Freitag, 29. März 2024

Archiv

Soziale Gerechtigkeit
"Dass es enorme Spannungen gibt, lassen wir einfach geschehen"

Diakonie-Präsident Ulrich Lilie sieht in Gerechtigkeitsproblemen eine der Ursachen für Hass. Politiker und Journalisten müssten lernen, den Überhörten zuzuhören, sagte er im Dlf. Man könne Wut nicht mit rationalen Argumenten begegnen. Lilie wünscht sich mehr emotionale Intelligenz, "ohne Rassisten damit recht zu geben."

Ulrich Lilie im Gespräch mit Christiane Florin | 17.09.2018
    Berlin: Jugendliche sitzen auf einer Mauer in der Plattenbausiedlung Hellersdorf.
    Jugendliche in Berlin-Hellersdorf. Die Menschen würden dort alleingelassen, so Ulrich Lilie. "Daraus entsteht auf einmal so etwas wie Faustrecht und auch Hass." (picture alliance / Peer Grimm)
    Christiane Florin: Die Mails und die Nachrichten in sozialen Netzwerken sind oft in Großbuchstaben geschrieben. Mit vielen Ausrufezeichen. Es sind Schreie in Schriftform. Formuliert werden darin Vorwürfe: Ihr nehmt es nicht ernst, wenn wir Angst haben über die Straße zu gehen, vorbei an jungen, arabisch aussehenden Männern. Ihr stellt uns in die rechte Ecke, Ihr lacht uns aus, wenn wir unser Land nicht wiedererkennen, ihr lebt in eurer Multi-Kulti-Bioladen-Blase. Ihr, das sind die Politiker, die Medien, einfach die da oben.
    Zu denen da oben gehört auch Ulrich Lilie, der Präsident der Diakonie. Die Diakonie ist der Wohlfahrtsverband der Evangelischen Kirche, sie betreibt unter anderem Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, Kitas. Und sie beschäftigt mehr als eine halbe Million Menschen und ist damit einer der größten Arbeitgeber in Deutschland. Ulrich Lilie hat ein Buch übers Dazugehören und übers Zuhören geschrieben. Unerhört, heißt es. Bevor er selbst zu Wort kommt, hören wir, welche Briefe ihn so erreichen.
    Sehr geehrter Herr Lilie, wir finden, dass Flüchtlinge dort bleiben sollten, wo sie herkommen. Warum wir dieser Meinung sind? Wir sind Rentner und erhalten nach 46 Jahren Arbeitszeit im Schnitt 1.250 Euro Rente. Netto. Unsere Mieten liegen aber zwischen 900 und 1.000 Euro. Deswegen müssen wir uns alle etwas dazu verdienen, sonst hätten uns unsere Vermieter längst gekündigt. Ich bin seit über einem Jahr auf der Suche nach einer Sozialwohnung. Und immer, wenn ich dachte: »Jetzt klappt es!« setzt das Wohnungsamt mir irgendwelche Flüchtlinge vor die Nase. Es ist eine Ungerechtigkeit, dass Flüchtlinge gegenüber deutschen Rentnern bevorzugt werden. Deshalb wird unser Hass auf Flüchtlinge immer größer. Und die Diakonie und andere wollen trotzdem mehr Flüchtlinge in Deutschland aufnehmen. Das geht nicht!... Rentner first!!!"
    Florin: Herr Lilie, was haben Sie auf diesen Brief geantwortet?
    Lilie: Ich habe geantwortet, dass ich die Wut dieses Menschen gut verstehen kann, der sein Leben lang gearbeitet hat und der sagt, ich finde keinen angemessenen Wohnraum für mich. Das finde ich in der Tat auch etwas, womit wir uns nicht abfinden dürfen, dass jemand, der so ein Leben lang gearbeitet hat, keinen bezahlbaren Wohnraum findet. Ich hab ihm auch geantwortet, dass ich es aber ein ganz schlechtes Spiel finde, wenn man die eine Gruppe gegen die andere ausspielt. Und zur Wahrheit gehört, dass die geflüchteten Menschen geholfen haben, dass das Thema, das wir schon lange politisch adressieren, nämlich wirklich die absolut katastrophale Situation auf dem Wohnungsmarkt, endlich auf der Agenda ist.
    Der Präsident der Diakonie Deutschland, Ulrich Lilie
    Der Präsident der Diakonie Deutschland, Ulrich Lilie (picture alliance /dpa /Arno Burgi)
    Florin: Aber Sie beschreiben einen Zustand in Ihrem Buch, in dem es keine Solidarität der Armen gibt, sondern eine Konkurrenz. In dieser Konkurrenz wird plötzlich wichtig, dass der eine armer Deutscher ist, der andere eben kein Deutscher ist. Verstehe ich Sie denn richtig: Wir sollen dem deutschen Rentner mehr zuhören als dem Flüchtling?
    "Notwendig, dass wir einander mit Respekt begegnen"
    Lilie: Nein, das sage ich genau so nicht. Ich sage, es gilt die eine Geschichte wie die andere in ihrer Berechtigung zu hören und aus beiden eine gemeinsame Erzählung zu machen.
    Florin: Und die gemeinsame Erzählung lautet wie?
    Lilie: Die gemeinsame Erzählung lautet, dass wir ein Land sind, in dem die Menschen immer vielfältiger werden, in dem die Unterschiedlichkeiten immer stärker zutage treten und es dann enorm notwendig ist, dass wir einander mit Respekt begegnen und das Anderssein des anderen zunächst einmal als Bereicherung verstehen und erstmal verstehen lernen, was das Andersartige des anderen ausmacht. Dann entsteht auch so etwas wie Wertschätzung.
    Florin: "Die Überhörten", "die Abgehängten" - Wörter dieser Art werden sehr oft benutzt, um zu erklären, warum Menschen empfänglich sind für Hassparolen. Das Wort Hass kommt in dem Brief, den wir vorhin gehört haben, auch vor. Welche Belege haben Sie eigentlich dafür, dass das wirklich so ist, dass die soziale Situation dazu führt, andere, Fremde, anders Aussehende zu hassen?
    Lilie: Das sage ich in diesem Buch ausdrücklich nicht, Frau Florin. Ich sage nicht, dass es EINE Erklärung gibt. Es gibt soziale Disparitäten und Ungleichheiten, die dazu führen, dass einige sagen, für mich findet hier gar nichts statt, warum findet das jetzt für andere statt? Aber es gibt auch ganz tief gehende kulturelle Fragen, und ich beschreibe in dem Buch Stadtteile, in denen von jetzt auf gleich, nämlich in kürzester Frist, auf einmal Menschen aus 60 Nationen aufeinanderprallen – ohne dass das je eingeübt worden ist. Die werden sich selbst überlassen, und das kann nicht funktionieren. Daraus entsteht dann auf einmal so etwas wie Faustrecht und auch Hass.
    Die "schlecht schmeckende" Suppe der AfD
    Florin: Sie nennen ein Beispiel aus Berlin-Hellersdorf. Sie sagen, dort wird nicht genug hingeschaut – auch von uns Journalisten nichtgenau hingeschaut. Stattdessen diskutieren wir, was da in der Nähe auf der Wand eines Gebäudes steht und was irgendwelchen "Gender-Leuten" nicht passt. Ist es so?
    Lilie: Das ist so, ja genau. Also diese Debatte um dieses Gedicht in der [Alice-]Salomon-Hochschule ist ja für mich so ein Beispiel dafür, dass wir wirklich Genderdebatten führen, die ihre Berechtigung haben, aber dass das die Diskussion ist, die wir sozusagen über Marzahn-Hellersdorf führen, das ist wirklich eine Karikatur. Da geht es darum, dass da wirklich enorme soziale Ungleichheiten sind, dass es da richtige Spannungen gibt, die sich in Gewalt entladen, und das lassen wir alle einfach geschehen. Das kann einfach nicht der Ernst sein.
    Florin: Wenn eine Partei versucht, soziale Gerechtigkeit zum Thema zu machen, zum Beispiel in einem Wahlkampf, dann wird das nicht unbedingt belohnt. Stattdessen wird jemand belohnt wie Herr Gauland, der sich ins ZDF setzen kann und sagen kann, "ich habe kein Konzept zum Thema Rente, ich habe kein Konzept zum Thema Wohnungsnot."
    Lilie: Selbstverständlich ist es richtig, die Fragen der sozialen Ungerechtigkeit in diesem Land zu stellen, auch der sozialen Ungleichheit. Ein Gebot unseres Grundgesetzes ist die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Ich bin viel in diesem Land unterwegs und komme aus Düsseldorf. Da ist alles umsonst und draußen, und Sie fahren 15 Kilometer nach Wuppertal oder nach Herten oder nach Dinslaken und Sie denken sich, Sie sind in einer anderen Welt. Und das ist in der Tat ein demokratiepolitischer Sprengstoff. Und daraus können dann Leute wie Herr Gauland eben sehr schnell ihre sehr schlecht schmeckende Suppe kochen.
    Florin: Worin besteht das Zuhören, das Sie fordern? Wer soll zuhören?
    Lilie: Zunächst einmal ist das, glaube ich, eine Geschichte, die sich an jeden von uns selbst wendet, und ich glaube, in dieser Gesellschaft werden im Moment sehr viele Debatten geführt, wo die Leute sozusagen nur um die Wahrheit ihrer eigenen Argumente kreisen. Demokratie lebt aber davon, sich dem anderen, dem auch nicht schmeckenden Argument auszusetzen und nachzuspüren und zu sagen, vielleicht ist das was, das meinen Standpunkt irritiert, aber dann vielleicht auch erweitert.
    Florin: Welche Debatten meinen Sie? Wenn wir einmal von dieser Aufschrift auf der Hochschulwand absehen.
    "Auch ich habe in der Diskussion um Flucht dazugelernt"
    Lilie: Also, es wird gerade über Chemnitz diskutiert, diese ganze Art und Weise, wie die Migrationsfrage wirklich hochgezogen wird als die zentralste Frage – oder womöglich als "Mutter aller Probleme" –, das ist doch wirklich eine unsägliche Debatte.
    Florin: Aber das kommt doch oft von Leuten, die von sich sagen, sie würden überhört. Also wenn ich hier mir so viele Mails anschaue, dann steht da, "Sie reden überhaupt nicht über die Flüchtlinge, Sie reden gar nicht über die Probleme, die der Islam macht", und es kommt alles in diesem Duktus daher: "Wir werden überhört."
    Lilie: Unser Gespräch gerade ist ja ein gutes Beispiel dafür, dass wir uns hoffentlich zuhören, aber uns nicht unbedingt in jedem Punkt recht geben. Wunderbar, wenn das so ist. Zuhören heißt ja nicht, dass ich den Standpunkt meines Gegenübers teile. Dem Rentner, dem ich geantwortet habe, dem stimme ich ja ausdrücklich in wesentlichen Teilen nicht zu. Und umgekehrt muss ich mir manche Dinge sagen lassen und hinhören, die meine Sichtweise auch nochmal infrage stellen.
    Florin: Haben Sie ein Beispiel für ein Gespräch, von dem Sie sagen: So, da habe ich zugehört, erst war ich anderer Ansicht, und dann habe ich meine Auffassung tatsächlich geändert?
    Lilie: Ich glaube, dass die ganze Diskussion um Flucht und Migration sicherlich so war, dass wir alle erstmal in einer großen Euphorie waren und die ein oder andere Schwierigkeit, die nicht wegzureden ist, erstmal nicht sehen wollten. Und da haben wir sicherlich dazugelernt – auch ich persönlich.
    Florin: Was jetzt konkret?
    Lilie: Dass es, zum Beispiel, wirklich eben auch ein Problem gibt mit Menschen, die desintegriert sind, die kriminell werden, die dann auch wirklich ein Sicherheitsproblem sind. Darüber zu reden und das auch ernst zu nehmen, ist sicherlich etwas, was wir auch gelernt haben oder wo wir dazugelernt haben.
    "Es ist brandgefährlich, populistischen Argumenten hinterherzulaufen"
    Florin: Wenn Sie vom Zorn auf "die da oben" hören, auf die Eliten: Fühlen Sie sich selber zu dieser Elite zugehörig?
    Lilie: Selbstverständlich gehöre ich zu den Leuten, die erstmal schon von dem, wie sie leben können, enorme Privilegien haben. Ich kann viel in diesem Land unterwegs sein, ich habe viele Gesprächspartner, die andere nicht haben. Also, das alles sind natürlich Privilegien.
    Florin: Sie schreiben, Sie fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln, obwohl Sie einen Anspruch hätten auf ein Auto mit Chauffeur. Sie fahren mit öffentlichen Verkehrsmitteln, um Kontakt zu normalen Menschen zu haben. Ist es wirklich so schlimm als Diakoniepräsident?
    Lilie: Es ist eben so, dass wir alle in der Gefahr sind, uns in unseren eigenen Blasen zu verlaufen.
    Florin: Ist es nicht so, dass dadurch, dass es zum Beispiel die sozialen Netzwerke gibt, wir einerseits zwar in Blasen leben, aber andererseits doch viel mehr als früher wahrnehmen, was andere Menschen denken, schlicht, weil vieles, was früher im privaten Kreis blieb, jetzt öffentlich wird?
    Lilie: Ich glaube, dass bestimmte Menschen das Privileg haben, sozusagen aus einer Perspektive der Draufsicht das zu tun, aber es gibt eben auch sehr viele, die in diesem Modus der Selbstbestätigung hängen bleiben. Die wollen gar nicht, dass man ihnen zuhört, oder die wollen keinen Dialog, sondern die wollen einfach nur recht haben.
    Florin: Aber viele – gerade in der Politik – geben ihnen auch recht.
    Lilie: Das ist so, das kritisiere ich sehr deutlich. Ich kann wirklich an manche Äußerung auch Menschen, die der Bundesregierung angehören, an diesem Punkt nur brandmarken, weil ich das brandgefährlich finde, sozusagen populistischen Argumenten hinterherzulaufen und zu denken, damit kann man Wahlen gewinnen. Das Gegenteil ist der Fall, damit macht man die Populisten stark, darauf haben Sie völlig zu Recht hingewiesen.
    Die Geschichten hinter den Geschichten
    Florin: Aber das ist doch das Ergebnis, wenn man zuhört und nicht widerspricht.
    Lilie: Zuhören heißt nicht recht geben. Zuhören heißt erstmal hören. Und ich glaube, dass jemand, der das Gefühl hat, ich werde wirklich angehört, sich in seiner Haltung auch verändert. Das ist auch meine Erfahrung. Das heißt aber lange nicht, dass ich allem, was der sagt und denkt, zustimme. Im Gegenteil: Das heißt auch, dass ich mich heftig streite auseinandersetze und auch sehr klar widerspreche.
    Florin: Fehlt es wirklich an Zuhören oder an Widerspruch?
    Lilie: Es fehlt, glaube ich, zunächst an Zuhören. Es fehlt wirklich daran, genau hinzugucken, was sind die Geschichten hinter den Geschichten. Und die Hintergründe von Biografien, von Standpunkten zu verstehen, und dann kann man mit Fug und Recht wiedersprechen. Wir brauchen sicherlich auch mehr Streit und mehr Auseinandersetzung in dieser Demokratie, aber das muss getragen sein davon, dass man wirklich erstmal die Argumente auch des anderen gelten lässt.
    Florin: Sie schreiben, dass man einen Unterschied machen muss zwischen privaten Beziehungen – da spielen auch Kränkungserfahrungen zum Beispiel eine Rolle. Aber wenn wir jetzt nicht auf dieser privaten Ebene sind, sondern auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene: Ist es dann überhaupt möglich, derart therapeutisch ranzugehen und zu sagen: "So, ich hör mal zu und ich frage, wie bist du denn jetzt zum Rassisten geworden, warum hasst du jetzt die Flüchtlinge?" Das kann doch Politik überhaupt nicht leisten.
    Lilie: Ich möchte jetzt aus der Bundesrepublik keine gruppentherapeutische Sitzung machen. Das wäre auch, glaube ich, wirklich ein verfehlter Ansatz, auch das sage ich ja sehr deutlich. Aber ich wundere mich manchmal schon über die mangelnde emotionale Intelligenz von manchen Politikern – übrigens auch von manchen Journalisten –, wenn die diesen Menschen begegnen. Also, ich kann Wut nicht einfach mit rationalen Argumenten begegnen. Das ist einfach eine falsche Ebene. Und da würde ich mir manchmal – ja, das, was ich gerade gesagt habe – mehr emotionale Intelligenz, Empathie wünschen – nochmal, ohne dass ich irgendeinem Rassisten damit recht gebe, das Gegenteil ist der Fall – in diesem Land.
    Florin: Aber an Schreien, an Emotionen, da fehlt es gerade nicht.
    Lilie: Nein, an einer Art der Kommunikation, die das integrieren kann und die dann auch regieren kann und die das hört, was [da] dahinter steht. Daran fehlt es.
    "Dass Menschen mit dem Wandel in diesem Land Schwierigkeiten haben, ist nicht sittenwidrig"
    Florin: Wir betreiben einen auffallenden Aufwand, um zu erklären, dass Menschen, die rassistische – oft ja auch religions-rassistische – Parolen rufen, keine Rassisten sind. Warum?
    Lilie: Ich glaube, es geht darum, dass wir die Ängste der Menschen ernst nehmen müssen, die sagen, "eigentlich habe ich in meinem genetischen Code – so sage ich das jetzt mal – einfach noch die Kehrordnung." Also, dass alles so bleibt, wie es immer war. Damit leben viele Leute in diesem Land – sozusagen als Film. Und nun sehen sie mit einmal, wie schnell sich dieses Land wandelt. Dass sie damit Schwierigkeiten haben, finde ich, ist erstmal nicht sittenwidrig, sondern das muss man miteinander eben wirklich lernen und einüben, das muss auch besprechbar werden, und daraus würde ich dann eben nicht sofort gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit machen, sondern da muss man genau hingucken, ganz klar mit der Richtlinie, dass Rassismus in Deutschland keinen Platz hat.
    Florin: Wie optimistisch sind Sie, dass dieser – soll ich es Diskurs nennen, oder soll ich es Gespräch nennen –, dass dieser Gedankenaustausch gelingt? Dass wir zu einer zivilisierten Form der Auseinandersetzung zurückfinden?
    Lilie: Ich sehe die Gefährdungen durchaus, die da drin liegen, und ich glaube, wir müssen darum mehrere Dinge tun. Denn das eine ist, wirklich die handfesten sozialen Probleme, über die wir ja auch gesprochen haben, wirklich angehen. Und das andere ist, diesen Prozess des kulturellen Lernens in einem Deutschland, das älter, das vielfältiger, das ungleicher, das digitaler wird, auch gemeinsam politisch einzuüben. Ich glaube, dafür können wir als Diakonie, als Kirche einen erheblichen Beitrag leisten.
    Florin: Worin besteht der?
    Lilie: Ja, dass wir eben Plattform sind, wo solche Gespräche stattfinden, dass wir Orte sind, wo sich Menschen mit unterschiedlichen Geschichten begegnen, und dass wir auch Orte sind, wo wir modellhaft einüben, dass das funktioniert – und zwar so, dass das durchaus ein Gewinn ist.
    Florin: Ist das nicht eine Selbstüberschätzung der Kirchen in einer Gesellschaft, in der der kirchliche Einfluss zurückgeht?
    Lilie: Also, was die Diakonie angeht, keine Selbstüberschätzung, weil wir in all diesen Rollen wirklich präsent sind. Wir haben diese Chance viel zu wenig. Es braucht einen neuen Modus auch des Zuhörens und der Kooperation zwischen Politik und der Zivilgesellschaft an diesem Punkt. Das wird die Politik im Allein-Standing-Modus nicht schaffen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews nicht zu eigen.
    Ulrich Lilie: Unerhört! Vom Verlieren und Finden des Zusammenhalts. Herder Verlag 2018. 176 Seiten, 18.80 Eur.