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Sozialarbeit oder Kunst?
Neue Theaterproduktionen mit Flüchtlingen überall in Deutschland

Rund 60 Theater in Deutschland engagieren sich momentan für Flüchtlinge, verzeichnet eine Liste des Internet-Theaterkritik-Portals "Nachtkritik". Und täglich werden es mehr. Doch wie nachhaltig kann Engagement in einer Institution wie dem Theater wirklich sein?

Von Dorothea Marcus | 18.11.2015
    Syrische Bürgerkriegsflüchtlinge stehen am 05.10.2014 bei der Premiere der Oper "Cosi fan tutte" auf der Bühne und tragen T-Shirts mit den Namen der Orte ihrer Herkunft.
    Syrische Bürgerkriegsflüchtlinge treten in der Oper "Cosi fan tutte" von Wolfgang Amadeus Mozart im Theaterhaus in Stuttgart auf. (picture alliance / dpa / Sebastian Kahnert)
    Köln, ganz weit draußen im sogenannten Problemstadtteil Mülheim, unwirtlich neben einen Autobahnzubringer gequetscht. Ein graues, unscheinbares Haus: Hier wohnen, zum Teil seit vielen Jahren, vor allem bosnische und albanische Flüchtlinge. Noch nie vorher sei jemand gekommen, um mit den Flüchtlingskindern Theater zu machen, berichtet die Heimleiterin. Seit einigen Wochen ist das anders: Regieassistenten vom Schauspiel Köln haben einen Jugendklub gegründet. Seine erste Amtshandlung: den heruntergekommenen Aufenthaltsraum für Kinder schöner zu machen.
    "Nicolas, Andrea, Esmeralda, Tonioa, Violetta!"

    Rund zehn Kinder kommen sofort, als die elfjährige Sanella sie zusammenruft. Sie entwerfen zu ihren Namen Körperskulpturen, die jeder nachmachen muss. Dann werden unsichtbare Bälle durch Fantasierunden geworfen. Zwischen drei und dreizehn Jahren sind die Kinder alt.
    "Spielst du mit, Sanella? Du musst mitspielen. Wer sitzt, spielt nicht mit."
    Ist das nicht reine Sozialarbeit?
    Schließlich werden in kleinen Gruppen ausgedachte Szenen gespielt. Die bosnischen Jungs stellen vor allen Dingen brutale Mordszenen, Prügeleien und Polizeieinsätze nach. Auch ich werde mehrfach gefragt, ob ich Polizistin bin. Sanella spielt eine Schlagersängerin.
    Toll ist das schon. Mit Begeisterung sind die Kinder dabei. Doch ist das nicht reine Sozialarbeit? Überschreitet das nicht Grenzen des Theaterauftrags? Soll das dann später alles zu politischer Kunst werden? Der Intendant des Schauspiel Köln, Stefan Bachmann:
    "Wir wollen es auch nicht so machen, dass wir es gleich künstlerisch ausbeuten, sondern es ist wirklich eine nachbarschaftliche Geste. Wir sind in Mülheim, hier gibt es besonders viele Heime. Es gibt da so eine Art Euphorie. Deutschland feiert sich da so etwas als Musterland. Aber die Befürchtung besteht, dass das eine Welle ist, die schnell wieder verebbt. Mir kommt es darauf an, dass wir etwas auf die Beine stellen, das nachhaltiger ist."

    Keine Kulturinstitution engagiert sich in der Flüchtlingsfrage momentan so intensiv wie das Theater. Die Münchener Kammerspiele bauen mit an einem Flüchtlingshaus am Viktualienmarkt. In den Garderoben des Deutschen Theaters in Berlin wohnen Flüchtlinge. In Mannheim stehen Geflüchtete auf der Bühne. Das sind nur wenige Beispiele: Rund 60 Theater engagieren sich da momentan, verzeichnet eine Liste des Internet-Theaterkritik-Portals "Nachtkritik". Täglich werden es mehr: Es gibt kaum ein Theater, das nicht zumindest Benefizvorstellungen anbietet und Geld sammelt.
    "Gute Sozialarbeit ist wichtiger ist als schlechtes Theater"
    Gegen das Engagement selbst ist nichts einzuwenden. Das Schauspiel Köln hat sich etwa mit Fachleuten abgestimmt. Es ist auch eine Woche später im Flüchtlingswohnheim für alleinstehende Männer beeindruckend, wenn gemeinsam der Garten gestaltet und aus Europaletten gemütliche, bunte Gartensessel gebaut werden – als Grillstelle dient ein ausgedienter Mülleimer: Campingidylle vor dem hässlichen Heim.
    Dennoch fragt man sich: Kann Engagement wirklich nachhaltig sein in einer Institution wie Theater, in der Intendanten und Ensembles durchschnittlich alle fünf Jahre vollständig ausgetauscht werden? Und: Was passiert mit dem Theater, wenn es sich nun vom Kunst- zum Sozialraum wandelt? Wird Flüchtlingen damit wirklich geholfen – oder helfen die Flüchtlinge vielmehr den Theater, sich neuen Sinn zu geben? Matthias Lilienthal, Intendant der Münchener Kammerspiele, wiederholt einen emblematischen Satz gerne immer wieder auf den Podiumsgesprächen der Republik:
    "Den Satz, dass gute Sozialarbeit mir immer wichtiger ist als schlechtes Theater."
    Theater als zentrale Diskurs- und Begegnungsräume

    Dass sich Theater durch das Soziale neue Relevanz erkämpfen, kann ihnen keiner vorwerfen: Es ist gut, wenn sich Theater in Städten wieder als zentrale Diskurs- und Begegnungsräume anbieten. Welche Institution wäre zudem besser gerüstet, Kommunikation und technisches Know-how anzubieten. Problematischer wird es, wenn immer wieder die Leidensgeschichten der Flüchtlinge ausgebeutet werden. Das unterläuft selbst so hochgelobten Inszenierungen wie Nicolas Stemanns "Die Schutzbefohlenen" nach Jelinek. Da standen zwar Asylsuchende auf der Bühne – aber natürlich war es wieder ein westdeutscher, weißer Regisseurs, der sie angeleitet hat.
    Die vielen Hilfssammlungen, Deutschlernkurse, Kennenlernabende wären noch viel überzeugender, wenn Flüchtlinge auch als selbstständige Akteure aufträten. Wenn Flüchtlinge Theaterabende ganz allein gestalteten. Syrische Regisseure oder Dramatiker sich zu eigenen Theaterkollektiven zusammenschlössen. Anfänge sind auch hier gemacht: Beim Festival "Spieltriebe" in Osnabrück inszenierte und schrieb der Syrer Anis Hamdoun sein eigenes Stück "The Trip". Am Theater an der Ruhr in Mülheim plant man, eine syrische Theatergruppe aufzubauen. Erst wenn das selbstverständlicher gelingt, kann sich wohlmeinendes soziales Gutmenschentum in echte Bereicherung verwandeln.