Christine Heuer: Ist das deutsche Jobwunder wirklich eines, oder erleben wir in Deutschland im Gegenteil seit einigen Jahren eher eine Katastrophe am Arbeitsmarkt? Der Gedanke drängt sich auf, wenn man sich den sogenannten Datenreport ansieht, der gestern in Berlin vorgestellt wurde. Kernbefund des Papiers ist: Immer mehr Menschen rutschen trotz Arbeit unter die Armutsgrenze. Darüber hat mein Kollege Tobias Armbrüster spät gestern Abend mit Winfried Fuest gesprochen, Volkswirtschaftler an der Fachhochschule Mülheim an der Ruhr, außerdem Mitglied in der Lobby-Organisation Initiative neue soziale Marktwirtschaft. Erste Frage von Tobias Armbrüster an Winfried Fuest: Was läuft schief, wenn trotz Arbeitsmarkt-Boom immer mehr Leute unter die Armutsgrenze rutschen?
Winfried Fuest: Ja, das ist sicherlich auch nicht wegzudiskutieren. Nur ist natürlich der Begriff Armut ein sehr, ich darf mal das Modewort gebrauchen, komplexer Begriff. Der ist deswegen so schwierig, weil diese Armutsdefinition eine relative Definition ist. Ich darf das mal veranschaulichen an einem Beispiel: Wir haben früher im Institut der Deutschen Wirtschaft mal gerechnet. Wenn Bill Gates mit seinen Millionen nicht in den Stiftungen in den USA geblieben wäre, sondern er wäre herübergekommen nach Deutschland und hätte hier eine ebenso große Stiftung errichtet, wir hätten gleichzeitig dadurch in Deutschland auf einen Schlag über 10.000 Arme mehr gehabt, und das zeigt eigentlich, wie problematisch der relative Armutsbegriff ist. Ich will das nicht wegdiskutieren. Nur ich weiß auch, was man mit Statistiken ausdrücken kann und was man nicht ausdrücken kann, und da muss man natürlich sehr vorsichtig sein.
Tobias Armbrüster: Diese Untersuchung hier sagt jetzt, bei 980 Euro im Monat ist jemand arm. Würden Sie das bestreiten?
Fuest: Ich kann die Zahl nicht bestreiten. Aber ich denke mal, es gibt auch einen Armutsbegriff, der lautet absolute Armut, und ich denke, ich darf ruhig die persönlichere Variante auch mal wählen: wir alle waren mal Studenten und da habe ich BAFÖG bezogen und ich fühlte mich mit 380 D-Mark damals nicht unbedingt arm. Nun ist das nicht mit heute zu vergleichen, aber wenn Sie die Armutsgefährdung sehen und die Armutsschwelle, dann kann ich Ihnen sagen: Wenn man sich die Zahlen mal genauer anschaut, dann ist der Schwellenwert für die Armutsgefährdung dementsprechend vom Jahre 2007 bis zum Jahre 2011 von 10.986 auf 11.757 gestiegen.
Das heißt im Klartext: Je mehr und je höher natürlich der Wohlstand steigt, desto mehr und schneller steigt natürlich auch damit die Armutsschwelle. Das ist natürlich auch ein Phänomen, das wir nicht aus den Augen verlieren dürfen. Ich will das nicht wegdiskutieren. Nur wenn man Zahlen nennt, muss man immer sehr, sehr vorsichtig sein. Das Positive an diesem Bericht zunächst mal - deswegen finde ich den auch sehr gut, insofern sehr gut, weil er sehr gut Auskunft gibt -, es ist eine Kooperation zwischen dem Statistischen Bundesamt und dem DIW in Berlin, die dementsprechend sozialökonomische sogenannte Pannel-Daten auswerten. Das sind sozialtypische Daten. Und es ist eigentlich ein Werk, was beides zusammenführt, die Daten des Statistischen Bundesamtes und Befragungsdaten. Von daher gesehen darf man jetzt nicht sagen, die Statistiken sind alle sicherlich angreifbar, sondern sie geben schon auch eine gewisse Auskunft. Nur man muss vorsichtig in der Interpretation sein und man muss - und das ist vielleicht wichtiger - sich dann auch überlegen, wie können wir denn den Trend, wenn er denn dann negativ ist, ändern.
Anteil von atypischer Beschäftigung vor allem nach der Wende gestiegen
Armbrüster: Wie können wir das denn ändern? Wie können wir verhindern, dass immer mehr Leute in Armut abrutschen, und vor allen Dingen, dass es für immer mehr Leute schwierig wird, aus diesem Dasein als Minijobber herauszukommen?
Fuest: Wir können mal auf die Zahlen dann doch leider - das müssen wir ab und zu mal machen - schauen. Wenn wir mal die Anteile atypischer Beschäftigter uns angucken - das sind Leute, die nur befristete Jobs haben, die diese Minijobs haben -, dann sieht es so aus, dass seit der Wiedervereinigung, also seit 1991, die Anzahl bis zum Jahre 2011 - so lange reicht jetzt diese Zeitachse des neuesten Datenberichts -, dass natürlich diese Anteile gestiegen sind. Aber wenn wir jetzt mal genauer hingucken, dann sehen wir, dass dieser Anteil der atypisch Beschäftigten in erster Linie sehr, sehr stark gestiegen ist - ich darf einmal noch eine Zahl nennen - 1991 von 18 Prozent auf 37 Prozent in dem Bereich der Geringqualifizierten, und das gibt einige Auskunft auch zu den Ursachen. Und wenn wir die Ursachen kennen, können wir vielleicht auch gemeinsam überlegen, wie dann dementsprechend der Trend vielleicht verbessert werden könnte.
Armbrüster: Aber gehört nicht zu diesen Lektionen auch dazu, dass diese Leute offenbar für den Rest ihres Lebens in diesem Dasein als Minijobber gefangen sind, folglich nicht genug Geld verdienen, müssen wir dann nicht sagen, wir müssen dafür sorgen, dass diese Leute einen ordentlichen Stundenlohn bekommen, und dann sind wir sehr schnell beim gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn?
Fuest: Da darf ich Ihnen leider überhaupt nicht zustimmen. Wir würden dadurch die Situation sicherlich eher verschlechtern. Ich darf das auch kurz begründen. Sie bringen jetzt die Anzahl der Minijobber und wenn wir die uns mal im Profil genauer anschauen, sowohl in der Querschnitt- als auch in der Längsschnittbetrachtung, dann sind die größte Anzahl der Minijobber Leute, die dementsprechend als Ehepartner oder als Studenten oder wie auch immer diesen Minijob entweder deswegen ausüben, weil sie eine andere Beschäftigung haben, weil sie ein Studium haben, und oder weil sie als Hausmann oder als Hausfrau einen Hauptverdiener haben und dementsprechend noch etwas hinzuverdienen. Das ist der erste Teil der Argumentation.
Armbrüster: Das heißt, das ist freiwillig, sagen Sie?
Fuest: Das ist freiwillig. Der überwiegende Anteil ist freiwillig. Und man muss dann sehen, dass die Flexibilität, solange die dann freiwillig ist und damit auch natürlich nicht gezwungen ist, da auch ein Indiz dafür ist, dass ich mich entscheiden kann, will ich denn Vollzeit oder will ich nicht Vollzeit arbeiten. Gerade viele, viele Ehepaare, vor allen Dingen, wenn Kinder da sind, überlegen sich ja bewusst, dass einer der Ehepartner vielleicht sogar einen Minijob nimmt oder eine Teilzeitbeschäftigung. Dafür gibt es viele Gründe. Deswegen ist da die Generalisierung nicht sehr gut.
Heuer: Mein Kollege Tobias Armbrüster im Gespräch mit dem Volkswirtschaftler Winfried Fuest.
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