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Sozialforschung auf Zelluloid

Auf der Grundlage der Empirie von Alltagserfahrungen erschloss der französische Soziologe Pierre Bourdieu kultursoziologische Einsichten. 98 Werke hinterließ der politische Intellektuelle, als er 2002 71-jährig starb. Und Bourdieu betrieb Feldforschung nicht nur mit der Schreibmaschine, er fotografierte auch: zum Beispiel im Algerienkrieg, in den er als junger Soldat geschickt wurde. Die Fotografien sind erstmals in Deutschland zu sehen, in den Deichtorhallen zu Hamburg.

Von Wolfgang Stenke |
    Den Soziologen Pierre Bourdieu kennt man als einen der Meisterdenker der Sozialwissenschaften. Und als streitbaren Intellektuellen, der sich noch in seinen letzten Lebensjahren bei den Globalisierungsgegnern von Attac engagierte. Dass er auch mit der Kamera umzugehen wusste, erfährt das deutsche Publikum erst jetzt - durch eine Ausstellung seiner Fotos aus der Zeit des Algerienkrieges in den Hamburger Deichtorhallen.

    Die Bilder führen zurück zu den Anfängen der soziologischen Arbeit des studierten Philosophen, in das Jahr 1955.
    "Ich wurde damals als Soldat nach Algerien verfrachtet. Ich war total hoffnungslos und sehr frustriert, es handelte sich ja im Übrigen auch um eine Strafe. Es war eine Strafe dafür, dass ich mich gegenüber dem Algerienkrieg sehr kritisch geäußert hatte, und ich empfand das alles als ganz schrecklich. Ich erinnere mich noch, dass ich während der Überfahrt zu meinen Kameraden, alles einfache Soldaten zweiter Klasse wie ich, sagte: "Das ist ja furchtbar, das ist Kolonialismus." "

    Bourdieu kam nicht zur kämpfenden Truppe, sondern in die Verwaltung. Das ließ ihm Freiräume, das Land zu erkunden. Mit wachem Blick für die Probleme, die das Kolonialsystem den Algeriern aufgebürdet hatte, suchte er nach Methoden um, den rapiden sozialen Wandel zu dokumentieren. Bourdieu betrieb Feldforschung – mit Hilfe von Statistiken, Interviews und: mit der Kamera. Einer zweiäugigen Spiegelreflex aus dem Hause Zeiss.

    "Die den großen, großen Vorteil hatte, dass man relativ unbemerkt von den Leuten um einen herum fotografieren konnte. "
    Der Genfer Soziologe Franz Schultheis, Vorsitzender der "Fondation Pierre Bourdieu".

    "Denn diese Kamera pendelte etwa auf Nabelhöhe und hatte den Sucher obendrauf. Und anstatt immer frontal auf die zu Fotografierenden zuzugehen und die Kamera in Augenhöhe zu halten, trug er sie eben auf dem Bauch und konnte zum Teil sehr intime Bilder machen, ohne diese Schwelle, die es beim Fotografieren oft gibt, wo die Leute sich dann in Pose legen oder abwehren. "
    Schwarzweißfotos, Format 30 mal 30: Aufgenommen im gleißenden Licht Algeriens, zeigen sie mit harten Kontrasten das Eindringen des Kolonialsystems in den Alltag: Landarbeiter, die in langen Reihen Rebstöcke mit Schwefellösung spritzen. Sie sind durch Schläuche mit einem Tank verbunden. Das zwingt die Männer zu synchroner, maschinenartiger Bewegung. Daneben Bilder von traditioneller Landarbeit. - Szenen aus dem städtischen Leben dokumentieren die Existenz eines Subproletariats: Tagelöhner, die am Straßenrand auf Arbeit warten; ein Bettler, um Gaben heischend; der ambulante Händler mit Plastikkörben und Wannen. Nichts entging dem Blick des Soziologen Pierre Bourdieu.

    Wie die Kolonialmacht Frankreich ab 1958 im Algerienkrieg die Landbevölkerung entwurzelte, auch das hat Bourdieu fotografisch dokumentiert. – Franz Schultheis:

    "Sie zwangen die Bauern, ihre Häuser, ihr Land zu verlassen, deckten die Dächer ab, damit eine Rückkehr unmöglich wurde, und bildeten dann Siedlungen von je 2000 bis 3000 Einwohnern, auf dem Reißbrett entworfen, geometrisch angelegt, sozusagen soziale Kontrolle zu Architektur gewendet. "
    Die Folgen dieser brutalen Umsiedlungspolitik, davon war Bourdieu überzeugt, würden das Ende der französischen Herrschaft in Algerien überdauern. Mehr als vier Jahrzehnte nachdem das Land unabhängig wurde, hat der Soziologe Franz Schultheis eines dieser Lager aufgesucht: Djebabra im nordalgerischen Chéliftal.

    "Man lebt so von der Hand in den Mund, wie Bourdieu das auch schon vor 50 Jahren in den Interviews feststellte: ein kleiner Job hier, ein paar Melonen verkaufen, eine Schachtel Zigaretten kaufen für, sagen wir mal, einen Euro, und dann hinterher jede einzelne Zigarette mit einem kleinen Gewinn von einem Cent oder zwei weiterverkaufen, das ist die Lebensbedingung dieser Menschen. Der einzige Reichtum, den man entdecken konnte, war der Kinderreichtum. Sehr liebe und sehr hübsche Kinder, aber auch sehr traurig stimmend, denn deren Zukunft ist in etwa schon geschrieben. "
    Aktuelle Bilder aus Djebabra dokumentieren diese Ökonomie des Elends. Zusammen mit den Presse- und Amateurfotos aus der Zeit des Algerienkrieges, die im zweiten Teil der Hamburger Ausstellung gezeigt werden, schreiben sie Bourdieus historisch-soziologische Befunde fort bis in die Gegenwart.

    Pierre Bourdieu: Der Algerienkrieg und die Fotografie.
    23.06. – 3.9.2006
    Haus der Photographie / Deichtorhallen Hamburg