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Sozial oder populistisch?

Was ist sozial gerecht? Über dem SPD-internen Streit um einen längeren Bezug des Arbeitslosengeldes I für Ältere steht diese Grundsatzfrage. Abschließend klären lässt sie sich nicht.

Von Frank Capellan, Werner Nording und Martin Steinhage |
    Am Anfang war die CDU, sagt Franz Müntefering. Der Vizekanzler müht sich inzwischen, den Schwarzen Peter an die Union weiterzugeben. Schließlich habe es die Kanzlerin und CDU-Vorsitzende vor knapp einem Jahr nicht geschafft, ihre Partei von einem unsinnigen Beschluss abzuhalten, schimpft der Sozialdemokrat. Als NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers im Herbst letzten Jahres einen CDU-Parteitagsbeschluss erzwang, da sei das ganze Theater losgegangen. Rüttgers' Vorschlag sieht im Kern vor, älteren Arbeitslosen wieder länger Arbeitslosengeld zu zahlen, jüngeren dafür kürzer. In der Union war und ist das bis heute äußerst umstritten - die Dresdner Parteitagsentscheidung war nur möglich geworden, weil feststand: Mit der SPD würde ein Zurückdrehen der Agenda 2010 sowieso nicht zu machen sein, niemand in der Union musste also Angst haben, den umstrittenen Parteitagsbeschluss jemals umsetzen zu müssen. Die beste Garantie dafür bot damals, im November 2006, vor allem einer: der Vizekanzler höchstpersönlich:

    "Was Rüttgers so vorschlägt, das ist handwerklich dilettantisch, und das ist in seinen Wirkungen auch nicht sozial."

    Franz Müntefering und Kurt Beck zogen damals noch an einem Strang. Der SPD-Vorsitzende empörte sich über Rüttgers, sprach vom Systembruch, wer Arbeitslosengeld-Zahlungen von der Anzahl der Beitragsjahre abhängig machen wolle, der mache aus der Risiko- eine Ansparversicherung. Und außerdem, so Kurt Beck, die Agenda aus billigen Gründen revidieren? - Nicht mit mir!

    "Jetzt wollen wir das wieder zurückdrehen, weil irgendjemand meint, damit würden seine Wahlchancen in einem Land besser. Das kann nicht Politik sein. Entschuldigung, das geht nicht."

    Ein Jahr später ist es der SPD-Chef selbst, der sich vorwerfen lassen muss, die Rolle rückwärts zu probieren, um die eigenen Chancen zu verbessern. In der Partei findet er überwältigende Zustimmung für seinen Vorschlag, Beck kann sich zum einen mit Blick auf eine Kanzlerkandidatur persönlich profilieren, zum anderen aber auch der Linkspartei den Wind aus den Segeln nehmen: 85 Prozent der Bevölkerung sehen in der Verkürzung der Arbeitslosengeld-I-Zahlungen auf ein Jahr eine der größten Ungerechtigkeiten der Agenda 2010. Nur wer mit über 55 seinen Job verliert, hat Anspruch auf 18 Monate, danach droht statt rund 60 Prozent des letzten Nettogehaltes Hartz IV: Regelsatz: 347 Euro im Monat. Dass der oberste Sozialdemokrat von diesem Druck etwas nehmen will, dafür ist ihm der Applaus von allen Seiten sicher. Aus fachlicher Sicht allerdings tut sich Kurt Beck in diesen Tagen überaus schwer, seine Kehrtwende um 180 Grad glaubhaft zu verkaufen. Wir stehen zu Schröders Agenda, lautet seine Sprachregelung:

    "Aber wir haben die eine oder andere Entscheidung weiterzuentwickeln."

    "Das ist keine Weiterentwicklung, das ist schon ein Schwenk, den man da an einer Stelle durchführt","

    widerspricht Franz Müntefering. "Nicht das Populäre, sondern das Vernünftige müssen wir tun.""Es gibt bestimmte Politik, die ist richtig aber noch nicht populär. Da muss man gucken, dass die populär wird und darf nicht weglaufen.""

    Weggelaufen sind aber vor allem Münteferings Mitstreiter: Frank-Walter Steinmeier etwa, als Kanzleramtschef von Gerhard Schröder Architekt der Agenda 2010. Er möchte Ende des Monats vom Parteitag zum Stellvertreter Becks gewählt werden. Der Außenminister hält sich deshalb ebenso dezent zurück wie Finanzminister Peer Steinbrück. Er steht als Parteivize zur Wiederwahl. Und selbst Alt-Kanzler Schröder zeigte sich nach anfänglicher Verärgerung über Kurt Beck doch noch versöhnlich:

    "Ich weiß, wie viel Loyalität man braucht, meine hast Du."

    Spätestens nach diesem Satz drängt eine überwältigende Mehrheit der Sozialdemokraten Vizekanzler Müntefering, seinen Widerstand gegen Becks Vorhaben aufzugeben:

    "Nach vorne gucken und auch noch ein bisschen verändern dürfen, das muss drin sein, Franz","

    meint Becks designierte Stellvertreterin, die Linke Andrea Nahles.

    Franz Müntefering ist isoliert. Weil die Bundesagentur für Arbeit Milliardenüberschüsse erwirtschaftet hat, sollten Wohltaten auch für Arbeitslose drin sein, glaubt die Partei. 800 Millionen Euro will Kurt Beck locker machen, um die Bezugsdauer wieder zu verlängern: Wer älter als 50 ist, soll 2 Jahre Arbeitslosengeld erhalten können, die über 45-Jährigen noch 15 Monate - ein Modell des deutschen Gewerkschaftsbundes. Strikte Ablehnung von Franz Müntefering:

    ""Meine Meinung ist, dass ein Familienvater oder Mutter mit aufwachsenden Kindern es nicht schlechter haben sollte als derjenige, der 60 ist und die Kinder groß hat."

    Dieses Argument gewinnt zunehmend auch in der Auseinandersetzung mit der Union an Gewicht. Wer lange eingezahlt hat, bekommt mehr raus, sieht das Rüttgers-Modell vor. Vor allem aber soll ein länger gezahltes Arbeitslosengeld nichts kosten:

    "Wir können nicht neue Kostenbelastungen in der Arbeitslosenversicherung akzeptieren","

    betont CSU-Chef Erwin Huber. Sein Parteifreund Günther Beckstein kann sich zwar Gespräche mit der SPD vorstellen,

    ""Es sind nicht von vorneherein hundertprozentig Gegenänderungen."

    aber der künftige bayerische Ministerpräsident bringt eine andere Frage in die Diskussion:

    "Die Frage, ob nicht unter Umständen eine Reduzierung des Beitrags für alle mehr bringt, mehr Arbeitsplätze schafft."

    Der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung könnte mit den Überschüssen der Bundesagentur für Arbeit weiter gedrückt werden, deutlich unter die für Januar angekündigten 3,9 Prozent, das halten viele in der Union für sinnvoller als längere Zahlungen beim Arbeitslosengeld I. Vizekanzler Müntefering kann also darauf hoffen, dass sich die Union nicht einigen wird, dann käme der Arbeitsminister erst gar nicht in die Verlegenheit, einen Parteitagsbeschluss der Genossen im Kabinett umsetzen zu müssen, den er selbst für grundfalsch hält.

    "Unser höchstes Entscheidungsorgan ist der Parteitag","

    hat nämlich der SPD-Vorsitzende mehrfach betont und keinen Zweifel gelassen, dass er im Streit mit dem Vizekanzler nicht nachgeben wird. Auf den Fluren deutscher Arbeitsagenturen jedenfalls scheint Kurt Beck mit seinem Vorstoß den Nerv getroffen zu haben.

    Zukunftsangst in den Arbeitsagenturen
    Heute Morgen im Jobcenter Norderstraße der Agentur für Arbeit in Hamburg: Ein Mann meldet sich arbeitslos, weil er zum 1. November seinen Job verliert. Der 41-Jährige arbeitet seit 15 Jahren in einem Unternehmen der Dienstleistungsbranche, zuletzt war er Serviceleiter und zuständig für bis zu 40 Mitarbeiter. Bislang verdiente er mehr als 60.000 Euro. Wenn er ab nächsten Monat das sogenannte Arbeitslosengeld I bezieht, muss er sich auf deutliche Einbußen einstellen. Hat er nach einem Jahr keine neue Stelle gefunden, muss er fürchten, in Hartz IV abzurutschen. Keine guten Aussichten. Deshalb hält er den Vorstoß des SPD-Parteivorsitzenden Kurt Beck für richtig, die Bezugsdauer von ALG I zu verlängern.

    ""Schauen Sie, ich habe eine ganze Menge eingezahlt, habe fleißig meine Steuern abgegeben, fleißig in alle Kassen eingezahlt und das jetzt doch über einen sehr langen Zeitraum in nicht unerheblichem Maße. Und eine fehlende Absicherung, die bis zur sozialen, ja ich sage mal in Anführungsstrichen 'Verwahrlosung' führt, kann auch nicht Sinn unserer Gesellschaft sein."

    Vor Einführung der Hartz-Gesetze galten andere Regelungen für den Bezug von Arbeitslosengeld. Ältere hatten einen erheblich längeren Anspruch auf eine angemessene Unterstützung, wenn sie ihren Job verloren hatten, erklärt Reinhard Brettschneider, zuständig für die Auszahlung von Arbeitslosengeld bei der Hamburger Arbeitsagentur.

    "Da konnte in 57-Jähriger bis zu 32 Monate Arbeitslosengeld I beziehen. Da fing es auch schon an, dass man mit 45 schon mehr als ein Jahr beziehen konnte, nämlich 16 Monate, und das staffelte sich dann nach Lebensalter und Beschäftigungszeit, man konnte die Rahmenfrist auch viel weiter erweitern."

    Seit Anfang 2005 ist das ALG I auf zwölf Monate begrenzt, danach wird höchstens bis zum 65. Lebensjahr ALG II gezahlt.

    "347 Euro zum Lebensunterhalt plus Nebenkosten der Miete, das war es."

    Das ist der Sozialhilfesatz, von dem seit Jahren viele Betroffene in Deutschland leben müssen. Für eine Familie mit zwei Kindern über 14 Jahren bedeutet das:

    "Die würden insgesamt für den Lebensunterhalt, das muss ich immer sagen, weil ja die Kosten der Unterkunft mit Heizung dazukommen, für den Lebensunterhalt 1178 Euro bekommen können, das setzt sich zusammen aus zweimal 90 Prozent von 347 Euro für die Eltern, also 312 Euro für jedes Elternteil und 277 Euro für jedes Kind."

    Das sind nicht einmal 300 Euro pro Person und Monat für eine vierköpfige Familie. Auf dieses Sozialhilfeniveau abzurutschen, davor haben die ALG-I-Bezieher Angst. Claudius Sanmann war zehn Jahre Hausmeister bei einer Liegenschaft in der Hamburger Innenstadt. Als die Immobilie verkauft wurde, verlor der 39-Jährige ganz plötzlich seine Arbeit. Ende dieses Monats läuft sein ALG-I-Geld aus. Heute ist er in der Arbeitsagentur, um einen Antrag auf ALG II zu stellen. Dann wird sich sein Einkommen auf einen Schlag um zwei Drittel verringern.

    "Von knapp 1000 Euro Arbeitslosengeld I auf demnächst 347 Euro Hartz IV. Davor habe ich natürlich Angst, das ist schon existenzbedrohend. Vorher hatte ich 1300 netto, das war natürlich noch nicht so eine Verschlechterung wie jetzt bei Hartz IV."

    Der Hausmeister Sanmann findet es ungerecht, dass ALG-II-Empfänger mit der Hartz-IV-Reform über einen Kamm geschoren werden. Das müsse dringend korrigiert werden.

    "Auf jeden Fall finde ich das für Leute, die 20, 30 , 35 Jahre gearbeitet haben und dann in die Arbeitslosigkeit fallen, schon bitter, wenn die dann nur 12 Monate ihr Arbeitslosengeld I bekommen und einer, der nun ein oder zwei oder drei Jahre gearbeitet hat bekommt auch zwölf Monate lang das Arbeitslosengeld I. Also gerechter find ich das schon, wenn Ältere oder Leute, die länger in Arbeit waren und dann in die Arbeitslosigkeit fielen, länger ihr Geld bekommen."

    Dass man mit ALG II nicht zurechtkommt, weiß dieser arbeitslose Kraftfahrzeugmechaniker schon lange. Seit acht Jahren ist er arbeitslos, eine Chance, eine neue Stelle zu bekommen, hat der ledige Mann mit Ende 40 nicht. Heute will er ein Darlehen beantragen, weil sein alter Kühlschrank vor einigen Tagen kaputt gegangen ist.

    "Ich brauche einen neuen Kühlschrank, Entschuldigung, ich möchte nicht jeden Tag einkaufen gehen, ich möchte auch mal was im Kühlschrank lagern können, ohne dass es mir kaputt geht, ich habe kein Geld, irgendwelche Lebensmittel wegzuschmeißen, dafür brauche ich ungefähr 200 Euro, ein zinsloses Darlehen müsste man mir gewähren."

    Einen Anspruch auf das Darlehen hat er nicht. Das liegt im Ermessen des Sachbearbeiters. Früher, als die Kommunen die Unterstützung gezahlt haben, war das selbstverständlicher. In Sachen Verlängerung des ALG-I-Geldes hat der Kfz-Mechaniker eine klare Meinung. Da ist er strikt dagegen, weil er dann persönliche Nachteile fürchtet.

    "Und was bleibt uns dann übrig? Im Endeffekt geht das dann wieder auf unsere Kosten, weil se dann bei uns wieder sparen. Ja logisch, irgendwo muss das Geld ja herkommen, oder?"

    Dieser Möbelpacker hat seine Arbeit vor zwei Jahren verloren, weil sein Rücken kaputt ist. In seinem Job hatte er knapp 1000 Euro verdient, mit ALG I waren es immerhin noch 700. Seit einem Jahr ist er auf 347 Euro abgerutscht. Die Diskussion um die Verlängerung von ALG I sieht er kritisch.

    "Wenn die das verlängern, dann finde ich auch, dass die ALG II auch erhöhen, da kann doch kein Mensch von leben, geht doch gar nicht, also mindestens bräuchte ich, wenn ich gut leben möchte, 450 bis 500 Euro, da könnte man gut von leben im Monat."

    Im Hamburger Jobcenter ist die Schlange vor den Tresen der Berater im Laufe des Vormittags länger geworden. Die 44-jährige Heike Schäfer aus dem Rheinland hat 16 Jahre als Redaktionssekretärin gearbeitet, jetzt bekommt sie ALG I. Vorher hatte sie 1400 Euro netto, jetzt muss sie mit 800 Euro auskommen.

    "Ich schränke mich natürlich in den Einkäufen ein, Lebensmittel natürlich nicht, aber man muss ja nicht jede Woche eine Jeans kaufen gehen, also schon ein bisschen sparsamer sein. Ja, Auto muss ich haben, Urlaub fahre ich ganz selten."

    Mit der Verlängerung von ALG I würde ihr eine große Last genommen.

    "Man hat dann nicht so den Druck, wenn man jetzt ein halbes Jahr dazu bekommt oder ein Jahr sogar, dass man nicht so unter Druck steht, weil: Das ist natürlich auch eine ziemliche nervliche Belastung, ich sehe das ja bei mir selbst als Sekretärin, ich schreibe so viele Bewerbungen und ganz selten mal eine Einladung zum Vorstellungsgespräch, also es ist schon schwierig, der Druck ist schon ziemlich groß."

    Keine detaillierten Untersuchungen
    Ist die im Zuge der Agenda 2010 erfolgte Verkürzung der Auszahlungsdauer beim Arbeitslosengeld I eher ein Fluch oder doch ein Segen aus Sicht der Betroffenen? Macht es Sinn oder ist es zutiefst ungerecht, wenn ein 50-Jähriger nur noch zwölf Monate Anspruch auf das Arbeitslosengeld hat und ihm dann Hartz IV droht? - Detaillierte Untersuchungen zu diesen Fragen gibt es noch nicht. Allerdings liegen eine Reihe wissenschaftlicher Erkenntnisse vor und bekannt sind belastbare Zahlen vom Arbeitsmarkt, die es ermöglichen, erste Antworten zu geben. So verweist Bundesarbeitsminister Franz Müntefering auf das Zahlenmaterial der Bundesagentur für Arbeit, das eindeutig zeigt, dass in der Altersgruppe der über 50-Jährigen die Arbeitslosigkeit zurückgegangen ist:

    "Wir haben in diesem Jahr 200.000 arbeitslose über 50-Jährige weniger als vor einem Jahr. Die Älteren haben große Chancen. Wir haben angefangen mit Gerhard Schröder bei 37,6 Prozent der über 55-Jähren in Beschäftigung. Es sind jetzt über 50 Prozent, das heißt, es ist eine große Bewegung. Von denen, die vom Arbeitslosengeld I ins Arbeitslosengeld II fallen, das sind etwa 220.000 in diesem Jahr, sind 50 000 älter als 50, das heißt, es sind 190.000 jünger als 50."

    Für Müntefering ist klar: Die verkürzte Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes I, kurz ALG I, wirkt: Wer ohne Job ist, hat nun bessere Chancen, neue Arbeit zu finden. Vor allem Ältere kommen jetzt wieder schneller in Lohn und Brot. Für seine Interpretation der Arbeitsmarktzahlen findet Müntefering breite Unterstützung in der Wissenschaft. So weisen Experten darauf hin, dass der zahlenmäßige Rückgang bei den Beziehern des ALG I ursächlich durch die Agenda 2010 ausgelöst wurde. Die gute konjunkturelle Lage habe diese Entwicklung lediglich begünstigt, sie sei aber nicht hauptverantwortlich für den positiven Trend. Auch beim Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, kurz IAB, ist man sich sicher: Vor allem die Hartz-Reformen haben dafür gesorgt, dass es inzwischen rund 1,5 Millionen Arbeitslose weniger gibt. IAB-Vizedirektor Ulrich Walwei:

    "Man muss natürlich ganz klar sagen, dass durch die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe Arbeitslose einen wesentlich größeren Druck verspüren, halt relativ früh anfangen zu suchen und auch andererseits sehr intensiv zu suchen, weil ihnen nach 12 beziehungsweise 18 Monaten dann natürlich auch die Sozialhilfe droht."

    Das heißt, Arbeitslose schrauben aus Angst vor dem Absturz in Hartz IV ihre Ansprüche an einen neuen Arbeitsplatz zurück, sie nehmen Lohneinbußen in Kauf und sind mobiler geworden. Umgekehrt finden Unternehmen leichter Personal für niedrig entlohnte Jobs und fragen diese auch verstärkt am Markt nach. Diese Entwicklung darf nicht wieder rückgängig gemacht werden, sagt Hilmar Schneider vom Institut zur Zukunft der Arbeit:

    "Arbeitslosigkeit von sechs, sieben Jahren war in Deutschland keine Seltenheit. Und wenn die Menschen heute früher Jobs akzeptieren, die vielleicht nicht ganz so gut bezahlt sind, wie sie das gerne hätten, dann ist das letzten Endes keine schlechte Geschichte, sondern das dient ihnen. Denn sie verlieren nicht ihre Erwerbsfähigkeit. Das ist das, was das System der Arbeitslosenversicherung früher angerichtet hat. Das hat die Menschen regelrecht in die Falle getrieben."

    Die Gegner des Vorschlags von SPD-Chef Kurt Beck führen ein weiteres Argument ins Feld: Eine längere Auszahlung des Arbeitslosengeldes I hätte quasi automatisch eine neue Welle von Frühverrentungen zur Folge. Aus diesem Grund hat sich die SPD-Bundestagsabgeordnete Nina Hauer auf die Seite von Franz Müntefering gestellt:

    "'"Ich will nicht, dass wir wieder dahin kommen, dass es für die Konzerne attraktiv ist, ältere Beschäftigte aus den Betrieben zu schieben, und dass diese Frühverrentungsprogramme dann von allen Sozialversicherten auch noch bezahlt werden.""

    Tatsächlich war es jahrelange Praxis bei zahllosen Betrieben, ältere Mitarbeiter mittels einer vermeintlich attraktiven Rechnung zum Ausscheiden zu bewegen: Mit einer Abfindung wurde den Gekündigten das viel länger als heute gewährte Arbeitslosengeld so aufgebessert, dass sie ihr einstiges Einkommensniveau aufrecht erhalten konnten, bis schließlich der reguläre Rentenbezug anstand. Das aber ging auf Kosten der Allgemeinheit: Alle sozialen Sicherungssysteme von der Rentenkasse bis zur Arbeitslosenversicherung wurden über Jahre erheblich belastet. Und auch für die Betroffenen war das oft genug ein schlechtes Geschäft: Millionen wurden regelrecht aus dem Arbeitsmarkt herausgedrängt. Gewinner waren einzig und allein die Unternehmen, die ältere Mitarbeiter leicht loswerden und ihre Personalkosten senken konnten. Daher besteht für die Arbeitsmarktexperten kein Zweifel: Nicht Hartz IV ist ungerecht, wie das so viele behaupten, ungerecht waren die Regelungen vor Inkrafttreten der Agenda 2010. So sagt auch DIW-Präsident Klaus Zimmermann: Sollte sich Kurt Beck durchsetzen, werden alle Arbeitnehmer, jung wie alt, darunter zu leiden haben, indem sie deutlich höhere Beiträge in die Sozialkassen abführen müssen. Zimmermann fügt hinzu: Absoluter Verlierer wären erneut wieder die Alten, sie müssten die Zeche zahlen wie damals, vor den rot-grünen Reformen am Arbeitsmarkt.