Freitag, 03. Mai 2024

Archiv

Sozialer Zusammenhalt
Politologe: Engagement von jungen Menschen fördern

Viele Deutsche sorgen sich um den sozialen Zusammenhalt im Land. Der sei innerhalb einzelner Gruppen zwar gegeben, sagte Politikwissenschaftler Edgar Grande im Dlf. Eine Integration dieser Gruppen in die Gesellschaft gelinge aber immer weniger. Die Politik müsse daher die Engagementbereitschaft der Menschen fördern.

Edgar Grande im Gespräch mit Katja Scherer | 07.08.2018
    Geschäftsmann und Geschäftsfrau beim Handschlag mit Stangen über einer Felsspalte.
    Schwindender sozialer Zusammenhalt: Laut Politikwissenschaftler Grande fehlt es unserer Gesellschaft an brückenbildendem, integrativem, sozialem Kapital (imago stock&people / Mark Airs)
    Katja Scherer: Steht es um den sozialen Zusammenhalt im Land tatsächlich so schlimm oder handelt es dabei mehr um ein Gefühl in der Bevölkerung?
    Edgar Grande: Die empirischen Studien, die es zum gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland gibt, würden diesen Eindruck eigentlich nicht bestätigen. In diesem Jahr ist eine große Bertelsmann-Studie zum gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland erschienen, basierend auf Umfragen, die insgesamt zu dem Ergebnis kommt, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt in Deutschland stark ist. Gleichzeitig beobachten wir aber auch seit Jahren schon ausgeprägte Individualisierungstendenzen in unserer Gesellschaft. Und eine der aus meiner Sicht spannenden Fragen ist, wie denn beides zusammengehen kann.
    Menschen lösen sich aus sozialen Bindungen
    Scherer: Und wie geht das? Was heißt Individualisierungstendenzen auch?
    Grande: Individualisierung heißt zunächst einmal, dass sich die Menschen aus bestehenden sozialen Bindungen herauslösen. Die großen Verbände, Gewerkschaften, die Kirchen, auch die etablierten Volksparteien sind Beispiele. Wir stellen insgesamt fest, dass sich das, was wir als Zivilgesellschaft bezeichnen, also der ganze Bereich der freiwilligen Zusammenschlüsse, der Vereine, der Verbände, seit einigen Jahren deutlich verändert. In dem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass nicht die Engagementbereitschaft als solche unbedingt abgenommen hat, aber die Art und Weise, wie sich die Bürger engagieren, verändert sich.
    Scherer: Und wie passt das zusammen, also auf der einen Seite dieses Gefühl, dass man quasi eine sehr stark individualisierte Gesellschaft hat, wo so große Verbände keine Rolle mehr spielen, auf der anderen Seite scheint es doch noch einen starken Zusammenhalt zu geben? Wie passen diese zwei Ergebnisse zusammen?
    Grande: Lassen Sie mich dazu zwei Dinge sagen. Das eine, wir wissen dazu noch zu wenig. In diesem ganzen Bereich besteht aus meiner Sicht ein sehr großer Forschungsbedarf. Aber ich habe eine Vermutung. Was wir nämlich auch beobachten, ist, dass wir eine Entwicklung haben, die ich als Segmentierung bezeichnen würde, das heißt, dass der Zusammenhalt innerhalb bestimmter Gruppen – sozialer Netzwerke und so weiter – durchaus gegeben ist, aber dass die Integration dieser verschiedenen Gruppen in unserer Gesellschaft immer weniger gelingt.
    Mangel an brückenbildendem, integrativem, sozialem Kapital
    Scherer: Woran liegt es, dass diese Gruppen nicht mehr in Kontakt miteinander kommen?
    Grande: Das ist eine der großen spannenden Fragen. Aus meiner Sicht ist das ein Ausdruck eines Mangels an brückenbildendem, an integrativem, sozialem Kapital.
    Scherer: Das heißt?
    Grande: Dass Einrichtungen, in denen die Bürger unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit, ihrer sozialen Zugehörigkeit eingebunden sind, an Bedeutung verloren haben. Nehmen Sie als aktuelles Beispiel, als aktuelle Diskussion die Dienstpflicht, die Wehrpflicht, die für alle galt. Insofern gibt es ja auch gute Gründe, diese Diskussion, die derzeit geführt wird, nicht unbedingt in Bezug auf die Verteidigungsbereitschaft, sondern insbesondere auch mit Blick auf den sozialen Zusammenhalt zu führen. Aber das ist nur ein Beispiel. Das andere sehen wir natürlich am Beispiel von Schulen, von Kindergärten, in denen wir ja auch Tendenzen beobachten, dass bestimmte soziale Schichten großen Wert darauf legen, dass ihre Kinder mit den ihren zusammen sind.
    Engagementbereitschaft fördern
    Scherer: Wie sollte man dagegensteuern, jetzt quasi aus politischer Sicht?
    Grande: Auch das ist wieder eine der großen Fragen. Und aus einer wissenschaftlichen Perspektive ist in der Tat die entscheidende Frage: Wie können wir dieses brückenbildende soziale Kapital aufbauen, wie können wir Einrichtungen stärken, die in dieser Weise integrativ bilden? Ich hatte eben das Beispiel eines sozialen Jahres - ich würde es so nennen: eines sozialen Jahres - genannt. Ein anderes Beispiel ist der Versuch, in Schulen die Engagementbereitschaft von jungen Menschen zu fördern, in Kooperation mit Vereinen und anderen Formen des bürgerschaftlichen Engagements am Ort.
    Scherer: Das heißt, was muss die Politik machen mit diesem Problem? Brauchen wir so einen kompletten Shift, also so eine komplette Neuausrichtung der Politik?
    Grande: Ich glaube, entscheidend ist, dass die Politik ihre Blickrichtung ändert. Und in diesem Zusammenhang ist das Stichwort sozialer Zusammenhalt sehr wichtig. Es macht einen Unterschied, ob ich politische Probleme unter Effizienzgesichtspunkten versuche zu lösen oder ob ich versuche, politische Fragen unter dem Blickwinkel des sozialen Zusammenhalts zu betrachten. Vieles von dem, was in den vergangenen 20, 30 Jahren unter Effizienzgesichtspunkten entschieden worden ist, viele Verwaltungsreformen, hat sich mit Blick auf den sozialen Zusammenhalt als kontraproduktiv erwiesen. Deswegen geht es nicht nur um Korrekturen an einzelnen Punkten, sondern es geht darum, dass die Politik einen neuen Blick einnimmt.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.