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Soziale Gerechtigkeit in einer sich wandelnden Welt

Die gerechtigkeitspsychologischen Prozesse sind unabhängig von den politischen Verhältnissen und den Kulturen überall in der Welt gleich. Menschen haben einen tief verwurzelten Glauben an eine gerechte Welt. Dieser kann durch Unwälzungen wie die politische Wende zeitweilig erschüttert werden. Dann aber suchen die Menschen wieder nach Strukturen, die ihnen ihr Vertrauen in Gerechtigkeit zurückgeben

Von Barbara Leitner |
    Dalbert: "Was bedeutet es eigentlich, wenn ich Menschen gerecht behandele. Ein psychologischer Kern davon ist, dass sie Menschen das Gefühl geben, dass sie dazu gehören, dass sie wertvolle Menschen sind. Warum ist das wichtig? Weil wenn Menschen sich als wertvolle Mitglieder einer Gemeinschaft erleben, nur dann sind sie bereit, den Vertrag in dieser Gemeinschaft zu erfüllen, sich an die Spielregeln einer Gemeinschaft zu halten."

    Claudia Dalbert ist Professorin für Psychologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Sie untersucht das Gerechtigkeits- und Ungerechtigkeitserleben beispielsweise von Schülern in der Schule.

    Dalbert: "In der Schulforschung können ganz deutlich zeigen, dass Schüler, die sich von ihrem Lehrer gerecht behandelt fühlen, haben mehr Vertrauen in gesellschaftliche Institutionen, haben weniger Neigung zu kriminellen Verhalten, zeigen weniger Buhlingverhalten gegenüber ihren Mitschülern, schikanieren ihre Mitschüler weniger. Aber auch so was wie Mogeln während Klassenarbeiten ist seltener. Das Gefühl, ich werde von wichtigen Mitgliedern der Gemeinschaft gerecht behandeln, das ist eines der Kernelemente, welches andere Menschen dazu bringt sich an eine gesellschaftliche Vereinbarung zu halten."

    Diese gerechtigkeitspsychologischen Prozesse - das ist das faszinierende für die Wissenschaftlerin – sind unabhängig von den politischen Verhältnissen und den Kulturen überall in der Welt gleich. Menschen haben einen tief verwurzelten Glauben an eine gerechte Welt. Dieser - das erfragte Claudia Daubert bei einer Langzeitbeobachtung in Ungarn - kann durch Unwälzungen wie die politische Wende zeitweilig erschüttert werden. Dann aber suchen die Menschen wieder nach Strukturen, die ihnen ihr Vertrauen in Gerechtigkeit zurückgeben. Das ist nötig, um handlungsfähig zu sein und in die Zukunft zu investieren.

    Und doch fand die Psychologin plausible Gründe, weshalb bestimmte Ungerechtigkeiten nicht wahrgenommen werden. Eltern von behinderten Kindern wurden befragt, wie gerecht sie die Arbeitsteilung zwischen der sorgenden Mutter und dem berufstätigen Vater einschätzen.

    Claudia Daubert: "Was man sieht über die Zeit, dass es am Anfang von beiden Partnern noch eingeräumt wird, dass auch die Männer sagen, meine Frau tut mehr zur Versorgung des Kindes und dass mit der Zeit so ein Anpassungsprozess passiert und die Männer sagen, wir tun eigentlich gleich viel und die Frau zwar sagen, ich tue mehr als mein Mann, aber gar keine Veränderung mehr fordern. Warum ist das so. Wir denken, dass das so ist, was wir nennen sekundäre Viktimisierung. Sie sind schon ein Opfer, weil sie mehr Input bringen müssen, mehr leisten müssen. Das ist ungerecht, und sie werden diese Ungerechtigkeit nur anprangern, wenn sie das Gefühl haben, dass sie durch dieses Anprangern auch beseitigt wird. Wenn sie das Gefühl nicht haben, werden sie eher dazu neigen, Gerechtigkeit kognitiv wieder herzustellen, Bewertungen vorzunehmen, die es ihnen erlauben, mit dieser Situation erträglich umzugehen, sonst würden sie sich ein zweites Mal zum Opfer machen. Das vermeiden Leute."

    Menschen haben ein Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Was aber Gerechtigkeit für sie konkret bedeutet, beantworten sie verschieden, je nach dem, wie sie die Welt betrachten. Für die einen ist es wichtig, dass alle Mitglieder einer Gemeinschaft gleich behandelt werden. Die Nächsten meinen, es sollte nach den Bedürfnissen gehen und wieder andere fordern, Leistung sollte belohnt werden. ( o.c. Seit Anfang der 90er Jahre fragt das an der Humboldt-Universität beheimatete International Social Justice Projekt alle fünf Jahre Menschen in 13 Ländern, wie wichtig ihnen Gerechtigkeit ist und wie gerecht sie die Verhältnisse in ihrem Land bewerten.) Bemerkenswert aus den jüngsten Ergebnissen sind für den Soziologen Bernd Wegener vor allem die veränderten Gerechtigkeitspositionen in den neuen Bundesländern in Deutschland:

    "Unmittelbar nach der Wende gab es eine große Bevorzugung des individualistischen Standpunkt: Wer viel leistet, soll viel kriegen. Das Individuum zählt. Es ist jetzt nachträglich so, dass wenn wir Ost- und Westdeutschland vergleichen, im Osten zweifellos egalitäre Einstellungen eher vertreten werden als im Westen."

    Angesichts von Globalisierung, Überalterung der Gesellschaft und dem Ende des Wohlfahrtsstaates lebte in den zurückliegenden Jahren die Gerechtigkeitsdiskussion neu auf. Nicht mehr alle profitieren gleichermaßen vom ökonomischen Wachstum.

    Einbußen müssen hingenommen werden. Dafür bedarf es auch moralisch philosophischer Erklärungen und dabei hat der Anspruch auf Gerechtigkeit einen starken Gegenspieler bekommen: Die Verpflichtung zur Eigenverantwortung. Da der Staat nur verteilen kann, was zuvor auch erarbeitet wurde, muss auch jeder seinen Beitrag leisten. Egalitäre Gerechtigkeitskonzeptionen wurden ergänzt durch libertäre Kriterien, zu Recht, wie der Philosoph Lukas Meyer meint. Gleichzeitig verweist er aber darauf, dass die Grenzen für die Eigenverantwortlichkeit für eine schlechtere Stellung oft schwer zu ziehen sind. Inwieweit kann jemand beispielsweise eigenverantwortlich für seine Gesundheit vorsorgen, wenn er gar nicht die bildungsmäßigen Voraussetzungen hat, zu durchschauen, worin sein Verhalten gesundheitsgefährdend ist?

    Meyer: "Entsprechend wird sehr kontrovers diskutiert, inwiefern die Haftung für die Konsequenzen von solchen Verhalten tatsächlich von allen getragen werden sollte - beispielsweise durch eine allgemeine Pflichtversicherung, inwiefern solches Verhalten verboten werden sollte. Das wäre die Option, die Kosten solchen Verhaltens zu internalisieren, denen aufzubürden, die sich so verhalten oder verhalten können und inwiefern man tatsächlich der Meinung ist, dass dieses Verhalten von dem einzelnen selbst getragen werden muss, sei es nun durch Sonderversicherung oder wenn man es nicht durch Versicherungen begleichen kann, eben als Nachteile im Lebensvollzug. Diese Position ist aufgenommen worden durch Suffizienzpositionen, die dagegen halten, dass gleich wie sich Menschen entscheiden bestimmte Gerechtigkeitsansprüche von Menschen unaufgebbar sind nämlich Ansprüche, sie sich darauf beziehen, dass es ihnen gut genug, also wenigstens so gut, dass sie sich weiterhin autonom auf ihren eigenen Lebensvollzug beziehen können."

    Im Klartext: Auch wenn Menschen ihre Schlechterstellung verursacht haben, können sie nicht aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang geworfen werden, meint diese postlibertäre Auffassung. Doch diese Verantwortung füreinander sieht Lukas Meyer, Assistenzprofessor für praktische Philosophie an der Universität Bern, nicht nur im Hier und Jetzt. Er schlägt auch vor, eine weitere zeitliche Dimension zu beachten, wenn er von der intergenerationalen Gerechtigkeit spricht:

    "Eine Auffassung ist dann die, dass man sagen kann, auch für nicht Zeitgenossen, etwa gegenwärtig lebende Menschen es zukünftig Lebenden schulden, sie in gerechter Weise zu behandeln, in dem Sinne, dass sie ihre negativen Pflichten den zukünftigen Lebenden gegenüber erfüllen. Solche negativen Pflichten schließen insbesondere ein, dass sie sie in einem relevanten Sinne nicht schädigen. Etwa in dem Sinne, wie das viele vertreten, dass man doch dafür sorgt, dass zukünftig lebende Menschen hinreichend gut gestellt sind. Dass ist eine Forderung der Gerechtigkeit, wenn sie verstanden werden kann als eine Forderung, die auf den Rechtsanspruch zukünftiger Lebender beruht."

    Diese Forderung nach globaler Gerechtigkeit schließt ebenso ein, eine gerechte ökonomische Weltordnung zu schaffen wie die Folgen des Klimawandels gerecht zu verteilen. Mit nationalstaatlichen Gerechtigkeitsvorstellungen allein kann das nicht geschehen. Vielmehr muss international eine Einigung erzielt werden. Inzwischen gibt es einen Minimalstandard globaler Gerechtigkeit, was den Schutz von Menschenrechten anbelangt. Doch darüber, wie die globalen Ressourcen gerecht verteilt werden können, streiten sich heute nicht nur die Staaten, sondern auch die Philosophen: Wilfried Hinsch von der Rheinisch Westfälischen Technischen Hochschule Aachen:

    "Es gibt einige Kollegen, die der Auffassung sind, dass im Grunde die egalitäre Gerechtigkeitsvorstellungen, die für Einzelstaaten entwickelt worden, dass diese Vorstellungen weltweit angewendet werden, so dass man auch weltweit die Gerechtigkeit einer globalen Wirtschaftsordnung danach beurteilt, inwieweit es den schlecht gestelltesten Mitgliedern der Erdbevölkerung dadurch geht. Es gibt aber auch andere, die das ablehnen und sagen, das ist nicht möglich, die für Einzelstaaten entwickelten Standards global anzuwenden, einfach weil es nicht die Form von soziale Einheit gibt, global, die wir in einem Einzelstaat haben und die erst die notwendige Motivation schafft, Gerechtigkeitsforderungen zu erfüllen, nämlich gegenüber den Mitbürgern, mit denen man in einem engen kulturellen und Lebenszusammenhang steht. Das ist nach wie vor eine offene Frage. Aber ich glaube, man kann sagen, es ist inzwischen Konsens, dass die Frage der einzelstaatlichen Gerechtigkeit nicht länger beantwortet werden kann ohne eine halbwegs befriedigende Antwort nach der globalen und internationalen Gerechtigkeit."