"Eine jut jebratene Jans mit einer joldenen Jabel jejessen, ist eine jute Jabe Jottes" - Hildegard Palm spricht nur rheinisches Plattdeutsch. Die Arbeitertochter aus Ulla Hahns jüngst verfilmtem Roman "Das verborgene Wort" wächst in ärmlichen Verhältnissen auf, irgendwann in den 50er Jahren, irgendwo zwischen Köln und Düsseldorf.
Aber Hildegard hat Fantasie, Intelligenz und den unbändigen Willen, sich aus der bedrückenden Enge von Elternhaus und Dorf zu befreien. Das Mädchen trotzt den cholerischen Ausbrüchen des Vaters ebenso wie der Frömmelei der Großmutter, von der es als Teufelsbraten beschimpft wird. Hildegard schafft es auf die höhere Schule zu kommen.
Denn Schule, Hochdeutsch, Bücher - mit einem Wort: Bildung - verheißen nicht allein sozialen Aufstieg, sie sind das Tor zu einem freieren Leben.
Ulla Hahns Bildungsroman spielt in der Nachkriegszeit. Heute sind wir 50 Jahre weiter. Wie steht es nun um Bildung und soziale Chancengleichheit? Heutzutage heißen die Hürden nicht mehr Provinz und Dialekt, aber die Probleme sind keineswegs geringer: Etwa 20 Prozent der Bevölkerung in Deutschland haben einen sogenannten Migrationshintergrund:
"Wir haben inzwischen um die 100 Sprachen in den Schulen. Von den 100 Sprachen sind 20 Sprachen durch größere Gruppen vertreten, und müssten schulrelevant sein, das ist zumindest unsere Auffassung. Dann verteilt es sich regional sehr unterschiedlich, die neuen Bundesländer sind viel weniger sprachlich heterogen als die alten. Von daher man muss sehr genau gucken, es ist von Stadtbezirk zu Stadtbezirk sehr unterschiedlich und in den ländlichen Bereichen wieder anders als in den Städten, solche Pressemeldungen, die dann durch die Blätter geistern, schreckliche Verhältnisse, wo die Lehrer nicht wissen, wie sie Deutsch mit den Schülern sprechen sollen - das Berliner Beispiel ist ein Beispiel aus einem Bezirk, in einem kleinen Teil des Bezirks, dann gibt es andere Schulen, wo man zeigen kann, dass es sehr gut funktioniert."
Marianne Krüger-Potratz, Professorin für interkulturelle Pädagogik an der Universität Münster, tritt Dramatisierungen entgegen, widerspricht der Rede von den babylonischen Verhältnissen an unseren Schulen. Sie plädiert für eine differenzierte Sicht der Situation. Kulturelle Vielfalt jedenfalls, man mag es als Multikulti bejubeln oder bejammern, ist im Deutschland des 21. Jahrhunderts unübersehbar. Die Erziehungswissenschaftler haben dies nun gewissermaßen offiziell anerkannt, indem sie Kultur in den Plural stellen. "Kulturen der Bildung" lauten Titel und These ihres aktuellen Kongresses.
"Wir gehen davon aus, dass unsere Gesellschaft sehr sozial heterogen ist, das sie kulturell sehr divers ist. Wir haben unterschiedliche Schichten, unterschiedliche soziale Milieus, unterschiedliche Generationen, unterschiedliche Altersgruppen, Migranten, auch sie bilden keine einheitliche Gruppe, sondern bringen unterschiedlichen kulturelle Hintergründe mit - und wichtig ist es in einer Gesellschaft, dass diese unterschiedlichen Gruppen miteinander kooperieren und sich aufeinander beziehen können - das wissenschaftlich auszuleuchten für die verschiedenen Bereiche des Bildungssystems, also die frühkindliche Bildung, die Schule, die berufliche Bildung, die Erwachsenenbildung, - Weiterbildung auch die Hochschule - das ist eine Aufgabe des Kongresses."
Rudolf Tippelt, der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, umreißt die thematische Bandbreite des Kongresses, die das gesamte Bildungssystem abdeckt. Schauen wir zunächst auf die erste Stufe: die frühkindliche Erziehung:
Schon länger wird in Öffentlichkeit und Politik über die institutionelle Betreuung und Förderung von Kleinkindern diskutiert, zum einen, weil auf diese Weise Mütter besser berufstätig sein könnten, zum anderen, weil man so der sozialen Ungleichheit entgegenwirken könnte, zumal bei den unter Zehnjährigen fast 30 Prozent einen Migrationshintergrund aufweisen. Wie die Förderung aussehen könnte, beschäftigt Werner Thole, Professor für Sozialpädagogik an der Universität Kassel, ein Spezialist für Fragen der frühkindlichen Bildung.
"Inhaltlich ist damit gemeint eine stärkere Fokussierung auf sprachliche mathematische, kulturelle und sportliche und soziale Förderung von Fähigkeiten von Kindern in den Altersphasen drei bis sechs und möglicherweise in einer anderen Form, eben auch in der Altersgruppe eins bis zwei. Das wurde in der Mehrheit der Kindertageseinrichtungen bisher auch gemacht, das waren keine großen Spielhöllen, wo sonst nichts passierte, sondern im Spielerischen, im Animativen wurde bisher hier auch schon angeregt, sich zu bilden. Die Erkenntnisse, die wir gegenwärtig haben, zeigen, dass diese Form von Bildung, ohne gleichzeitig schulische Programme initiieren zu wollen, stärker in den Mittelpunkt gestellt werden soll."
Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für ein verbessertes Angebot an Betreuungsplätzen für Unter-Dreijährige sind zwar geschaffen. Und die jetzige Bundesregierung hat ein enormes Ausbauprogramm vorgelegt, allein: An der Umsetzung muss man wohl zweifeln:
"Um die Dimensionen zu verdeutlichen: Wenn bis 2013 der Plan realisiert werden soll, dass 35 Prozent der Kinder zwischen dem ersten und dem dritten Lebensjahr, der sogenannte U3- Bereich, die Chance haben, auch eine institutionelle Förderung und Bildung in Anspruch nehmen zu können, ist es notwendig bis 2013 circa 450.000 neue Plätze zu finanzieren. Wenn Sie sich darüber hinaus noch ansehen, welcher Personalbedarf notwendig ist, so können wir - ohne miteinzurechnen, dass auch die ausscheidenden Kollegen, Erzieher, Sozialpädagogen ersetzt werden - davon ausgehen, dass bei einer Gruppengröße 1 bis 5 wir ungefähr 50.000 Pädagogen benötigen, um diesen Ausbauplan umsetzen zu können. Die finanziellen Ressourcen dafür sind natürlich gewaltig."
Die Pläne zum Ausbau von Erziehungseinrichtungen sind vorgelegt, der Bedarf an wissenschaftlichen Expertisen ist gewachsen. Gleichzeitig geht es aber dem Fach Erziehungswissenschaft selbst an den Kragen, sprich: Es büßt Lehrstühle ein zugunsten von Naturwissenschaften und Technik. Wolfgang Melzer, Professor für Pädagogik an der TU Dresden und Organisator des Kongresses, schlägt Alarm:
"Ich hatte im Zusammenhang der Vorbereitung des Kongresses auch einige Statistiken studiert, und es verhält sich so, dass im Zeitraum von 1995 bis 2005 ungefähr 1500 Professorenstellen gestrichen worden sind an den Universitäten, überproportional im Bereich der Kulturwissenschaften, und das für mein Fach, die Erziehungswissenschaften, 35 Prozent der Stellen gestrichen worden sind trotz Ansteigen der Studentenzahlen. Das ist mit Qualitätsanforderungen und Reformvorstellungen der Lehrerbildung nicht vereinbar."
Für Kinderstätten und Jugendarbeit braucht man die Pädagogiklehrstühle zwar nicht unmittelbar, Erzieher erlernen ihren Beruf an Fachschulen, aber für die Ausbildung der Lehrer und für die Forschung sind die Erziehungswissenschaftler unverzichtbar. Das zeigt ein Modellversuch zur Ganztagsschule in Sachsen, den der Sozialpädagoge Andreas Wiere wissenschaftlich begleitet und auf dem Kongress in einer der Posterpräsentationen vorstellt: Dabei geht es auch um das brisante Thema Hausaufgaben.
In manchen Schulen beschränkt sich die angebotene Hausaufgabenbetreuung darauf, dass eine Lehrperson oder ein älterer Schüler im Raum für Ruhe und Disziplin sorgt. Aufwendiger und personalintensiver wird es schon, wenn man den Schülern konkrete Hilfestellung anbietet. Radikaler ist das Konzept der Modellganztagsschule Beirode, einem kleinen sächsischen Ort in der Nähe von Torgau. Dort wurden die Hausaufgaben vollständig abgeschafft und durch Trainingsstunden in der Schule ersetzt.
Andreas Wiere:
"Die sagen, wenn wir Hausaufgaben mitgeben, dann werden wir auch der Erwartung nicht gerecht, dass Ganztagsschulen zur Chancengleichheit beitragen können. Dann können wir nicht gewährleisten, dass es in allen Elternhäusern eine Unterstützung gibt, die dafür Sorge trägt, dass sie den schulischen Anforderungen auch gerecht werden. Daher sagen sie: Wenn wir schon eine Ganztagsschule sind, dann nehmen wir diese soziapolitische Erwartung ernst und machen so genannte Schulaufgaben und dieses Beispiel der Trainingsstunden hatte ich genannt, wo aufgrund einer Leistungsdiagnostik kleine Lerngruppen organisiert werden, die jetzt da anknüpfen, wo der Schüler im jeweiligen Fach leistungsmäßig steht."
Eine andere Mittelschule, die in Sachsen der Haupt- und Realschule verbindet und ebenfalls an dem Modellversuch teilnimmt, vermeldet Erfolge, die geradezu euphorisch stimmen:
"Es gibt zum Beispiel eine Aussage einer Lehrerin an einer Schule, die sehr stark im Bereich der Hausaufgaben individuelle Förderung der Schüler machen, und die Lehrerin sagt, an ihrer Schule sei es der Fall, dass ihr die Hauptschüler ausgehen, weil die so gut gefördert sind, dass sie auf ein Realschulniveau anwachsen und es in dieser Schule quasi keine Hauptschüler mehr gibt. Das bedeutet, dass es einen unglaublichen Leistungszuwachs gegeben hat, wenn es eine wirklich individuelle Förderung im Bereich der Hausaufgaben gibt. Und es ist natürlich ein Unterschied, ob ich 5 oder 6 Schüler in einem Raum habe, mit denen ich arbeite oder ob ich 23, 24 oder noch mehr Schüler in einem Raum habe, mit denen ich arbeite."
Zur Situation an den Schulen serviert der Kongress den Teilnehmern einen brandaktuellen Report. Wolfgang Melzer, der mit der Dresdner Forschungsgruppe beteiligt war, präsentiert die Ergebnisse einer WHO-Studie, in der weltweit 200.000 Schüler im Alter von 11 bis 17 Jahren befragt wurden.
"Gegenstand der Befragung ist der Gesundheitsstatus im weitesten Sinne, also die physische und die psychische Gesundheit, aber auch das Ernährungsverhalten, das Bewegungsverhalten, das Risikoverhalten von Kindern und Jugendlichen, man kann sagen, im Sinne der WHO die soziale, die psychische und die physische Gesundheit insgesamt, - vor dem Hintergrund des Aufwachsens in der Familie, in der Schule, in den Peers und so weiter."
Pisa und IGLU - die Internationale Grundschul-Leseuntersuchung - beziehen sich allein auf kognitive Fähigkeiten, auf Leistungsmessung, während die WHO-Studie die Gesamtverfassung der Schüler, auch ihr Sozialverhalten betrachtet.
"Und als Schulpädagogen haben wir uns natürlich auf die Frage konzentriert, welchen Beitrag leistet Schule zum Gesundsein und Kranksein der Schüler und auf der anderen Seite, welchen Beitrag könnte Schule leisten für die Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention? Und da ist das Ergebnis, dass die Schule eine enorme Bedeutung hat, es wird häufig der Familie eine wichtige Rolle zugesprochen oder auch dem Medienverhalten, dem Freizeitverhalten. Und wir haben festgestellt, dass eine dem Schüler zugewandte Pädagogik, eine Lehrprofessionalität, eine gute Unterrichtsqualität, eine Schülerautonomie dazu beitragen, dass Kinder gesünder sind. In den Schulen, in denen eine Schulkultur positiv entwickelt ist in diesem Sinne, haben wir weniger kranke Schüler, haben wir nebenbei auch weniger Aggression und Gewalt."
Schule ist schon lange kein sozialer Schonraum mehr: Die Berichte über Gewaltvorfälle auf dem Schulweg oder in der Schule selber häufen sich, und das nicht nur an der Hauptschule im sozialen Brennpunkt. Bei Befragungen von Schülern hat immerhin jeder zweite erklärt, dass er schon Gewalt erlebt hat, das reicht von der physischen Gewalt, der klassischen Rauferei, über psychische Gewalt, Einschüchterungen, Beleidigungen und Mobbing bis hin zur Schutzgelderpressung.
"Wir haben Probleme mit Aggression, Gewalt, Mobbing in Schulen, in allen sozialen Schichten, ich spreche auch zugespitzt davon: Neben einer Unterschichtdeprivation haben wir auch so etwas wie eine Wohlstandsverwahrlosung in mittleren und gehobenen Schichten. Und interessant ist, dass bei den alltäglichen Gewaltformen in der Schule, die ja die drängendsten sind - also nicht die Ein-Promille-Straftaten draußen, sondern das alltägliche Miteinander, die Aggressivität, die Ausgrenzung, das Mobbing, dass nach unseren aktuellen Zahlen der WHO-Studie die Migrantenkinder eher Opfer sind als Täter."
Anscheinend gehören die beiden drängenden Aufgaben - Gewaltprävention und gelungene Integration der Migranten - zusammen und bilden eine einzige große Herausforderung - für Schüler, Lehrer, Schulleitung und auch für die Eltern.
Marianne Krüger-Potratz, die an der Universität Münster interkulturelle Pädagogik lehrt, nennt es schlicht Schulkultur.
"Das ist ein Punkt von Schulkultur, das heißt, wo es klar ist, dass der andere zu achten ist, seine Individualität zu achten ist, dass es einer Schulleitung gelingt, so ein Klima zu erzeugen, wo - auf der einen Seite klar ist, der Unterricht findet in Deutsch statt, aber die Sprachen der Schüler werden nicht diskriminiert, nach dem Motto, die sind illegitim, die dürft ihr nicht benutzen, - sondern die werden in dem Sinne auch respektiert, dass man guckt, ob man eventuell an dieser Mehrsprachigkeit positiv anknüpfen kann, auch für das Erlernen von Deutsch als Fremdsprache gibt es eine ganze Reihe guter Beispiele. Ich denke, wenn eine solche Schulkultur vorherrscht, dann hat man auch eine Chance zumindest, dass diese Phänomene wie Gewalt, Mobbing und dergleichen nicht auftauchen."
Was Marianne Krüger-Potratz schlicht Schulkultur nennt, ist aber in Teilen eine andere als bisher. Denn die deutsche Schule war im 20. Jahrhundert eine Bildungseinrichtung, die zur nationalen Identität erzog, so wie sie Geschichte, Religion und Sprache vermittelte. Heute muss sie sich öffnen - Spiegel einer modernen Gesellschaft sein, in der das gelebte Demokratieverständnis wichtiger ist als der Nationalstolz. Es gilt, den Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund wirkliche Chancen in unserem Bildungssystem einzuräumen, das ist eine vitale Frage, auch für die Mehrheitsgesellschaft.
Marianne Krüger-Potratz wirbt für interkulturelle Bildung an der Schule:
"Ich denke, interkulturelle Bildung ist kein neues Fach, ist eine Querschnittsdimension, es geht auch nicht darum die jetzigen Inhalte zu ergänzen, also plötzlich türkische Geschichte zu machen oder so, aber eine starke Reflexivität auf die Inhalte einzuführen und einen Perspektivwechsel mit den Schülern einzuüben und zu fragen, warum wird es so dargestellt und nicht anders? Was ist ausgeblendet, was müsste man ergänzen, wie kann man es auch anders interpretieren? Also Schüler mehr anzuleiten, zu fragen zu reflektieren, in Frage zu stellen, andere Antworten zu suchen, und das in Bezug auf das normale Curriculum, ich denke, das man da gar nicht so viel ändern muss - außer was man immer ändern muss: modernisieren und Ähnliches."
Über die Schule hinaus ertönt heute wieder der Ruf nach Erziehung. Sicherlich sind die Zeiten lange vorbei, in der die 68er gegen die Regeln als solche rebellierten, ohne noch zu fragen, welche Regel gut und welche schlecht ist. Regeln und Werte sind unverzichtbar.
Aber ist es so einfach, sich nur auf die sogenannten alten Werte zu beziehen, um die "neue Unübersichtlichkeit" des modernen Lebens erfolgreich zu meistern.
Werner Thole erteilt dieser Art Ruf nach Erziehung eine Abfuhr:
"Wenn wir im Mittelalter erlebten eine Freisetzung von den Wertvorstellungen des Christentums in Bezug auf Naturwissenschaft, Physik, Chemie und Technik - nicht mehr daran zu glauben, dass die Erde eine Scheibe ist, sondern zu erkennen, dass diese Scheibe, auf der wir uns erleben eine Kugel ist, so erleben wir heute eine kulturelle Freisetzung: Das ehemals dogmatisch Vorgegebene ist nicht mehr vorgegeben, und wir müssen uns dieses in der Diskussion mit Kindern, mit Jugendlichen, aber auch unter uns Erwachsenen gemeinsam wieder erarbeiten.
Und da nun herzukommen und zu sagen: Ordnung, Disziplin, Achtung - das sind die zentralen Werte und andere wie meinetwegen Selbstbestimmung, Autonomie, dialogisches Aushandeln auch von den Rahmungen, mit denen Kinder und Jugendliche umgehen, seien sekundär - das ist schwierig. Und ich glaube, es trägt nicht dazu bei, dass wir heute einen gelungenen Erziehungsalltag gestalten zu können, weder in der Schule noch im familiären Umfeld."
Erziehung ist kein Korsett an Regeln und Werten, das ein für allemal sitzt, und Bildung geht nicht auf in einem festgeschriebenen Kanon von literarischen Werken, mathematischen Formeln und geographischen Kenntnissen die für die Ewigkeit abgespeichert sind. Im humanistischen Sinne meint Bildung weit mehr, nämlich die Entfaltung einer freien und autonomen Persönlichkeit, wozu freilich auch der Respekt vor den Rechten der Anderen gehört.
Bildung in diesem umfassenden Sinne ist notwendig, denn sie hilft in einer sich immer schneller verwandelnden Welt das eigene Leben zu verstehen, mit sich selbst und den anderen einen Weg in die Zukunft zu finden.
Rudolf Tippelt: "Das ist für Erwachsene in besonderer Weise bedeutsam, wir sprechen in der Bildungsforschung von der individuellen Regulationsfähigkeit jedes Einzelnen, das heißt er muss in der Lage sein anzuschließen an seine Biografie, über seine Biografie nachzudenken."
Denn hier - so erklärt Rudolf Tippelt, der an der Universität München in der Erwachsenenbildung forscht, - schließt sich der Kreis.
"Speziell für die Erwachsenen ist bedeutsam, dass alle Bildungserfahrungen, die wir früh in der Familie machen, dann in den öffentlichen Einrichtungen, im Kindergarten, dann vor allem in der Schule, eine große Wirkung entfalten in der beruflichen Bildung und dann auch bei über 45-Jährigen und sogar bei den über 65-Jährigen. Wir wissen, dass diejenigen, die sehr positive Erfahrungen gemacht haben im Bildungssystem sehr viel bereiter sind, sich auch in der Erwachsenbildung aktiv zu betätigen, sie sind häufiger ehrenamtlich tätig und sie sind es auch in informellen Bereich - das Gespräch mit anderen, das Hören von Medien und das Darüber-Reden, der Besuch von Theatern und Museen und darüber reden - das ist der informelle Bereich, und dieser Bereich ist abhängig von der Erfahrung früher Bildungs- und Erziehungserlebnisse."
Aber Hildegard hat Fantasie, Intelligenz und den unbändigen Willen, sich aus der bedrückenden Enge von Elternhaus und Dorf zu befreien. Das Mädchen trotzt den cholerischen Ausbrüchen des Vaters ebenso wie der Frömmelei der Großmutter, von der es als Teufelsbraten beschimpft wird. Hildegard schafft es auf die höhere Schule zu kommen.
Denn Schule, Hochdeutsch, Bücher - mit einem Wort: Bildung - verheißen nicht allein sozialen Aufstieg, sie sind das Tor zu einem freieren Leben.
Ulla Hahns Bildungsroman spielt in der Nachkriegszeit. Heute sind wir 50 Jahre weiter. Wie steht es nun um Bildung und soziale Chancengleichheit? Heutzutage heißen die Hürden nicht mehr Provinz und Dialekt, aber die Probleme sind keineswegs geringer: Etwa 20 Prozent der Bevölkerung in Deutschland haben einen sogenannten Migrationshintergrund:
"Wir haben inzwischen um die 100 Sprachen in den Schulen. Von den 100 Sprachen sind 20 Sprachen durch größere Gruppen vertreten, und müssten schulrelevant sein, das ist zumindest unsere Auffassung. Dann verteilt es sich regional sehr unterschiedlich, die neuen Bundesländer sind viel weniger sprachlich heterogen als die alten. Von daher man muss sehr genau gucken, es ist von Stadtbezirk zu Stadtbezirk sehr unterschiedlich und in den ländlichen Bereichen wieder anders als in den Städten, solche Pressemeldungen, die dann durch die Blätter geistern, schreckliche Verhältnisse, wo die Lehrer nicht wissen, wie sie Deutsch mit den Schülern sprechen sollen - das Berliner Beispiel ist ein Beispiel aus einem Bezirk, in einem kleinen Teil des Bezirks, dann gibt es andere Schulen, wo man zeigen kann, dass es sehr gut funktioniert."
Marianne Krüger-Potratz, Professorin für interkulturelle Pädagogik an der Universität Münster, tritt Dramatisierungen entgegen, widerspricht der Rede von den babylonischen Verhältnissen an unseren Schulen. Sie plädiert für eine differenzierte Sicht der Situation. Kulturelle Vielfalt jedenfalls, man mag es als Multikulti bejubeln oder bejammern, ist im Deutschland des 21. Jahrhunderts unübersehbar. Die Erziehungswissenschaftler haben dies nun gewissermaßen offiziell anerkannt, indem sie Kultur in den Plural stellen. "Kulturen der Bildung" lauten Titel und These ihres aktuellen Kongresses.
"Wir gehen davon aus, dass unsere Gesellschaft sehr sozial heterogen ist, das sie kulturell sehr divers ist. Wir haben unterschiedliche Schichten, unterschiedliche soziale Milieus, unterschiedliche Generationen, unterschiedliche Altersgruppen, Migranten, auch sie bilden keine einheitliche Gruppe, sondern bringen unterschiedlichen kulturelle Hintergründe mit - und wichtig ist es in einer Gesellschaft, dass diese unterschiedlichen Gruppen miteinander kooperieren und sich aufeinander beziehen können - das wissenschaftlich auszuleuchten für die verschiedenen Bereiche des Bildungssystems, also die frühkindliche Bildung, die Schule, die berufliche Bildung, die Erwachsenenbildung, - Weiterbildung auch die Hochschule - das ist eine Aufgabe des Kongresses."
Rudolf Tippelt, der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, umreißt die thematische Bandbreite des Kongresses, die das gesamte Bildungssystem abdeckt. Schauen wir zunächst auf die erste Stufe: die frühkindliche Erziehung:
Schon länger wird in Öffentlichkeit und Politik über die institutionelle Betreuung und Förderung von Kleinkindern diskutiert, zum einen, weil auf diese Weise Mütter besser berufstätig sein könnten, zum anderen, weil man so der sozialen Ungleichheit entgegenwirken könnte, zumal bei den unter Zehnjährigen fast 30 Prozent einen Migrationshintergrund aufweisen. Wie die Förderung aussehen könnte, beschäftigt Werner Thole, Professor für Sozialpädagogik an der Universität Kassel, ein Spezialist für Fragen der frühkindlichen Bildung.
"Inhaltlich ist damit gemeint eine stärkere Fokussierung auf sprachliche mathematische, kulturelle und sportliche und soziale Förderung von Fähigkeiten von Kindern in den Altersphasen drei bis sechs und möglicherweise in einer anderen Form, eben auch in der Altersgruppe eins bis zwei. Das wurde in der Mehrheit der Kindertageseinrichtungen bisher auch gemacht, das waren keine großen Spielhöllen, wo sonst nichts passierte, sondern im Spielerischen, im Animativen wurde bisher hier auch schon angeregt, sich zu bilden. Die Erkenntnisse, die wir gegenwärtig haben, zeigen, dass diese Form von Bildung, ohne gleichzeitig schulische Programme initiieren zu wollen, stärker in den Mittelpunkt gestellt werden soll."
Die gesetzlichen Rahmenbedingungen für ein verbessertes Angebot an Betreuungsplätzen für Unter-Dreijährige sind zwar geschaffen. Und die jetzige Bundesregierung hat ein enormes Ausbauprogramm vorgelegt, allein: An der Umsetzung muss man wohl zweifeln:
"Um die Dimensionen zu verdeutlichen: Wenn bis 2013 der Plan realisiert werden soll, dass 35 Prozent der Kinder zwischen dem ersten und dem dritten Lebensjahr, der sogenannte U3- Bereich, die Chance haben, auch eine institutionelle Förderung und Bildung in Anspruch nehmen zu können, ist es notwendig bis 2013 circa 450.000 neue Plätze zu finanzieren. Wenn Sie sich darüber hinaus noch ansehen, welcher Personalbedarf notwendig ist, so können wir - ohne miteinzurechnen, dass auch die ausscheidenden Kollegen, Erzieher, Sozialpädagogen ersetzt werden - davon ausgehen, dass bei einer Gruppengröße 1 bis 5 wir ungefähr 50.000 Pädagogen benötigen, um diesen Ausbauplan umsetzen zu können. Die finanziellen Ressourcen dafür sind natürlich gewaltig."
Die Pläne zum Ausbau von Erziehungseinrichtungen sind vorgelegt, der Bedarf an wissenschaftlichen Expertisen ist gewachsen. Gleichzeitig geht es aber dem Fach Erziehungswissenschaft selbst an den Kragen, sprich: Es büßt Lehrstühle ein zugunsten von Naturwissenschaften und Technik. Wolfgang Melzer, Professor für Pädagogik an der TU Dresden und Organisator des Kongresses, schlägt Alarm:
"Ich hatte im Zusammenhang der Vorbereitung des Kongresses auch einige Statistiken studiert, und es verhält sich so, dass im Zeitraum von 1995 bis 2005 ungefähr 1500 Professorenstellen gestrichen worden sind an den Universitäten, überproportional im Bereich der Kulturwissenschaften, und das für mein Fach, die Erziehungswissenschaften, 35 Prozent der Stellen gestrichen worden sind trotz Ansteigen der Studentenzahlen. Das ist mit Qualitätsanforderungen und Reformvorstellungen der Lehrerbildung nicht vereinbar."
Für Kinderstätten und Jugendarbeit braucht man die Pädagogiklehrstühle zwar nicht unmittelbar, Erzieher erlernen ihren Beruf an Fachschulen, aber für die Ausbildung der Lehrer und für die Forschung sind die Erziehungswissenschaftler unverzichtbar. Das zeigt ein Modellversuch zur Ganztagsschule in Sachsen, den der Sozialpädagoge Andreas Wiere wissenschaftlich begleitet und auf dem Kongress in einer der Posterpräsentationen vorstellt: Dabei geht es auch um das brisante Thema Hausaufgaben.
In manchen Schulen beschränkt sich die angebotene Hausaufgabenbetreuung darauf, dass eine Lehrperson oder ein älterer Schüler im Raum für Ruhe und Disziplin sorgt. Aufwendiger und personalintensiver wird es schon, wenn man den Schülern konkrete Hilfestellung anbietet. Radikaler ist das Konzept der Modellganztagsschule Beirode, einem kleinen sächsischen Ort in der Nähe von Torgau. Dort wurden die Hausaufgaben vollständig abgeschafft und durch Trainingsstunden in der Schule ersetzt.
Andreas Wiere:
"Die sagen, wenn wir Hausaufgaben mitgeben, dann werden wir auch der Erwartung nicht gerecht, dass Ganztagsschulen zur Chancengleichheit beitragen können. Dann können wir nicht gewährleisten, dass es in allen Elternhäusern eine Unterstützung gibt, die dafür Sorge trägt, dass sie den schulischen Anforderungen auch gerecht werden. Daher sagen sie: Wenn wir schon eine Ganztagsschule sind, dann nehmen wir diese soziapolitische Erwartung ernst und machen so genannte Schulaufgaben und dieses Beispiel der Trainingsstunden hatte ich genannt, wo aufgrund einer Leistungsdiagnostik kleine Lerngruppen organisiert werden, die jetzt da anknüpfen, wo der Schüler im jeweiligen Fach leistungsmäßig steht."
Eine andere Mittelschule, die in Sachsen der Haupt- und Realschule verbindet und ebenfalls an dem Modellversuch teilnimmt, vermeldet Erfolge, die geradezu euphorisch stimmen:
"Es gibt zum Beispiel eine Aussage einer Lehrerin an einer Schule, die sehr stark im Bereich der Hausaufgaben individuelle Förderung der Schüler machen, und die Lehrerin sagt, an ihrer Schule sei es der Fall, dass ihr die Hauptschüler ausgehen, weil die so gut gefördert sind, dass sie auf ein Realschulniveau anwachsen und es in dieser Schule quasi keine Hauptschüler mehr gibt. Das bedeutet, dass es einen unglaublichen Leistungszuwachs gegeben hat, wenn es eine wirklich individuelle Förderung im Bereich der Hausaufgaben gibt. Und es ist natürlich ein Unterschied, ob ich 5 oder 6 Schüler in einem Raum habe, mit denen ich arbeite oder ob ich 23, 24 oder noch mehr Schüler in einem Raum habe, mit denen ich arbeite."
Zur Situation an den Schulen serviert der Kongress den Teilnehmern einen brandaktuellen Report. Wolfgang Melzer, der mit der Dresdner Forschungsgruppe beteiligt war, präsentiert die Ergebnisse einer WHO-Studie, in der weltweit 200.000 Schüler im Alter von 11 bis 17 Jahren befragt wurden.
"Gegenstand der Befragung ist der Gesundheitsstatus im weitesten Sinne, also die physische und die psychische Gesundheit, aber auch das Ernährungsverhalten, das Bewegungsverhalten, das Risikoverhalten von Kindern und Jugendlichen, man kann sagen, im Sinne der WHO die soziale, die psychische und die physische Gesundheit insgesamt, - vor dem Hintergrund des Aufwachsens in der Familie, in der Schule, in den Peers und so weiter."
Pisa und IGLU - die Internationale Grundschul-Leseuntersuchung - beziehen sich allein auf kognitive Fähigkeiten, auf Leistungsmessung, während die WHO-Studie die Gesamtverfassung der Schüler, auch ihr Sozialverhalten betrachtet.
"Und als Schulpädagogen haben wir uns natürlich auf die Frage konzentriert, welchen Beitrag leistet Schule zum Gesundsein und Kranksein der Schüler und auf der anderen Seite, welchen Beitrag könnte Schule leisten für die Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention? Und da ist das Ergebnis, dass die Schule eine enorme Bedeutung hat, es wird häufig der Familie eine wichtige Rolle zugesprochen oder auch dem Medienverhalten, dem Freizeitverhalten. Und wir haben festgestellt, dass eine dem Schüler zugewandte Pädagogik, eine Lehrprofessionalität, eine gute Unterrichtsqualität, eine Schülerautonomie dazu beitragen, dass Kinder gesünder sind. In den Schulen, in denen eine Schulkultur positiv entwickelt ist in diesem Sinne, haben wir weniger kranke Schüler, haben wir nebenbei auch weniger Aggression und Gewalt."
Schule ist schon lange kein sozialer Schonraum mehr: Die Berichte über Gewaltvorfälle auf dem Schulweg oder in der Schule selber häufen sich, und das nicht nur an der Hauptschule im sozialen Brennpunkt. Bei Befragungen von Schülern hat immerhin jeder zweite erklärt, dass er schon Gewalt erlebt hat, das reicht von der physischen Gewalt, der klassischen Rauferei, über psychische Gewalt, Einschüchterungen, Beleidigungen und Mobbing bis hin zur Schutzgelderpressung.
"Wir haben Probleme mit Aggression, Gewalt, Mobbing in Schulen, in allen sozialen Schichten, ich spreche auch zugespitzt davon: Neben einer Unterschichtdeprivation haben wir auch so etwas wie eine Wohlstandsverwahrlosung in mittleren und gehobenen Schichten. Und interessant ist, dass bei den alltäglichen Gewaltformen in der Schule, die ja die drängendsten sind - also nicht die Ein-Promille-Straftaten draußen, sondern das alltägliche Miteinander, die Aggressivität, die Ausgrenzung, das Mobbing, dass nach unseren aktuellen Zahlen der WHO-Studie die Migrantenkinder eher Opfer sind als Täter."
Anscheinend gehören die beiden drängenden Aufgaben - Gewaltprävention und gelungene Integration der Migranten - zusammen und bilden eine einzige große Herausforderung - für Schüler, Lehrer, Schulleitung und auch für die Eltern.
Marianne Krüger-Potratz, die an der Universität Münster interkulturelle Pädagogik lehrt, nennt es schlicht Schulkultur.
"Das ist ein Punkt von Schulkultur, das heißt, wo es klar ist, dass der andere zu achten ist, seine Individualität zu achten ist, dass es einer Schulleitung gelingt, so ein Klima zu erzeugen, wo - auf der einen Seite klar ist, der Unterricht findet in Deutsch statt, aber die Sprachen der Schüler werden nicht diskriminiert, nach dem Motto, die sind illegitim, die dürft ihr nicht benutzen, - sondern die werden in dem Sinne auch respektiert, dass man guckt, ob man eventuell an dieser Mehrsprachigkeit positiv anknüpfen kann, auch für das Erlernen von Deutsch als Fremdsprache gibt es eine ganze Reihe guter Beispiele. Ich denke, wenn eine solche Schulkultur vorherrscht, dann hat man auch eine Chance zumindest, dass diese Phänomene wie Gewalt, Mobbing und dergleichen nicht auftauchen."
Was Marianne Krüger-Potratz schlicht Schulkultur nennt, ist aber in Teilen eine andere als bisher. Denn die deutsche Schule war im 20. Jahrhundert eine Bildungseinrichtung, die zur nationalen Identität erzog, so wie sie Geschichte, Religion und Sprache vermittelte. Heute muss sie sich öffnen - Spiegel einer modernen Gesellschaft sein, in der das gelebte Demokratieverständnis wichtiger ist als der Nationalstolz. Es gilt, den Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund wirkliche Chancen in unserem Bildungssystem einzuräumen, das ist eine vitale Frage, auch für die Mehrheitsgesellschaft.
Marianne Krüger-Potratz wirbt für interkulturelle Bildung an der Schule:
"Ich denke, interkulturelle Bildung ist kein neues Fach, ist eine Querschnittsdimension, es geht auch nicht darum die jetzigen Inhalte zu ergänzen, also plötzlich türkische Geschichte zu machen oder so, aber eine starke Reflexivität auf die Inhalte einzuführen und einen Perspektivwechsel mit den Schülern einzuüben und zu fragen, warum wird es so dargestellt und nicht anders? Was ist ausgeblendet, was müsste man ergänzen, wie kann man es auch anders interpretieren? Also Schüler mehr anzuleiten, zu fragen zu reflektieren, in Frage zu stellen, andere Antworten zu suchen, und das in Bezug auf das normale Curriculum, ich denke, das man da gar nicht so viel ändern muss - außer was man immer ändern muss: modernisieren und Ähnliches."
Über die Schule hinaus ertönt heute wieder der Ruf nach Erziehung. Sicherlich sind die Zeiten lange vorbei, in der die 68er gegen die Regeln als solche rebellierten, ohne noch zu fragen, welche Regel gut und welche schlecht ist. Regeln und Werte sind unverzichtbar.
Aber ist es so einfach, sich nur auf die sogenannten alten Werte zu beziehen, um die "neue Unübersichtlichkeit" des modernen Lebens erfolgreich zu meistern.
Werner Thole erteilt dieser Art Ruf nach Erziehung eine Abfuhr:
"Wenn wir im Mittelalter erlebten eine Freisetzung von den Wertvorstellungen des Christentums in Bezug auf Naturwissenschaft, Physik, Chemie und Technik - nicht mehr daran zu glauben, dass die Erde eine Scheibe ist, sondern zu erkennen, dass diese Scheibe, auf der wir uns erleben eine Kugel ist, so erleben wir heute eine kulturelle Freisetzung: Das ehemals dogmatisch Vorgegebene ist nicht mehr vorgegeben, und wir müssen uns dieses in der Diskussion mit Kindern, mit Jugendlichen, aber auch unter uns Erwachsenen gemeinsam wieder erarbeiten.
Und da nun herzukommen und zu sagen: Ordnung, Disziplin, Achtung - das sind die zentralen Werte und andere wie meinetwegen Selbstbestimmung, Autonomie, dialogisches Aushandeln auch von den Rahmungen, mit denen Kinder und Jugendliche umgehen, seien sekundär - das ist schwierig. Und ich glaube, es trägt nicht dazu bei, dass wir heute einen gelungenen Erziehungsalltag gestalten zu können, weder in der Schule noch im familiären Umfeld."
Erziehung ist kein Korsett an Regeln und Werten, das ein für allemal sitzt, und Bildung geht nicht auf in einem festgeschriebenen Kanon von literarischen Werken, mathematischen Formeln und geographischen Kenntnissen die für die Ewigkeit abgespeichert sind. Im humanistischen Sinne meint Bildung weit mehr, nämlich die Entfaltung einer freien und autonomen Persönlichkeit, wozu freilich auch der Respekt vor den Rechten der Anderen gehört.
Bildung in diesem umfassenden Sinne ist notwendig, denn sie hilft in einer sich immer schneller verwandelnden Welt das eigene Leben zu verstehen, mit sich selbst und den anderen einen Weg in die Zukunft zu finden.
Rudolf Tippelt: "Das ist für Erwachsene in besonderer Weise bedeutsam, wir sprechen in der Bildungsforschung von der individuellen Regulationsfähigkeit jedes Einzelnen, das heißt er muss in der Lage sein anzuschließen an seine Biografie, über seine Biografie nachzudenken."
Denn hier - so erklärt Rudolf Tippelt, der an der Universität München in der Erwachsenenbildung forscht, - schließt sich der Kreis.
"Speziell für die Erwachsenen ist bedeutsam, dass alle Bildungserfahrungen, die wir früh in der Familie machen, dann in den öffentlichen Einrichtungen, im Kindergarten, dann vor allem in der Schule, eine große Wirkung entfalten in der beruflichen Bildung und dann auch bei über 45-Jährigen und sogar bei den über 65-Jährigen. Wir wissen, dass diejenigen, die sehr positive Erfahrungen gemacht haben im Bildungssystem sehr viel bereiter sind, sich auch in der Erwachsenbildung aktiv zu betätigen, sie sind häufiger ehrenamtlich tätig und sie sind es auch in informellen Bereich - das Gespräch mit anderen, das Hören von Medien und das Darüber-Reden, der Besuch von Theatern und Museen und darüber reden - das ist der informelle Bereich, und dieser Bereich ist abhängig von der Erfahrung früher Bildungs- und Erziehungserlebnisse."