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Soziale Folgen des Wirtschaftsbooms: China und seine Armee von Rentnern

China boomt. Seit dem Wirtschaftsaufschwung prägen vor allem junge Menschen das Bild in den chinesischen Städten. Doch der Schein eines "jungen China” trügt. Vor 5 Jahren hat China die Schwelle überschritten, bei der Bevölkerungsexperten von einer alternden Gesellschaft sprechen. Auf die Armee der Rentner ist China jedoch nicht vorbereitet.

    Jeden Morgen um Punkt acht geht Herr Huang zu seinem Lieblingsort – einem kleinen Park mitten an der belebten Gong Ti Bei Lu in Peking. Dass nur 5 Meter von ihm entfernt Busse und Autos hupen, stört ihn nicht. In aller Ruhe nimmt Herr Huang seinen hölzernen Fächer und reiht sich in die Seniorengruppe ein, die sich hier täglich zum Fächertanz trifft.

    Herr Huang ist 80. Er ist durchtrainiert, trägt eine Baseballkappe mit Fußballemblem, kurze Hosen und schwarze Stoffschuhe. Seine Frau starb bereits vor 10 Jahren. Seitdem lebt Herr Huang allein. Er sei ein Eigenbötler sagt er über sich und möchte bis zu seinem Tod in den eigenen vier Wänden bleiben:

    "Alte Menschen, die sich noch bewegen und für sich selbst sorgen können wollen nicht in ein Altersheim. Ich zum Beispiel kann mich bewegen. Ich kann alleine essen und alleine trinken. Ich brauche niemanden, der auf mich aufpasst. Wenn ich in einem Altersheim wäre, wäre das eine Belastung für die Kinder."

    Herr Huang hat zwei Söhne und zwei Töchter. Einmal im Monat kommen sie ihren Vater besuchen. Während auf dem Land ältere Menschen solange sie fit sind noch immer meist im Haushalt helfen und später dann von Familienangehörigen gepflegt werden, bleiben die Alten in den Städten zunehmend allein. Immer mehr aus der jüngeren Generation wollen nicht mehr mit ihren Eltern eine Wohung teilen oder sie pflegen bis in den Tod. So auch Liu Mang. Er ist 25 und stammt aus der Hafenstadt Tianjin. Nach der Schule machte er sich auf den Weg nach Peking und wurde Computerspezialist.

    "Ich habe lange mit meinen Eltern zusammengewohnt, deshalb wollte ich mal ein anderes Leben ausprobieren. Ich glaube, deshalb ziehen die meisten von zuhause aus. Ich persönlich glaube, dass wir – meine Eltern und ich – wenig gemeinsame Themen haben, über die wir uns unterhalten. Also lebe ich allein. Ich fühle mich freier. Zum Beispiel: wenn ich bei meinen Eltern bin, dann erlauben sie mir nicht zu frühstücken bevor ich mein Gesicht gewaschen habe oder meine Zähne geputzt habe."

    Respekt vor dem Alter und die Pflicht der älteren Generation zu gehorchen und sich später um sie zu kümmern, waren über Jahrhunderte Grundpfeiler des chinesisch-konfuzianischen Wertesystem. Doch so wie von Liu Mang wird dieses System nun mehr und mehr in Frage gestellt. Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung will die Jugend nun auch die Vorzüge davon genießen. Feiheit ist Liu Mangs Zauberwort.

    Nach der Arbeit geht er am liebsten in eine Kneipe. Am Wochenende bleibt er gerne im Bett oder geht mit seiner Freundin shoppen. China boomt und hat nach außen ein junges Gesicht: Überall entstehen hochmoderne Shoppingmalls und Wolkenkratzer; es gibt Discos und Kneipen: Junge dynamische Menschen bestimmen den wirtschaftlichen Aufschwung. Doch das Bild trügt. Im letzten Jahr lebten laut Statistik 134 Millionen Menschen, die über 60 Jahre alt sind, in China. Laut Schätzungen soll sich diese Zahl in nur 20 Jahren verdoppeln. Doch auf diese Überalterung ist China nicht vorbereitet. Im alten sozialistischen System wurde die Altersversorgung und auch die Krankenversicherung von den Betrieben übernommen. Doch die Staatsbetriebe gehen nach und nach bankrott und können keinerlei Rentensicherheit mehr geben. Vor kurzem gegründete private Betriebe dagegen haben noch zuwenig Rücklagen, um Renten zu zahlen, so Tang Can, Expertin am Bevölkerungsforschungszentrum in Peking:

    "Das ist ein bekanntes Problem in China – das Problem der Sozialfürsorge und überhaupt das Problem, der Altersfürsorge. Ich kann nicht sagen, dass die Bürger hier kein Bewusstsein dafür haben, es ist einfach so, dass unsere Gesellschaft dieses Bewusstsein für diese Probleme noch nicht kultiviert hat. In den 80er Jahren hat China mit der Familienplanungspolitik – der Ein-Kind-Politik - begonnen. Das Ergebnis ist, dass die jüngeren Leute weniger werden und die älteren mehr."

    Doch damit die Bevölkerungszahlen nicht wieder ansteigen, hält die chinesische Regierung auch weiter an der Ein-Kind-Politik fest. Ein neues Sozialsystem, bei dem die Arbeitgeber selber Rentenbeiträge in einen Fond einzahlen, ist in China gerade erst am Entstehen. Und auch hier sind, so Bevölkerungsforscherin Tang Can die Probleme bereits vorprogrammiert:

    "Heute zahlen viele junge Leute bereits in eine Rentenversicherung ein, aber die Konten der Versicherungsgesellschaften sind bereits überzogen. Was die jungen Leute heute zahlen wird für die Alten aufgebraucht. Also muss die nächste Generation die Fürsorge übernehmen. Das Problem ist, dass die Bevölkerungsrate abnimmt. Immer weniger Menschen zahlen in die Verischerungen ein, aber es muss für immer mehr Menschen gesorgt werden. Ich weiß, dass in China das größte Problem die Rentenversorgung auf dem Lande sein wird. China hat 800 Millionen Bauern. Die meisten nehmen noch nicht am neuen Rentensystem teil. Wer wird für sie sorgen?"

    Auf diese Frage weiß weder Frau Tang noch die Regierung bisher eine Antwort. Herr Huang, der sportliche Senior, der jeden Morgen Fächertanz übt, hat Glück. Als ehemaliger Kader bekommt er eine Rente. 2000 Yuan, umgerechnet 200 Euro. Für chinesische Verhältnisse viel Geld. Doch Herr Huang ist eher Ausnahme als Regel. Ein Viertel aller Alten besitzen, so schätzen Experten, bereits heute kaum etwas zum leben, wie die 84jährige Frau Yan.:

    "Ich habe keine Rente. Mein Mann starb und seine ehemalige Arbeitseinheit gibt mit monatlich 165 Yuan – umgerechnet an die 15 Euro. Jeden April muss ich mein Foto zu dieser Arbeitseinheit schicken, um zu beweisen, dass ich noch lebe. Erst dann bekomme ich meine Rente. Eine Krankenversicherung habe ich auch nicht."

    Frau Yan ist eine zierliche Frau. Sie ist 84, hat kurze, schlohweiße Haare und kaum Falten im Gesicht. Obwohl von den umgerechnet 15 Euro Witwenrente pro Monat nichts übrigbleiben, achtet Frau Yan auf ihr Äußeres. Ihr schlichter graublauer Leinenanzug duftet nach Waschmittel und ist faltenfrei gebügelt. Wie auch Herr Huang tanzt Frau Yan jeden Morgen im Park mit ihrem Fächer. Danach braucht sie eine Verschnaufspause und schaut dabei dem Gärtner beim Blumen wässern zu.

    "Ich bin zufrieden. Ich habe etwas zu essen, ich habe etwas zu trinken. Also brauche ich mir keine Sorgen machen oder mich grämen. Ich brauche nicht viel Geld. Eine Mahlzeit kostet nicht viel. Jeden Monat brauche ich 1-2 Kilo Reis, zweieinhalb Kilo Eier und 5 Kilo Gemüse."

    Das in der Gegend von Frau Yan Luxuskaufhäuser aufmachen und chice Restaurants und dass Besserverdienende jeden Tag hier bei einem Kaffee soviel ausgeben wie Frau Yan in einem Monat bekommt, nimmt sie nur am Rande zur Kenntnis.

    "Ich kenne mich da nicht aus, ich kann weder lesen noch schreiben. Ich weiß nur eins: Es gibt eine große Veränderung und eine schnelle, aber meine Rente wird niemand mehr verändern."

    Frau Yan hat da sicherlich recht. Die Zeit, in der es in China ein neues Sozialsystem geben wird, dass Alte und Kranke auffängt, wird sie sicher nicht mehr erleben. Frau Yan bleibt nichts anderes übrig als ihr Leben so zu akzeptieren wie es ist. Solange sie kann, wird sie - wie auch Herr Huang - jeden Morgen Frühsport machen und zum Fächertanz gehen.