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Sozialethiker: Nicht weniger Geld, die Verteilung ist anders

Um den Sozialstaat steht es schlecht, wie die Tagung "Pflegefall Sozialstaat" der Akademie für Politische Bildung in Tutzing zeigte. Für den Tagungsleiter Michael Spieker ist der Sozialstaat zu einem "aktivierenden Staat" geworden.

Michael Spieker im Gespräch Burkhard Müller-Ullrich |
    Burkhard Müller-Ullrich: Ein Wort, das zeigt, was Sprache vermag, ist "Leistungsempfänger". Das wird vorne betont auf "Leistung" und sofort hat man das Gefühl, die Leistungsempfänger hätten selber ziemlich geackert. Solche Gefühlsdinge sind wichtig, wenn es um den Sozialstaat geht, denn um ihn steht es schlecht. "Pflegefall Sozialstaat" war eine Tagung der Akademie für politische Bildung in Tutzing an diesem Wochenende betitelt. - Am Telefon ist der Tagungsleiter Michael Spieker. Herr Spieker, zwei Gründe gibt es dafür, dass der Sozialstaat zum Pflegefall geworden ist. Erstens, es ist nicht mehr so viel Geld da, und zweitens, es gibt immer mehr Anspruchsteller, die ein Selbstbewusstsein entwickeln, das in Richtung arbeitsloses Einkommen geht, etwas, wovon die Menschen, die das alles erwirtschaften müssen, nur träumen können. Deswegen sind die sauer. Oder woher kommt die spürbar zunehmende Kälte in unserem Sozialstaat?

    Michael Spieker: Nun, jene, die Sie jetzt gerade als solche bezeichnen, die ein arbeitsloses Einkommen beanspruchen, sind ja oftmals gerade jene, die gerne arbeiten würden, aber keine Arbeit bekommen, und dann in der arbeitsteiligen Gesellschaft, die wir sind, sich auch an die Gesellschaft durchaus zurecht wenden mit der Frage nach Unterstützung und Hilfe, und die Tagung hat eigentlich recht deutlich gezeigt, dass man gerade nicht davon sprechen kann, dass es weniger Geld gibt. Es ist nur anders verteilt. Der gesellschaftliche Wohlstand hat innerhalb der letzten 20 Jahre nicht abgenommen, sondern weiter zugenommen; nur hat sich der Staat, haben wir uns entschieden, dass wir für die allgemeinen Aufgaben und für allgemeinen Ausgleich, zur sogenannten Verteilung, weniger einbehalten wollen, sondern dass wir durch die Liberalisierung der Kapitalmärkte die Versorgung oder Verteilung grundsätzlich verändert haben, und die führt nun wirklich dazu, dass tatsächlich weniger Geld vorhanden ist. Das ist aber kein Naturereignis. Gleichzeitig wird man aber sich noch die Freiheit nehmen können zu überlegen, wie könnte man vielleicht grundsätzlich Verteilungsfragen durchaus auch durch eine Erinnerung an die Historie wieder verändern.

    Müller-Ullrich: Also würden Sie sagen, dass das, was ich eingangs geschildert habe, nämlich das Phänomen, dass der Abusus, der ja in den Medien sehr verbreitet wird, eigentlich ein Märchen sei?

    Spieker: Abusus wurde in sehr viel einschneidenderem und größerem Maßstab ja gerade von den sogenannten Leistungsträgern geübt, man möchte es kaum aussprechen, aber eben von jenen, die Finanzpapiere entwickelt haben, oder Strategien zur Geschäftserweiterung von Banken - und das waren auch Politiker und die sogenannten, von Ihnen jetzt nicht so ausgesprochenen, aber wohl im Hintergrund stehenden Sozialschmarotzer. Die gibt es durchaus, ich sage nur Florida-Rolf, aber das ist eben Rolf.

    Müller-Ullrich: Jetzt kann man natürlich auf der anderen Seite das Argument mit den wilden Banker-Boni und dem asozialen Verhalten derer da oben genauso individualisieren, wie Sie es gerade mit Rolf getan haben. Wenn wir mal auf die Masse schauen, dann ist nicht Rolf das Problem, sondern die Immigration in die Sozialsysteme.

    Spieker: Ja, das ist die bekannte Sarrazin-These dieser Tage, aber auch da sprechen die empirischen Befunde, die auf dieser Tagung vorgebracht wurden von namhaften Soziologen, eigentlich dagegen, indem einerseits gezeigt wurde, dass diese Einwanderung und Einwanderer teilweise zwar auf Sozialleistungen auch angewiesen sind, das aber vor allem deswegen, weil sie oftmals im Niedriglohnsektor beschäftigt sind.

    Müller-Ullrich: Aber es ist doch bekannt, dass Familien und Familiennachzug unter anderem dadurch funktionieren, dass es hier Geld gibt. Das weiß man ja. Das wird ja in anderen Ländern anders gehandhabt. Amerika, was ja nun weiß Gott auch ein großes Immigrationsland ist, überhaupt das Immigrationsland schlechthin, wenn man so will, das hat es anders gemacht: mit dieser Fünf-Jahres-Regelung. Das heißt, fünf Jahre lang dürfen sie - und sie können sich das sozusagen aussuchen, wann im Leben - den Staat in Anspruch nehmen als Sozialhelfer. Aber dadurch, dass dieser Horizont gegeben ist, haben die Leute natürlich eine ganz andere Motivation.

    Spieker: Sehen Sie, da ist nur das Problem damit verbunden, dass ich mir eben nicht aussuchen kann, wann ich Arbeit habe beispielsweise.

    Müller-Ullrich: Das heißt, in dem Augenblick, wo es mehr Geld als Sozialhilfe gibt für Stundenlohn oder wie immer Sie es umrechnen wollen, in dem Augenblick ist man innerlich weniger bereit zu arbeiten?

    Spieker: Hier muss man das Menschenbild betrachten, und die Tagung hat zum Beispiel sehr deutlich gezeigt, dass der Sozialstaat sich da auch verändert hat, verändert nämlich zum sogenannten aktivierenden Staat, und der aktivierende Staat oder die aktivierende Gesellschaft hat eine ganz eigenartige Überzeugung vom Menschen, nämlich einerseits diejenige in der Tat, dass der Mensch sich lieber ausruhen wolle und wenn es ihm erlaubt wird, ruht er sich in der sozialen Hängematte aus, aber es geht noch weiter. Selbst jene, die Arbeit haben und in Arbeit streben, selbst jene werden sozusagen für potenzielle Arbeitsverweigerer gehalten. Man kann in diesem Feld auch anders denken und beispielsweise die Überlegung, man müsse die Sozialhilfe oder das Arbeitslosengeld nur so weit runterdrücken, dass man sozusagen davon kaum mehr leben kann, hat sich ja relativ deutlich gezeigt mit der Einführung von Hartz IV, dass das so einfach nicht ist, weil eben diese Arbeit gesellschaftlich gar nicht vorhanden ist, dass alle jene, die arbeiten müssen, auch Arbeit finden.

    Müller-Ullrich: So weit Michael Spieker, Leiter der Tagung "Pflegefall Sozialstaat", die gerade an der Akademie für politische Bildung in Tutzing stattfand. Vielen Dank für das Gespräch.