Donnerstag, 25. April 2024

Archiv


Sozialer Realismus aus Belgien

Das Brüderpaar Jean-Pierre und Luc Dardenne wurde in den vergangenen zehn Jahren mit Preisen für ihre Filme überhäuft. Sie gewannen in Cannes die Goldene Palmen für "Rossetta" (1999) und für "l’enfant" im Jahr 2005. Auch bei der diesjährigen Cologne Conference werden die Brüder wieder mit einem Preis geehrt. "Lornas Schweigen" ist ihr neuer Film. Es geht um die potenzielle Käuflichkeit des Menschen - Korruption also.

Von Josef Schnelle | 09.10.2008
    "Eine Woche nach der Scheidung wieder heiraten - das stinkt doch."

    Verbrecher unter sich. Und ein scheinbar grandioser Plan. Die Albanerin Lorna hat den Junkie Claudy geheiratet. Jetzt besitzt sie die ersehnte belgische Staatsbürgerschaft und möchte ihn so schnell wie möglich loswerden. Dann wird sie einen Russen heiraten und die belgische Staatsbürgerschaft weiterleiten. Dafür gibt’s Geld. Und Lorna kann sich ihren bescheidenen Traum von der eigenen Imbissbude in Lüttich erfüllen. Und den von der großen ewigen Liebe zu ihrem Freund Sokol. Doch der ist wenig verlässlich und der Deal hat ein paar Schönheitsfehler. Der Junkie will plötzlich sauber werden und die kriminellen Freunde Lornas zeigen wie skrupellos sie sein können. Claudy bettelt um ein Schmerzmittel, damit er den Entzug übersteht, doch zunächst bleibt Lorna hart.

    Es ist nicht leicht zu erklären was am Kino der Dardenne-Brüder so besonders ist. Sie erzählen einfache sozialrealistische Geschichten aus dem Alltagsleben derer, die ganz unten angekommen sind, im Halbmilieu der Hoffnungslosen. Damit haben sie schon zweimal all die großen und teuren Hollywoodproduktionen ausgestochen im Kampf um die goldene Palme von Cannes. 1999 mit "Rosetta" und 2002 mit "Der Sohn". Auch 2008 hätte sich niemand gewundert wenn "Lornas Schweigen" mit der goldenen Palme prämiert worden wäre. Ein Trostpreis für das beste Drehbuch, den sie ebenso stolz zeigten, wie alle zahlreichen Preise zuvor, führt immerhin auf die Spur des Erfolgs der belgischen Brüder.

    Ihr Kino ist nicht nur bodenständig, weil es die wahren Probleme der Menschen in unserer Lebenszeit aufgreift. Es ist auch klassisch im wahrsten Sinne des Wortes. Aristotelische Dramatikregeln, einfache Filmform wie bei den Dogma-Klassikern aus Dänemark – aber starke Figuren und eine Schauspielerregie wie aus den besten Tagen des italienischen neorealistischen Films in den 60er Jahren. Wer in künftigen Zeiten einmal wissen will, wie es sich angefühlt hat, zu Beginn des 21sten Jahrhunderts in Europa zu leben, wenn man arm und hoffnungslos war, der wird die DVDs der Dardennes einlegen müssen. Allerdings beherrschen die Filmbrüder auch die Regeln der Emotionslenkung im Kino so perfekt, dass einem nur die ganz großen Meister des Hollywoodmelodrams wie Douglas Sirk einfallen, wenn man ihren Stil beschreiben soll. Junkie Claudy verliebt sich jedenfalls doch noch in seine albanische Frau und findet in dieser Liebe ein Lebensziel, das ihn von der Nadel wegbringen könnte.

    Das Kino befindet sich immer auf der Suche nach der Wirklichkeit. Das ist es, was jenes von Jean-Pierre und Luc Dardenne so einzigartig und meisterlich macht. Wer bei diesem Film nicht weint, der hat kein Herz. Wer nicht erkennt, wie genau dieser Film die Wechselfälle der Wirklichkeit abbildet, der hat keinen Verstand. Beides braucht man aber um ein Meisterwerk der Filmkunst zu erkennen.