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Sowohl Massen- als auch Kaderpartei

Ab Oktober 1989 musste die SED ohnmächtig mit ansehen, wie ihr die Macht mehr und mehr entglitt. Eine der ersten Forderungen der mündig gewordenen Bürger war konsequenterweise die Änderung der DDR-Verfassung, in der die führende Rolle der SED festgeschrieben war.

Von Harald Kleinschmid | 09.11.2009
    Die Partei, die Partei, die hat immer recht ...

    Der Untertitel des fast 500 Seiten starken Buches "Geschichte einer deutschen Partei" ist irreführend. Denn die SED war nicht irgendeine Partei in Deutschland. Ihre "führende" Rolle samt ideologischer Ausrichtung - "marxistisch-leninistisch" - war seit 1974 in Artikel 1 der DDR-Verfassung niedergeschrieben. Die beiden Autoren beginnen ihre Darstellung im Sommer 1945, als sich im Osten Deutschlands die sowjetische Besatzungsmacht anschickte, ihre Herrschaft mit Hilfe politischer Strukturen zu sichern, die sich eng an die stalinschen Vorgaben anlehnten. Eindrucksvoll schildert Andreas Malycha, wie sich die KPD nach ersten politischen Erfolgen der SPD erst Ende 1945 auf Anraten Moskaus entschloss, den Gedanken einer Einheitspartei intensiv zu verfolgen, dann aber mit allen Mitteln der Täuschung und der Repression. Zwanzig Jahre nach dem Ende der "Einheitspartei" – zumindest dem Namen nach - ist die Studie ein gelungenes Beispiel der deutschen Einheit: Andreas Malycha war von 1983 bis 1991 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Marxismus-Leninismus beim SED-Zentralkomitee, bei den ideologischen Gralshütern gewissermaßen. Peter-Jochen Winters war von 1977 bis 1990 für die FAZ in der DDR akkreditiert – der Klassenfeind des ersteren also schlechthin. Der eine vertritt für die Ära Ulbricht bis 1972 die "ostdeutsche Binnenansicht", der andere für die Ära Honecker die "westdeutsche Außenperspektive". Dass die methodischen Gegensätze beider gering und sie sich einig sind in der Analyse, ist bemerkenswert. Die SED war aus ihrer Sicht eine "ideologisch geprägte und diktatorisch handelnde Partei". Malycha und Winters gehen allerdings über diese politische Binsenweisheit hinaus und treffen schon im Vorwort folgende Feststellung über die Partei, die in den 80er-Jahren über zwei Millionen Mitglieder hatte.
    Die SED war kein homogenes, sondern ein lebendiges und vielgestaltiges Gefüge von Menschen, die als Parteimitglieder und zugleich als Individuen in verschiedenen gesellschaftliche Bezügen handeln mussten und die daraus erwachsenden Widersprüche selten auflösen konnten. Auf diese Weise war sie vom Charakter her sowohl Massenpartei als auch Kaderpartei.
    Unter dieser Prämisse schildern die beiden Autoren nicht nur den Ausbau eines subtilen Herrschaftssystems nach außen, sondern auch nach innen. Die Parteimitglieder wurden nach stalinistischem Vorbild unter dem Vorwand, "die Einheit und Geschlossenheit zu wahren", zu unbedingtem Gehorsam gegenüber der Führung unter dem Stichwort "Parteidisziplin" gezwungen. Allen innerparteilichen Kritikern – Rudolf Herrnstadt, Wolfgang Harich, Robert Havemann, Wolf Biermann, Rudolf Bahro – um nur einige prominente Dissidenten der Zeit von den 50ern bis zu den 80er-Jahren zu nennen – nichts außer der physischen Vernichtung blieb ihnen erspart. Eingeschüchtert fügten sich spätestens seit dem 17. Juni 1953 Hunderttausende und wagten sich erst im Herbst 1989 aus der Deckung, als die SED binnen weniger Monate ihre Macht verlor. Ansätze einer Abrechnung mit dem System nahm der turbulente Sonderparteitag im Dezember 1989 vor, in dem die Auflösung der Partei verhindert und Gregor Gysi zum Vorsitzenden der umbenannten SED/PDS gewählt wurde.
    Zum kritischen Umgang mit und zur gründlichen Aufarbeitung der eigenen Geschichte konnten die Parteitagsdelegierten außer einer generellen, zunächst nur schlagwortartigen Absage an den Stalinismus nichts beitragen. Dies blieb eine Aufgabe, mit der sich die Partei noch auf Jahre hinaus beschäftigen musste, ohne sie jedoch zu bewältigen. Dabei ging es nicht zuletzt um Fragen wie: Was muss unter "Stalinismus" verstanden werden? Nur eine in der kommunistischen Theorie unbekannte, unangenehme Episode im ansonsten makellosen sozialistischen System? Oder doch vielmehr die systemimmanente Despotie in der marxistisch-leninistischen Gesellschaftskonzeption.
    Der Widerspruch zwischen idealistischem Ansatz und despotischer Verwirklichung galt analog auch für die Wirtschaftspolitik. Die SED war stets zerrissen zwischen der Notwendigkeit, soziale Versprechungen machen zu müssen, um ihre undemokratische Herrschaft zu legitimieren, und der Unfähigkeit, diese mittels einer zentral gesteuerten Planwirtschaft einzulösen. Maßlose Verschuldung war schließlich einer der Gründe für ihr Scheitern. Dies alles schildern die Autoren weitgehend wertungsfrei, auch belegt durch zahlreiche Zitate aus Erinnerungen führender Genossen nach der Wende. Was fehlt, sind Bezüge auf die Wurzeln der SED bei den Kommunisten der zwanziger Jahre ebenso wie Hinweise auf die Auseinandersetzungen mit dem westeuropäischen Eurokommunismus in den 70er-Jahren. Auch die Beziehungen zur Bundesrepublik werden vornehmlich aus dem DDR-Blickwinkel ohne die gegenseitigen Wechselwirkungen betrachtet. Den Bogen zur Gegenwart schlagen die Autoren bewusst vage.

    Ob "Die Linke" in Wahrheit nur eine aufgeblähte PDS ist, die die Vergangenheit nicht bewältigen kann, oder ob sie sich zu einer stabilen, gesamtdeutschen demokratischen Linken auf den Boden und unter eindeutiger Anerkennung des Grundgesetzes entwickelt, das auch einen "demokratischen Sozialismus" zulässt wird sich nicht zuletzt daran entscheiden, wie die Partei mit der untergegangenen DDR und ihrer SED-Vergangenheit umgeht.
    Hilfreich für die überfällige Diskussion über das Parteiprogramm der "Linken" wäre das Buch über die "Geschichte der SED" allemal.

    Harald Kleinschmid über Andreas Malycha und Peter Jochen Winters: "Die SED. Geschichte einer deutschen Partei". Erschienen in der Beck'schen Reihe, 480 Seiten zum Preis von 16 Euro und 95 Cent (ISBN-10: 3406592317).