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Sozialdemokraten im Abwind

Am 19. September wird in Schweden ein neuer Reichstag gewählt. Alles andere als ein Sieg der regierenden bürgerlichen Koalition wäre eine Überraschung. Der Wahlkampf mit Musik und Leckereien ist in der heißen Endphase.

Von Albrecht Breitschuh und Alexander Budde |
    Sie komme nun zum "Schrecken der Sozialdemokratie", kündigt die Frau auf dem Podium an. Zu dem Mann, der die bürgerliche Allianz erneut zum Wahlsieg führen werde: Schwedens Ministerpräsident Fredrik Reinfeldt:

    Natürlich jubelt die Menge, als der 45-Jährige zu den Klängen von U2 die Bühne betritt. Keine Frage, es ist tatsächlich der von der irischen Rockband besungene "beautiful day" an diesem Augustnachmittag. Die Liberal-Konservativen, genannt: die "Moderaten", eröffnen bei strahlendem Sonnenschein und Temperaturen um die 30 Grad im Stockholmer Stadtteil Södermalm ihren Wahlkampf. Und da auch ein Ministerpräsident in Schweden nur selten vor so viel Publikum spricht, erinnert Fredrik Reinfeldt erst einmal an die Erfolge seiner Regierung. Man habe das geschafft, was keiner für möglich gehalten habe: Steuersenkungen für normale Angestellte.

    Schweden, so Reinfeldt weiter, sei auf dem Weg zu einem Steuerparadies für Menschen mit kleinerem Einkommen. Und da auch im skandinavischen Königreich die Krankenschwester als Metapher für alle hart Arbeitenden, aber nur mäßig Verdienenden herangezogen wird, bilanziert Reinfeldt, dass eben diese Krankenschwester monatlich umgerechnet 50 Euro mehr in ihrem Portemonnaie habe als noch vor vier Jahren.

    Wahlkampf auch im rund 100 Kilometer westlich von Stockholm gelegenen Eskilstuna. Die rot-grüne Opposition hat sich den Fristadstorg im Herzen der Industriestadt als Kulisse für ihren geballten Auftritt ausgesucht. Es duftet nach Kaffee und Kuchen. Die Parteien locken das Wahlvolk mit Leckereien in ihre rustikalen Holzhütten, die sich wie ein frühzeitliches Wikinger-Dorf um den Platz gruppieren. Rote und grüne Fahnen flattern im Wind, eine lokale Rock-Formation spielt die alten Weisen vom Klassenkampf.

    Dann schwingt sich Maria Wetterstrand zu einer Rede auf. Die grüne Spitzenkandidatin, Jahrgang 1973, beschwört eine Zukunft mit rotierenden Windmühlen, feurigem Biogas und schnellen Zugverbindungen. Wetterstrand kommt gut an in diesen Tagen. Vor allem hier in Eskilstuna, wo sie geboren und aufgewachsen ist. Die junge Mutter findet unter den Schweden mehr Zustimmung als ihre Partei: Engagiert, belesen und buchstäblich ungeschminkt verkörpert sie den rot-grünen Aufbruch, wo andere nur gestrig wirken.

    Der gelernte Zugschaffner Lars Ohly etwa. Seine Vorgängerin Gudrun Schyman holte die Linke einst mit flotten Sprüchen aus der Versenkung. Sie brachte das Kunststück fertig, mit der Regierung zusammenzuarbeiten und gleichzeitig Opposition zu sein. Unter dem Alt-Kommunisten Ohly bewegt sich die Partei jedoch seit geraumer Zeit drastisch nach links und verprellt damit die mühsam umworbenen Jungwähler. "Kaum einer kann sich noch leisten, krank zu sein", klagt Ohly mit sonorer Stimme, dann empört er sich wortgewaltig über die Kinderarmut im reichen Schweden.

    Mona Sahlin steht mit ungerührter Miene daneben, sie muss das jetzt ertragen. Der Auftritt der zierlichen Frau mit dem langen Gesicht ist der Höhepunkt der Veranstaltung, die Regie stellt sie als Schwedens künftige Regierungschefin vor. Sie könne es kaum erwarten, versichert die Sozialdemokratin. Gemeinsam werde man Schweden in ein "Land der Möglichkeiten" verwandeln.

    "Der Arbeitsmarkt hat sich schlechter entwickelt als in vielen anderen Ländern. 100.000 Jobs sind verschwunden, kaum irgendwo in Europa sind so viele junge Leute ohne Beschäftigung. Zugleich ist die Kluft zwischen Arm und Reich tiefer geworden, von gleichem Lohn für Mann und Frau kann keine Rede sein. Die Bürgerlichen haben nicht investiert, sondern die Steuern für uns Besserverdienende gesenkt."

    Wenn am 19. September in Schweden ein neuer Reichstag gewählt wird, wäre alles andere als ein Sieg der regierenden bürgerlichen Koalition oder Allianz, wie sie sich nennt, eine Überraschung. Und ein Thema, das dem Wahlkampf noch eine Wende geben könnte, ist nicht in Sicht. Dabei schien es noch im April so, als laufe alles auf einen Regierungswechsel hinaus. In den Umfragen lag die Opposition so klar in Führung, dass die größte Tageszeitung des Landes, "Dagens Nyheter", schrieb: Nur noch ein Wunder könne die Regierung retten, noch nie sei in der Geschichte schwedischer Parlamentswahlen ein so großer Rückstand aufgeholt worden. Dass das Bündnis aus Sozialdemokraten, Grünen und Linken seinen scheinbar sicheren Vorsprung verspielt hat, hat viele Gründe, einer ist die Spitzenkandidatin: Mona Sahlin hat in Schweden einen äußerst schweren Stand. Schon als die Umfragewerte noch günstig für ihre Partei waren, lag die 53 Jahre alte Vorsitzende deutlich hinter ihrem Konkurrenten Reinfeldt, wenn es um die Frage ging, wer für den Posten des Minister- oder Staatspräsidenten geeigneter sei. Seitdem sinken ihre Persönlichkeitswerte beim Wahlvolk kontinuierlich.

    "Ich habe viele sozialdemokratische Freunde, die sie nicht mögen. Und wenn man den Rückhalt in der Partei nicht hat, kann man auch nicht das Selbstvertrauen ausstrahlen, das man braucht, um erfolgreich zu sein."

    "Es liegt auch daran, dass sie ein Kompromisskandidat war, den niemand so richtig wollte. Die Sozialdemokraten wollten ja Anna Lindh nach Göran Persson haben, aber die ist nicht mehr da. Lindh hat eine große Lücke hinterlassen, die Mona Sahlin nicht ausfüllen kann."

    Eine zutreffende Analyse. Mit dem Mord an der äußerst beliebten Außenministerin Anna Lindh verloren die schwedischen Sozialdemokraten 2003 die designierte Nachfolgerin der damaligen Nummer eins, des Ministerpräsidenten Göran Persson. Als der dann drei Jahre später bei der Reichstagswahl Fredrik Reinfeldt unterlag und kurz darauf auch vom Parteivorsitz zurücktrat, herrschte nicht gerade reger Andrang um seine Nachfolge. Eine Frau sollte es auf jeden Fall sein, aber in der Reihenfolge Margot Wallström, Karin Jämtin und Ulrica Messing sagte eine nach der anderen ab. Bis es schließlich auf Mona Sahlin hinauslief.

    Glückwunsch Mona! Zum ersten Mal in ihrer über 100-jährigen Geschichte hatten Schwedens Sozialdemokraten eine Frau an der Spitze. Eine Berufspolitikerin, die in ihrer Karriere schon so ziemlich jedes Ministeramt bekleidet hatte: Sahlin war unter anderem Arbeits-, Gleichstellungs-, Integrations-, Umwelt-, und Energieministerin, jetzt wollte sie ihre Partei möglichst schnell wieder dorthin zurückführen, wo sie eigentlich immer war. An die Macht:

    "Ich liebe die Politik und trage sie jetzt schon so lange in meinem Herzen. Ich möchte viel erreichen und glaube auch, dass ich es kann. Ich nehme große Unterstützung von der Partei wahr, und werde jetzt alles versuchen, um die Sozialdemokraten wieder in die Regierung zu bringen, und aus ihr eine lebhafte, freudvolle, spannende und neugierige Partei zu machen."

    Das war im März 2007. Aufbruchstimmung in ihrer Partei konnte Mona Sahlin seitdem jedoch nie entfachen, und beim Wahlvolk haftet ihr eine mittlerweile 14 Jahre alte Affaire wie Klebstoff an. Das "Svenska Dagbladed" veröffentlichte kürzlich eine Umfrage, in der die Teilnehmer sagen sollten, was ihnen denn spontan zu den Spitzenpolitikern des Landes einfallen würde. Im Falle Sahlins antworteten über 60 Prozent: "Toblerone". 1996 hatte sie mit der Kreditkarte der Regierung private Einkäufe bezahlt, darunter auch zwei Schokoriegel. Außerdem hatte sie Strafzettel für Falschparken missachtet. Kleinigkeiten, allerdings mit großer Wirkung. Sahlin räumte nicht nur ihren Platz im Reichstag, sondern verzichtete auch auf die Kandidatur für den Parteivorsitz als Nachfolgerin für den amtsmüden Ingvar Carlsson. Zwar erlangte Sahlin schon recht bald unter Ministerpräsident Göran Persson wieder hohe politische Ämter, das Vertrauen der Bevölkerung konnte sie jedoch nicht zurückgewinnen.

    Anders der Amtsinhaber. Fredrik Reinfeldt sucht im Wahlkampf wie seine Konkurrentin wann immer es geht den Kontakt mit den Wählern, besucht klein- und mittelständische Betriebe, wie hier eine Gemüseplantage. Nicht selten trifft er dabei auf Leute, die zwar mit der liberal-konservativen Moderaten Sammlungspartei nicht so viel anfangen können, dafür aber umso mehr mit ihrem Vorsitzenden:

    "Ich habe großes Vertrauen in ihn, andere Politiker der Moderaten wie Carl Bildt wirken sehr arrogant, er nicht. Er ist ein richtig netter Kerl, man kann ihm vertrauen."

    Ein Lautsprecher ist er wirklich nicht, der 45 Jahre alte studierte Wirtschaftswissenschaftler aus dem Stockholmer Vorort Täby. Wer ihm wohlgesonnen ist, deutet seine zurückhaltende Art als Ausdruck menschlicher Wärme. Andere sehen darin eher die Attitüde des leidenschaftslosen Technokraten der Macht. Reinfeldt sieht sich natürlich in der ersten Version getroffen:

    "So bin ich nun mal, eher ruhig und nachdenklich. Obwohl natürlich auch ich mal aufbrausend sein kann. Meinen Sinn für Humor habe ich aber nicht verloren, auch wenn man es mir nicht immer ansieht. Aber ich habe nun einmal eine große Verantwortung. Und die Leute können von mir auch erwarten, dass ich sie ernst nehme."

    Seine Sturm- und Drangzeit hat Fredrik Reinfeldt tatsächlich schon hinter sich. In den 90er Jahren legte er sich immer wieder mit den Etablierten seiner Partei an und machte sich als scharfer Kritiker des schwedischen Wohlfahrtsstaates einen Namen. Nachdem er einsah, dass so keine Wahlen zu gewinnen waren, machte Reinfeldt, inzwischen Parteivorsitzender, aus den Moderaten die "Neuen Moderaten". Vorbild war Tony Blairs "New Labour". Die "Neuen Moderaten" rüsteten ideologisch ab, warfen den Neoliberalismus über Bord und bekannten sich zum Wohlfahrtstaat. Heute nennen sie sich Schwedens einzige Arbeiterpartei. Die allerdings immer noch in der Opposition sitzen würde, wenn es Reinfeldt nicht gelungen wäre, die vier bürgerlichen Parteien zu einem Bündnis zusammenzuführen. Und das funktioniert seit vier Jahren, auch wenn der Betriebsfrieden immer mal wieder gefährdet ist. Die traditionelle Zerstrittenheit der Bürgerlichen war auch ein Grund, warum die Sozialdemokraten jahrzehntelang auf die Macht in Schweden abonniert schienen.

    Doch die Zeiten scheinen vorbei zu sein. Und das hängt nur zum Teil mit der Arbeit der jetzigen Regierung zusammen, die zwar das Land gut durch die Wirtschaftskrise führte und geordnete Staatsfinanzen vorweisen kann, aber in einigen Bereichen, vor allem was den Abbau der Arbeitslosigkeit betrifft, auf der Stelle tritt. Nimmt man dann noch die Furcht vor weiteren Beben an den internationalen Finanzmärkten sowie die Privatisierungen und Deregulierungen im eigenen Land, hätten die Sozialdemokraten eigentlich genug Munition, um einen erfolgreichen Wahlkampf zu führen. Dass sie es nicht tun, liege nicht nur an der Spitzenkandidatin, sagt der einflussreiche Publizist Göran Greider. Die einst so tief im Volk verwurzelte Partei, so der Linksintellektuelle, habe jeglichen Kontakt zu ihrer Kernklientel in den Betrieben und Vororten verloren.

    "Die Linke sollte mehr Selbstvertrauen haben. Ihre Kritik an den entfesselten Marktkräften ist doch berechtigt. Unsere Wirtschaftsweise ist nicht stabil, wir stürzen von einer Krise in die nächste. Hinzu kommt der ökologische Kollaps. Wir machen uns Gedanken, wie wir das Wirtschaftswachstum um eine Kommastelle befördern, während unsere Meere leiden und die Wälder brennen."

    Aber auch für die bürgerliche Vier-Parteien-Koalition gibt es Politikfelder, in denen ihre überwunden geglaubte Zwietracht auflebt. Im Schatten der Großen kratzen die Christdemokraten und das Zentrum gefährlich an der Vier-Prozent-Hürde. Rot-Grün hat sich besonders auf die Zentrumspartei eingeschossen. Tief verwurzelt in der bäuerlichen Landbevölkerung galt sie stets als eine feste Bastion der Kernkraftgegner. Gleichwohl stimmte die Zentrumsvorsitzende und Wirtschaftsministerin Maud Olofsson im vorigen Jahr einem neuen Atomgesetz zu, das eine drastische Verlängerung der Betriebsdauer der zehn im Land laufenden Altmeiler und sogar den Neubau von Reaktoren erlaubt. Der Energiepakt der Bürgerlichen sei kein Kniefall vor der Atomlobby, betont Olofsson seither bei jeder Gelegenheit. Im Gegenzug treibe man nämlich den Ausbau erneuerbarer Energien wie der Windkraft voran.

    "Ich lebe nun schon seit 35 Jahren mit der Kernkraft. Und auf absehbare Zeit werden wir die Meiler noch brauchen. Aber diese Abhängigkeit soll sich vermindern. Wir fördern Investitionen in erneuerbare Energien. Wir besteuern Klimagase, fordern zu mehr Sparsamkeit auf und wollen Kraftfahrzeuge bis 2030 komplett auf alternative Treibstoffe und Hybrid-Techniken umstellen."

    Vor drei Jahrzehnten waren die Fronten noch klar: Solveig Ternström malte schon damals Protestplakate gegen Schwedens Atomanlagen, sammelte Unterschriften für den Atomausstieg. Auf ihrem Feldzug gegen die Kernspaltung wechselte die Schauspielerin im stolzen Alter von 68 Jahren in die Politik. Für die Zentrumspartei eroberte sie beim Wahlsieg der Bürgerlichen im Herbst 2006 einen Sitz im Parlament. Die umweltbewegte Seniorin fühlte sich in der Vier-Parteien-Koalition mit Konservativen, Christdemokraten und Liberalen gut aufgehoben.

    "Ich ging davon aus, dass am Beschluss zum Atomausstieg nicht gerüttelt wird. Laut Koalitionsvertrag war das Thema tabu. Doch dann kam dieser Coup von oben. Plötzlich sollten wir alle für den Ausbau der Kernkraft stimmen. Ich habe das nicht für möglich gehalten. Dabei hatten mich meine Künstlerfreunde vor den Politikern und ihren Lügen gewarnt."

    Die Zentrums-Fraktion war vor einem Jahr während einer Dienstreise in Straßburg regelrecht überrumpelt worden. In vertraulichen Gesprächen wurde den Abgeordneten beschieden, sie müssten der Einigung im Interesse des Koalitionsfriedens ihren Segen geben. Ternström blieb standhaft, doch fast alle Kollegen gaben dem Druck der Parteichefs nach.

    "Es hat einige hässliche Versuche gegeben, mich umzustimmen. Aber verbiegen lasse ich mich nicht."

    Nur mit hauchdünner Mehrheit passierte das Prestigeprojekt der Bürgerlichen Ende Juni das entscheidende Votum im Parlament. Das Atomgesetz könnte wie geplant Anfang nächsten Jahres in Kraft treten. Doch an der Basis gärt es gewaltig. Auch wenn eine Mehrheit der Schweden für die Nutzung der Kernenergie ist, muss das Zentrum fürchten, am 19. September von ihren atomfeindlichen Anhängern abgestraft zu werden. Zwar diskutiert man auch im Kreise der Opposition über längere Laufzeiten, am Atomausstieg will Rot-Grün aber festhalten - und die Wahlen in ein Plebiszit über die Kernkraft verwandeln.

    "Wir haben eine quälende Debatte über die Laufzeiten und das Datum für den Ausstieg hinter uns. Wir wollen den Ausbau der erneuerbaren Energien kräftig fördern und, sobald es die installierte Leistung zulässt, einen Kernreaktor nach dem anderen abschalten. Wir werden zeigen, dass wir den anderen vorangehen, ohne die Energiesicherheit von Verbrauchern und Industrie zu gefährden."

    Wie die Grünen setzen auch die Sozialdemokraten im Wahlkampf auf enttäuschte Überläufer aus der Zentrumspartei. Doch Gefahr droht der bürgerlichen Allianz, die als klarer Favorit in die Schlussphase des Wahlkampfs geht, möglicherweise von ganz anderer Seite. Die größte Unwägbarkeit der Demoskopen verkörpert nämlich die fremdenfeindliche Partei der Schwedendemokraten. Würden sie in das Parlament einziehen, drohten der Parteienlandschaft insgesamt nachhaltige Erschütterungen. Denn sollte keiner der Blöcke eine eigene Mehrheit bekommen, wäre die Regierung gezwungen, auf die Rechtspopulisten zuzugehen. Die letzten Meinungsumfragen sahen die Schwedendemokraten bei über vier Prozent, also im Reichstag. Der Wahlabend am 19. September könnte vielleicht spannender werden, als es der Wahlkampf bisher versprach.