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Soziale Zappel-Philippika

"Auf der Höhe der Zeit", so der schlichte Titel eines Sammelbandes, der gleichwohl dieser Tage die Gemüter in der SPD erregt. Denn die drei Herausgeber Matthias Platzeck, Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier wollen weit mehr leisten als die derzeitige Programmdebatte zu beleben: Sie wollen der Sozialdemokratie den Weg zu einer regierungsfähigen Partei für das 21. Jahrhundert weisen. Politisch fühlt sich davon vor allem die Parteilinke herausgefordert. In ihren Augen verteidigt und zementiert das Buch lediglich den Politikwechsel zur ungeliebten so genannten Agenda 2010.

Von Rainer Burchardt |
    Der Struwwelpeter hat parteipolitische Konkurrenz bekommen. Zwar prangen auf der Umschlagseite eine flotte Mutter mit Aktenkoffer an der einen und Kleinkind an der anderen Hand, doch das "Auf der Höhe der Zeit" betitelte Konglomerat aktueller gesellschaftlicher Problemanalysen und Lösungsvorschlägen ist nichts anderes als eine soziale Zappel-Philippika. Motto: Da machen wir doch mal reinen Tisch mit dem alten, sozialdemokratischen Tafelsilber und verhökern unsere angeblich veralteten Bestecke. Schon im Vorwort der drei Herausgeber, das von zweifelhaften Parolen und unbelegten Behauptungen nur so wimmelt, heißt es unter anderem:

    Zitat:
    …Tatsächlich stehen sich auch in den heutigen Globalisierungsdebatten prinzipiell wieder dieselben Gruppen unversöhnlich gegenüber, die schon vor einem Jahrhundert über die Zukunftsperspektiven des Kapitalismus stritten: Hier die liberalen Verfechter ungezügelter Märkte, dort die orthodoxen Linken alter Schule, denen Märkte per se mindestens verdächtig sind. Und wiederum gilt: Für die große Mehrheit der ganz normalen Menschen in unserer Gesellschaft haben weder die Marktverächter noch die Marktgläubigen attraktive Angebote und Perspektiven im Gepäck. Heute wie vor einhundert Jahren wissen die meisten Menschen, dass der Markt als effizienter Mechanismus zu Wertschöpfung und Wachstum völlig unersetzbar ist. Heute wie damals wünschen sie sich, am marktwirtschaftlich hervorgebrachten Wohlstand teilzuhaben. Heute wie damals fürchten sich zugleich viele vor den sozialen und politischen Folgen einer regellosen Marktwirtschaft. Und heute wie damals bieten die Prinzipien der sozialen Demokratie in dieser schwierigen Gemengelage das mit weitem Abstand beste und verlässlichste Navigationssystem für politisches Handeln.

    Also Leute, wählt SPD und alles wird gut. Es ist geradezu peinlich, mit welcher Leichtfüßigkeit hier sozialdemokratische Spitzenpolitiker sich sogar noch mit Berufung auf Willy Brandt vom demokratischen Sozialismus verabschieden und auf den Wischiwaschi-Begriff soziale Demokratie setzen. Das könnten auch Angela Merkel und Edmund Stoiber ohne Vorbehalt gegenzeichnen. Deshalb auch das unübersehbare Unbehagen des ehemaligen SPD-Vorsitzenden Hans Jochen Vogel bei der Buchvorstellung in Berlin mit diesem Begriff. Seine sybillinische Kompromissformel, die in das Hamburger SPD-Programm im Oktober aufgenommen werden soll:

    Der demokratische Sozialismus erfüllt sich in der sozialen Demokratie.

    Na bitte, geht doch. Nein, dieses Vorwärts-Buch mit teilweise geschichtsklitterndem Blick zurück, mag zwar als eine vielschichtige und interessante Lektüre über den augenblicklichen gesellschaftlichen Zustand dienen, mehr aber auch nicht. Es ist geradezu abenteuerlich, wenn die Herausgeber die Revisionismusdebatte um Eduard Bernstein ausgangs des 19. und eingangs des 20. Jahrhunderts als Grundstein für den angeblich erfolgreichen Weg der SPD als Verfechter der Schichten- und Chancengleichheit in Anspruch nehmen:

    In jenen Jahren entstand die nichtmarxistische Soziale Demokratie als neue, ganz eigene Idee und Haltung, als originäres Konzept und fortschrittliche politische Bewegung. Dem jeweils schmalspurigen ökonomistischen Denken der orthodoxen Marxisten auf der einen wie der Liberalen auf der anderen Seite stellten "revisionistische" Sozialdemokraten um den Theoretiker Eduard Bernstein sowohl den Vorrang der Politik als auch die Prinzipien von Reform und Fortschritt, Kompromiss und Interessenausgleich über die Klassengrenzen hinweg entgegen….Völlig zu Recht hat der Soziologe Ralf Dahrendorf daher den Begriff vom "Sozialdemokratischen Jahrhundert" geprägt.

    Ganz davon abgesehen, dass dieses Jahrhundert in der ersten Hälfte von zwei schrecklichen Weltkriegen und dem verbrecherischen Nationalsozialismus in Deutschland bestimmt war, fällt es eher schwer, dies besonders als sozialdemokratisch erfolgreich anzusehen. Die Herausgeber sprechen hier mal so nebenher von "katastrophalen Jahrzehnten", deren Ursachen sie jedoch flott übergehen. Dass außerdem die auch in der SPD vor mehr als hundert Jahren einflussreichen Marxisten abgebügelt beziehungsweise übergangen werden, nennt der Parteienforscher Franz Walter schlicht und einfach eine leichtfertige Geschichtsklitterung. So ist es.

    Neben dem kritikwürdigen Vorwort, das übrigens wohl eher dem Parteivorsitzenden hätte vorbehalten bleiben müssen, gibt es vier Hauptkapitel, in denen sich rund 60 Autoren, darunter auch prominente Amtsinhaber wie etwa Justizministerin Zypries, Gewerkschaftschef Schmoldt, der ungarische Premier Gyurczany und einige Kultur- und Medienschaffende wie etwa der Intendant der Deutschen Welle Bettermann oder die Präsidentin der Viadrina Universität in Frankfurt/Oder Gesine Schwan äußern. Sie alle mühen sich nach Kräften ab, Restbestände sozialdemokratischer Seiten- oder Endmoränen in ihren jeweiligen Bereichen einzusammeln und politisch korrekt zu sortieren.

    Die programmatischen Kapitel lauten: "Der vorsorgende Sozialstaat", "Moderne Wirtschaft - Gute Arbeit", "Unsere gemeinsame Verantwortung" und "Zukunft der sozialen Demokratie". Hier wird eine Vielzahl von konkreten Aufgabenstellungen für die SPD im 21. Jahrhundert benannt, ohne plakative und polemische Rückblicke bzw. Seitenblicke etwa auf die Linke. So plädiert Gesine Schwan für eine neue Ostpolitik angesichts der EU-Erweiterung, der Politologe Frank Decker äußert lesenwerte Gedanken zu plebiszitären Formen, Siegmar Gabriel schließlich sieht eine Kernaufgabe der SPD im solidarischen Klimaschutz:

    Wir haben als Sozialdemokraten zugleich die große Chance, mit unserem Verständnis von Gerechtigkeit und Solidarität im nationalen wie im internationalen Handeln für den Klimaschutz, für den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen und für die Erneuerung unserer industriellen Entwicklung die Führungsrolle in der deutschen Politik zu besetzen. Diese Chance, den sich andeutenden paradigmatischen Wechsel im globalen Themengefüge für das Wohl der Menschen politisch gestaltbar zu machen, darf die SPD keiner anderen Partei in Deutschland überlassen.

    Und dennoch: Dieses Buch ist ein ziemliches Ärgernis. Zum einen kommen Vertreter des linken Flügels, vor allem dessen prominente Sprecher nicht zu Wort. Das vor allem muss Andrea Nahles zu recht kritischen Äußerungen veranlasst haben. Folgen der Hartz IV-Beschlüsse werden ignoriert. Wäre hier nicht auch ein Aufsatz von Otmar Schreiner denkbar? Und schließlich: Es ist unverkennbar, dass mit diesem Werk die SPD durch einen kräftigen Rechtsruck in die Mitte sich von den linken "Schmuddelkindern" absetzen will. Wenn die SPD jedoch "auf der Höhe der Zeit" und somit zukunftsfähig bleiben will, dann muss sie mit anderen Konzepten und Denkmustern aufwarten, als diesem Navigationsatlas mit der Kursanweisung: ab durch die Mitte.

    Platzeck, Matthias
    Steinbrück, Peer
    Steinmeier, Frank-Walter

    Auf der Höhe der Zeit. Soziale Demokratie und Fortschritt im 21. Jahrhundert, Vorwärts Verlag Berlin, 340 Seiten, 14,80 Euro