wir ja in der Kommunistischen Partei. Das war die einzige Möglichkeit, um wichtige Posten zu bekommen und nationale Ziele zu erreichen. Als 'Sajudis' gegründet wurde, waren mehr als die Hälfte ihrer Mitglieder Kommunisten. Es gab auch Kommunisten, die in der UdSSR bleiben wollten, aber sie waren in der Minderheit. Dann hat Moskau uns mit einem Gesetz überlisten wollen, das am 12. März 1990 verabschiedet werden sollte. Dieses Gesetz sollte den Austritt aus der Sowjetunion regeln. Aber wir waren der Sowjetunion nie beigetreten, wir waren besetzt. Deshalb wollten wir Moskau zuvor kommen und erklärten schon am 11. März 1990 die Wiederherstellung unserer Unabhängigkeit."
    Um 18.10 ist es soweit: Der Parlamentsvorsitzende Vytautas Landsbergis verliest das Ergebnis der Abstimmung.

    "124 sind dafür, dagegen niemand, und sechs haben sich der Stimme enthalten. Das Gesetz ist verabschiedet. Ich gratuliere dem Obersten Rat. Ich gratuliere Litauen."
    Als Höhepunkt dieses Abends wird die ehemalige Sowjetunion tatsächlich als anderer Staat, als Ausland, angesehen, erinnert sich Vytautas Landsbergis. Und die aufgezwungene Verfassung der Sowjetrepublik Litauen außer Kraft gesetzt. Wie aber würde die internationale Gemeinschaft reagieren? Arvydas Anushauskas verfolgt auf der Straße über Lautsprecher bis in die Nacht die überschäumende Freude im Plenarsaal. Inmitten begeisterter Menschen habe er auch viele zweifelnde Stimmen vernommen, die auf eine umgehende Anerkennung durch die westlichen Länder hofften.

    "Die Erwartungen der einfachen Leute waren anders, als die der Politiker. Die Politiker wussten, dass Gorbatschow im Westen sehr beliebt war, dass viele auf seine Reformen hofften, damit der Kalte Krieg beendet würde. Dank Gorbatschow. Deutschland wollte sich wiedervereinigen. Dank Gorbatschow. Und die Integration der östlichen Bundesländer war nicht einfach, dort war damals noch die Sowjetarmee stationiert. Bundeskanzler Helmut Kohl und Präsident Francois Mitterrand redeten immer wieder auf Herrn Landsbergis ein. Dass er Gorbatschow schonen sollte, dass er die Unabhängigkeitserklärung bis auf Weiteres verschieben sollte. Damit man die eigenen Ziele nicht gefährde."
    Ein kleines Land habe trotzdem Zivilcourage bewiesen, betont Zigmars Vaisvila. Am 11. März 1990 stimmte er als Abgeordneter für ein unabhängiges Litauen, heute kämpft er in der einstigen Unabhängigkeitsbewegung "Sajudis" für mehr Moral in der Politik.

    "Island hat als einziger westlicher Staat Litauens Unabhängigkeit umgehend anerkannt. Obwohl die Isländer wussten, was ihnen droht. Die Sowjetunion hat sofort eine Wirtschaftsblockade über Island verhängt und nahm Reykjavik keinen Fisch mehr ab. Die Sowjetunion war Islands wichtigster Markt. Trotzdem hat die isländische Regierung Litauen anerkannt. Sie haben den Preis bezahlt. Gibt es überhaupt noch so aufrechte Politiker in Europa?!"
    Moskau erkennt Litauens Austritt aus der Sowjetunion nicht an. Auf der Tagung der Volksdeputierten am 12. März 1990 fordert der Kreml die litauische Regierung auf, ihre Unabhängigkeitserklärung zu annullieren. Die Regierung lehnt erwartungsgemäß ab. Im Januar 1991 greift Moskau zu den Waffen. Noch ist im ganzen Land sowjetisches Militär stationiert. Die Panzer rollen aus den Kasernen, und der Reformpolitiker Michail Gorbatschow stellt Litauen ein Ultimatum. Im Fernsehen wendet sich Parlamentsvorsitzender Vytautas Landsbergis an das litauische Volk; er ist unnachgiebig und will keinen Kompromiss.

    "Der Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, verlangt, dass in Litauen die Verfassung der UdSSR anerkannt wird. Litauen soll also der Sowjetunion wieder beitreten. Das hieße ja, dass die Besetzung, die 1940 stattgefunden hat, rechtmäßig gewesen sei."
    Am 13. Januar 1991 umzingeln sowjetische Panzer den Fernsehturm in Vilnius, 14 Menschen sterben, mehr als 1000 werden verletzt. Der 13. Januar geht als "Vilniusser Blutsonntag" in die Geschichte ein. Kaum werden erste Meldungen über schießende Sowjetsoldaten in Vilnius verbreitet, reisen Abgeordnete aus Moskau und St. Petersburg, aus Warschau und Prag an, um den Litauern zur Seite stehen. Zum ersten Mal stellen sich auch Washington, Paris, London und Bonn eindeutig hinter Litauen. Jeder ausländische Beobachter oder Journalist hätte ihnen Mut gegeben, weiterzumachen, sagt Zigmas Vaisvila. Der Abgeordnete bewachte mit seinen Kollegen das Litauische Parlament.

    "Die historisch wichtigste Rolle spielte Boris Jelzin. Kaum fielen bei uns Schüsse, flog er nach Tallinn und gab gemeinsam mit den Obersten Räten der Sowjetrepubliken Lettland, Estland und Russland eine Erklärung ab. Jelzin wandte sich an alle Russen, die in den baltischen Ländern lebten. Er verurteilte die blutigen Übergriffe der Sowjetarmee. Es gäbe keine rechtliche Grundlage dafür. Gorbatschow sei ein Mörder. Über Nacht wurde Boris Jelzin zur Leitfigur und hat dadurch die Unabhängigkeit Russlands erreicht. Durch Litauen."
    Mit dem Putsch in Moskau im August 1991 zerbricht die Sowjetunion, und Litauen wird weltweit als unabhängiger Staat anerkannt. Für die junge Republik beginnt ein steiniger Weg von der Plan- zur Marktwirtschaft. Bei der nächsten Wahl 1992 wird Vytautas Landsbergis von dem Reformkommunisten Algirdas Brazauskas verdrängt. Dabei sei der unerbittliche Vytautas Landsbergis genau der Richtige für Litauens Weg hinaus aus der ehemaligen Sowjetunion gewesen, hebt der einstige Ideologe der Kommunistischen Partei, Lionginas Sepetys hervor.

    "Als ich 1990 mit Wählern gesprochen habe, träumten sie davon, umgehend westliche Läden und Sozialsysteme zu erhalten. Stattdessen folgte die Privatisierung, die Kolchosen wurden aufgelöst, und die Leute waren schockiert. Sie haben nicht verstanden, dass sich in einem unabhängigen Staat auch der Alltag ändern wird. Und sie haben alle die Schuld auf Landsbergis geschoben. Die Leute hofften dann wieder auf Brazauskas. Er war schon im Sozialismus sehr populär. Er war immer der Vorsitzende der großen Linkspartei und zieht noch heute die Leute an, obwohl er schwer krank ist. Es gibt zwei große Namen für Litauen. Das sind Brazauskas und Landsbergis oder auch Landsbergis und Brazauskas."
    Unter Staatspräsident Algirdas Brazauskas erreicht Litauen 1994 den Abzug der Sowjetarmee. Als Ministerpräsident begleitet Brazauskas Litauens Beitritt zur NATO und zur Europäischen Union im Jahr 2004. Ganz unabhängig vom russischen Nachbarn ist die Baltenrepublik aber bis heute nicht. Für die EU-Mitgliedschaft hat Vilnius einen hohen Preis gezahlt. Ende letzten Jahres wurde das Kernkraftwerk "Ignalina" abgestellt. Diesen Reaktor hatte Moskau 1984 in der damaligen Sowjetrepublik in Betrieb genommen. Aber er war baugleich dem Unglücksreaktor in Tschernobyl. Deshalb war seine Stilllegung Voraussetzung für Litauens EU-Beitritt. Gegen den aufgetretenen Versorgungsengpass hat die litauische Regierung keine langfristige Lösung parat. Deshalb hofft Russland, Litauen zukünftig mit Strom aus dem AKW in Kaliningrad beliefern zu können, mit dessen Bau gerade begonnen wird. Schon jetzt habe Litauen wieder neue Energiegeschäfte mit Russland abgeschlossen, klagt Vytautas Landsbergis. Der Vater der litauischen Unabhängigkeit hat sich mit seiner unversöhnlichen Haltung gegenüber Russland zu Hause längst ins Abseits gebracht. Heute sitzt Vytautas Landsbergis als Abgeordneter im Europaparlament. Er wisse, was es bedeute, unter dem Diktat Moskaus zu leben und möchte das seinen westeuropäischen Kollegen vermitteln. Leider ohne Erfolg. Europa habe an Litauen vorbei die Ostseepipeline auf den Weg gebracht.

    "Die Ostseepipeline schneidet die Balten vom Rest Europas ab. Das Gas wird nicht durch unser Land geleitet. Es wird leicht werden, uns zu bestrafen mit einem Lieferstopp. Russland will die Ostsee in ein 'Gazprom'-Meer verwandeln. Der Kreml versteht diesen Teil der Welt immer noch als Teil Russlands. Leider erkennen die Länder der EU einfach nicht, welches Spiel Moskau in der Energiepolitik spielt. Wird die EU am Ende gar in eine 'Gazprom' Union überführt?"
    Zwanzig Jahre nach dem Austritt aus der ehemaligen Sowjetunion sieht sich Litauen mit enormen Problemen konfrontiert. Eine zersplitterte Parteienlandschaft führte zu häufigen Regierungskrisen, miserabel bezahlte Lohnarbeit ließ Zehntausende auswandern, um bessere Jobs in England oder Irland zu finden. Zwar steht das Land trotz der aktuellen Finanzkrise besser da als sein Nachbar Lettland, dafür zählt Litauen ebenso wie Lettland zu den korruptesten Ländern in der Europäischen Union. Nach wie vor werde Bestechung als effektivstes Mittel angesehen, um Probleme zu lösen, äußert Sergejus Muravjovas. Der 29-Jährige will mit der unabhängigen Organisation "Transparency International" Licht in das Dunkel der Korruption bringen. Seit Litauens Beitritt zu EU und NATO sei der Reformprozess zum Stillstand gekommen. Er wolle die Bürger motivieren, mehr Verantwortung für den Staat zu übernehmen.

    "Wir arbeiten an einem Gesetz, das uns erlaubt, in Betrieben oder auch in der Politik einzugreifen, wenn wir Korruption vermuten. Aber die Leute fürchten dieses Gesetz, sie fühlen sich an den sowjetischen Geheimdienst erinnert, denken sie sollten wie damals ihre Freunde ausspionieren. So kann die Vergangenheit die Zukunft beeinflussen."
    Zwanzig Jahre, nachdem Litauen seine Unabhängigkeit wiedererlangt hat, müssen die Menschen täglich erleben, wie Firmen pleitegehen und Leute auf der Straße stehen. Trotzdem bleiben die Litauer gelassen.

    "Ich bin froh über unsere Unabhängigkeit. Als Kind hätte ich mir nicht träumen lassen, das zu erleben. Aber die Regierung sollte sich mehr um uns kümmern. Dass jetzt nach 20 Jahren solch eine Krise herrscht, ist schrecklich."

    "Ich bin in der Sowjetzeit groß geworden und weiß, was es bedeutet, nicht frei entscheiden zu dürfen. Aber mit Freiheit richtig umzugehen, daran müssen wir alle hart arbeiten."