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Sozialumbau in Rot-Weiß-Rot

"Pensionen", das sind in Österreich die Renten, und die sind heiß umstritten - wie auch anderswo in Europa. Die Bundesregierung aus ÖVP und FPÖ hat eine Reform der Pensionen vorgelegt, die künftig drastische Kürzungen vorsieht.

Martin Haidinger | 12.05.2003
    1. Mai 2003 :100.000 Teilnehmer zählt man bei der zentralen Kundgebung der SPÖ auf dem Wiener Rathausplatz, um 20.000 mehr, als letztes Jahr. Die Parole diesmal: "Kampf dem Pensionsraub!"

    Vergessen sind da die selbst eingestandenen Fehler und Versäumnisse der SPÖ-geführten Bundesregierungen bis vor drei Jahren. Die österreichische Sozialdemokratie hat es an diesem 1. Mai leichter als ihre deutsche Schwesterpartei: Sie kann in oppositionelle Mikrofone sprechen. Kein Kanzler aus den eigenen Reihen läuft Gefahr, ausgebuht zu werden, weil es ihn nicht gibt. Auch der Chef des Gewerkschaftsbundes , Fritz Verzetnitsch kann unbesorgt gegen eine Mitte-Rechts-Regierung wettern und ihr Gesprächsverweigerung vorwerfen:

    Die ausgestreckten Hände des Herrn Bundeskanzlers! Wo waren denn seine ausgestreckten Hände, als der Präsident der Wirtschaftskammer und ich ihm angeboten haben: Reden wir über eine umfassende Reform! Da hat er die Tür zugeschlagen. Aber wer die Tür zu Verhandlungen zuschlägt, der muss die Faust auf der anderen Seite gegen die Tür trommeln lassen.

    SPÖ -Chef Alfred Gusenbauer kündigt die Solidarität seiner Partei mit der Gewerkschaft an. Nach den Pensionen seien auch Gesundheits- und Bildungswesen in Gefahr, von der Regierung zu Tode gekürzt zu werden. Streiks werde es geben. Den ersten schon am 6. Mai. Öffentliche Verkehrsmittel sollen dann bis zu Mittag still stehen, die Höheren Schulen geschlossen bleiben, Betriebszugänge blockiert werden:

    Und daher ist es von entscheidender Bedeutung, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in unserem Land, die Gewerkschaften gesagt haben: Es reicht! Keinen Millimeter weiter, liebe Freunde.

    Und dann lässt Gusenbauer mit einer ungewöhnlichen Ansage aufhorchen:

    Mir ist es völlig egal, aus welchen Parteien bei der Endabstimmung im Parlament die Stimmen kommen, damit wir diese Pensionsreform verhindern. Denn das ist das wichtigste in dieser Stunde.

    Ein unverhohlenes Lockangebot an die kleinere Regierungspartei FPÖ, die seit Jörg Haiders Wahl zum Parteiobmann 1986 von der SPÖ strikt gemieden, gar durch Beschlüsse ausgegrenzt wurde. Zusammenarbeit mit der Haider-Partei? Ausgeschlossen! hieß es bisher bei der SPÖ. Jetzt ist alles anders.

    Die schwarz-blaue Mehrheit im Nationalrat ist hauchdünn. Wenn nur ein paar Freiheitliche mit der Opposition stimmen, platzt die Pensionsreform. Und das hält SP-Chef Gusenbauer nicht für unmöglich, denn:

    Mein Eindruck ist, dass wir in der Frage der Pensionen von einer ähnlichen Sichtweise ausgehen. Uns geht es darum, dass hier nicht überfallsartig den Menschen was weggenommen wird. Und es geht gleichzeitig darum, dass wir die Pensionen langfristig sichern. Daher geht es nicht um ein paar kleine Adaptionen sondern um das Ziehen der Giftzähne.

    Vorerst suchte man Anfang Mai jedoch nicht parlamentarische Mehrheiten, sondern es wurde auf der einen Seite der Arbeitskampf vorbereitet - und auf der Gegenseite kein Millimeter vom eingeschlagenen Kurs abgewichen.

    Österreich ist in den letzten Jahren nicht gerade für die Härte seiner Arbeitskämpfe bekannt geworden. Seit 1950 sozialdemokratische und Christgewerkschafter einen kommunistischen Putschversuch niederschlugen, hatte es keinen politisch motivierten Generalstreik mehr gegeben. Als solcher war nun auch der 6. Mai 2003 nicht wirklich zu bezeichnen. Doch im harmoniegewohnten Österreich ist selbst der Stillstand der U-Bahnen, des Bahnverkehrs und der Müllabfuhr für drei Stunden ungewöhnlich. Die meisten Österreicher nahmen's indessen gelassen.

    In Westösterreich gab es fast überhaupt keine Arbeitsniederlegungen, und auch im Osten samt der roten Hochburg Wien kam es nicht zu dem prognostizierten Verkehrschaos. Diszipliniert durchfuhr eine Viertelmillion mehr an Autos die Straßen der Bundeshauptstadt, wälzten sich große Fahrradkolonnen unfallfrei über enge Radwege. Gegen Mittag war alles wieder vorbei. Ein Glück für die Gewerkschaft, meint der Innsbrucker Politikwissenschafter Ferdinand Karlhofer:

    Wenn diese Aktionen massive Störungen, anders gesagt sehr lange Staus, sehr lange Verzögerungen für Pendler auf dem Weg zur Arbeit verursacht hätten, dass dann möglicherweise im öffentlichen Meinungspegel für die Gewerkschaft das gar nicht so vorteilhaft gewesen wäre... Ich denke auch, es war die erste Etappe auf einem noch nicht ganz bekannten längeren Weg, und man wird sehen, welche Aktionen noch folgen werden. Ich halte es für vereinfacht, zum Beispiel von Sieg oder Niederlage zu reden oder zwischen kläglichem Scheitern und fulminantem Sieg. Da sind einige Etappen dazwischen, oder auf einem Kontinuum, wo tatsächlich am Ende sogar überraschende Ergebnisse rauskommen, wo beide Seiten das Gesicht wahren können, ohne zum Beispiel verloren zu haben. Was wir jetzt erleben, ist ein Krieg der Worte. Wenn ich mir die Stellungnahmen von hochrangigen Regierungsmitgliedern angehört habe, und dann dem gegenüberstelle die Aussagen von Gewerkschaftern, dann ist hier natürlich wie bei jedem solchen Konflikt sehr, sehr viel Säbelrasseln, kompromisslose Rhetorik u.s.w. enthalten. Ich glaube, dass eines wichtig sein wird: Wir haben es ja nicht nur mit der Gewerkschaft und der Regierung zu tun, sondern vergessen wir nicht, dass viele Aktionen ja in Betrieben des exponierten Sektors ablaufen, die können auch nicht allzu lange sozusagen dort fortgesetzt werden, das würde zu Störungen führen. Und genau hier, denke ich auch, wird dann ab einem bestimmten Punkt die Frage sein, was die Wirtschaftsseite sagt: Ob sie sagt, also im Interesse des sozialen Friedens, im Interesse einer ungestörten Wirtschaftstätigkeit brauchen wir ein Aufeinanderzugehen, brauchen wir Kompromisse, können uns das nicht leisten auf längere Dauer.

    Ein Streik ist also für alle Streitparteien in Österreich ziemliches Neuland.

    Finanzminister Karlheinz Grasser, einst politischer Ziehsohn Jörg Haiders, dann von der FPÖ abgefallen und nunmehr parteifreier Minister auf einem ÖVP-Ticket, bleibt bei seinem Ziel: Das Budget muss durch Kürzungen konsolidiert werden, wenn sich auch das angepeilte Nulldefizit vorerst nicht ausgeht. Dazu müsse die Pensionsreform noch vor der Sommerpause des Parlaments pünktlich am 4. Juni zur Abstimmung in den Nationalrat kommen:

    Faktum ist: Der Terminplan ist festgelegt vom Parlament. Die Hoheit dieses Prozesses ist im Parlament, und ich bin zutiefst überzeugt davon, dass wir bei diesem Fahrplan bleiben sollen und werden.

    Der Entwurf sieht krasse Einschnitte in die Pensionen der meisten Österreichischen Arbeitnehmer vor:

    Weitgehende Abschaffung der Frühpensionen. Sie sind im Sozialstaat Österreich mittlerweile eine eingefahrene Tradition. Missbräuche sind an der Tagesordnung. Bei den Österreichischen Bundesbahnen geht man derzeit gesund an Leib und Gliedern mit fünfzig Lebensjahren in Pension. Doch nun sollen auch Langzeitarbeitslosigkeit und lange Versicherungsdauer keine Gründe mehr sein, frühzeitig in Rente gehen zu dürfen. Männer arbeiten ab dem Jahr 2009 bis 65, Frauen bis 60. An einer weiterentwickelten Ausnahmeregelung für Schwerarbeiter, der sogenannten "Hackler-Regelung", wird längerfristig gearbeitet.

    Der Durchrechnungszeitraum zur Errechnung der Pensionshöhe wird von den besten 15 auf die besten 40 Jahre angehoben.

    Höchstpensionen, das sind 80 Prozent der Höchstbemessungsgrundlage, können erst nach 45 Jahren erreicht werden. Bisher hatte man den Wert schon nach 40 Jahren erreicht.

    Die Möglichkeit zur Altersteilzeitbeschäftigung wird von 6,5 auf fünf Jahre reduziert.

    Bundeskanzler Schüssel verteidigt diese Maßnahmen nicht nur wegen ehrgeiziger Budgetziele, sagt er. Tatsache sei, dass die Menschen immer älter würden und länger im Arbeitsprozess stehen müssten. Das müsse auch die Gewerkschaft einsehen:

    Das was ist, kann unter Umständen sogar langfristig das gefährden, was man hat. Das ist der entscheidende Punkt. Die Frage ist, wie reagiert man darauf. Wichtig wäre es, darüber einen gesellschaftlichen Konsens herbeizuführen. Hier ist der Dialog wichtig. Hier sind nicht Kampfmaßnahmen gefragt, die wiederum genau jene treffen, die eigentlich gar nix dafür können, ja die die Betroffenen des Nichthandelns wären.

    Doch wo liegen die Alternativen zur Konfrontation auf der Straße, deren Instrumentarien in der Alpenrepublik ohnehin keiner so richtig beherrscht?

    Thomas Klestil dürfte seine Freude haben. Der im Amt ergraute Bundespräsident der Republik Österreich kann ein Jahr vor dem Ende seiner Funktionsperiode noch einmal mahnend eingreifen, da gilt es, die ungeliebte Koalition aus ÖVP und FPÖ einmal mehr in die Schranken zu weisen. Er verstehe die Sorgen der Streikenden, meinte der bis vor drei Jahren dem bürgerlichen Lager zugerechnete Klestil.

    Auf Herbst verschieben solle man die Pensionsreform, sagte das Staatsoberhaupt und entsprach damit dem Willen der Gewerkschaft und der ihm sehr nahestehenden kleinformatigen "Kronen Zeitung", der auflagenstärksten Tageszeitung Österreichs, der noch immer großer Einfluss auf die Innenpolitik nachgesagt wird. "Krone" und Klestil fordern unisono einen "Runden Tisch" aller Parteien, um die Pensionsreform noch einmal zu zerpflücken - wenn möglich bis Herbst 2003.

    Obwohl drei Jahre lang eine Reformkommission mühsam getagt hat, gibt es nun seit Freitag letzter Woche einen "Runden Tisch", der in ein paar Wochen Klärung schaffen soll. Bereit dazu sind offiziell alle, doch mit unterschiedlichen Motivationen:

    "Ja zum Gespräch - nein zu Verzögerungen" ist etwa das Motto von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel. Er möchte die Reform am 4.Juni zur parlamentarischen Abstimmung bringen. Zähneknirschend nimmt er die Gesprächseinladung Klestils an:

    Vielleicht ist das die Ergänzung dazu, wenn man versucht, Emotionen aus der jetzigen Situation herauszunehmen. Denn die Gesetze werden immer noch im Parlament gemacht in einer Demokratie. Aber wenn man versucht, Emotionen herauszunehmen und die Streikdrohungen zu kalmieren, da kann ein solches Gespräch sinnvoll sein, und daher werde ich auch daran teilnehmen, wenn es irgend etwas dazu beiträgt, die Gewerkschaften von dieser Position wegzubringen.

    Dazu kommt die spannende Frage, ob innerhalb der FPÖ Vizekanzler Herbert Haupt – er war als Regierungsmitglied ursprünglich für die Reform – oder die graue Eminenz der blauen Partei, der Kärntner Landeshauptmann Jörg Haider, das Sagen hat, der die Reform ablehnt. Das Sahnehäubchen auf der gelieferten, aber noch nicht servierten Reformtorte ist die paradoxe Annäherung der Reformgegner Jörg Haider und Alfred Gusenbauer, dem Chef der SPÖ. Die beiden ideologischen Antipoden kamen Ende letzter Woche unter starker medialer Anteilnahme zu einem so bezeichneten "Geheimtreffen" bei Spargel und Creme fraiche zusammen.

    Vieles spricht dafür, dass die seit der letzten Wahl ziemlich beschädigten und auf zehn Prozent reduzierten Freiheitlichen hier gegenüber dem übermächtigen Koalitionspartner ÖVP Stärke zeigen wollen - und das demonstrativ. Kanzler Schüssel nimmt das gemeinsame Spargelessen von Rot und Blau ebenso demonstrativ gelassen:

    Ich bin immer dafür eingetreten, dass in einer Demokratie wie Österreich jeder mit jedem reden kann, und war immer gegen die Ausgrenzung, das ist auch nicht das erste Mal. Daher: willkommen in der Normalität.

    Jörg Haider, dem nach einer aktuellen Umfrage gerade einmal zehn Prozent der eigenen FPÖ-Wähler zutrauen, ein brauchbares Alternativkonzept zur Pensionsreform zu besitzen, will nicht nur seinen Erzrivalen Bundeskanzler Schüssel demütigen, sondern er hofft wohl auch darauf, seinen demolierten Ruf als Arbeiterführer aufzupolieren. Daran könnte er sich emporturnen, wenn die Pensionsreform platzt und die Regierung stürzt. Bei den dann folgenden Neuwahlen, spekuliert man in der FPÖ ganz offen, könnte die Partei wieder durchstarten. – Derzeit liegt die einst so mächtige Bewegung in Umfragen bei mageren fünf Prozent in der Wählergunst.

    Wichtigste Zielgruppe ist das Gros der nach dem Allgemeinen Sozialversicherungsgesetz (ASVG) versicherten Österreicher. Für diese Mehrheit der Bevölkerung stehe er, sagt Haider, und da ist es ihm auch egal, wenn er seine Parteifreunde in der Bundesregierung blamiert, die der Schüssel-Reform zugestimmt haben:

    Da geht's nicht um die Frage, wem man etwas schwer oder leicht macht, sondern entscheidend ist, dass für die Österreicherinnen und Österreicher eine gute Lösung herauskommt. Wir alle sind für die Pensionsreform, weil wir wissen, dass die Menschen älter werden, dass wir ein Finanzierungsproblem haben und dass wir das System adaptieren müssen nach vielen Jahrzehnten. Aber es kann nicht so sein, dass es wie in der Vergangenheit unter rotschwarzen Regierungen auf Kosten der vielen kleinen Pensionsempfänger und der vielen kleinen Arbeitnehmer geht, sprich, also insbesondere im ASVG-Bereich, dass man dort das Geld abzieht, während die geschützten privilegierten Bereiche weiterhin aufrecht bleiben.

    Die so genannte Harmonisierung, also die Angleichung aller Pensionskassen in einer gemeinsamen Reform, braucht eine Zweidrittel-Mehrheit im Parlament. Die ist aber derzeit, so betont Haider, gegen den Widerstand von Sozialdemokraten, Grünen und Arbeitnehmerverbänden nicht zu bekommen.

    Schon alleine deshalb müsse man Kanzler Schüssel klar machen, dass der 4. Juni als Stichtag nicht zu halten sei. Schüssel beteuert, er wolle die Harmonisierung erst im September nachbeschließen. Haider hingegen hält an der sofortigen Harmonisierung fest, und hat dabei mindestens sechs freiheitliche Nationalratsabgeordnete hinter sich, die gemeinsam mit der Opposition Schüssels Pläne zum Kippen bringen können:

    Das Thema 'Harmonisierung' heißt ja nichts anderes: Hat die Politik den Mut, mit Verfassungsgesetz zu bestimmen, dass wir in die sogenannten Pensionsprivilegien der Sozialversicherungsdirektoren bei Post, bei Bahn, bei den Politikern auch rückwirkend eingreifen. Es gibt ziemlich klare Vorstellungen, und ich habe auch die Gelegenheit in der Zwischenzeit genutzt, mit dem Vorsitzenden der Sozialdemokratie diese Frage zu besprechen: Ich hab’ gesagt, schau’, es hat nur einen Sinn, wenn wir diesen runden Tisch machen, wenn alle wirklich den Willen haben, diese Pensionsprivilegien mit Verfassungsbestimmung zu beseitigen. Dann werden wir auch den Applaus der normalen Bürger dieses Landes bekommen, die sagen, da ist jetzt erstmals in der Politik die Entscheidung gefallen, nicht auf unserem Rücken zu sanieren, sondern die, die bisher mit unseren Geldern sich eigentlich Vorteile zugewendet haben, einmal zur Ordnung zu rufen. Das ist jetzt eine ganz wichtige Entscheidung.

    Eine Entscheidung, die dem SPÖ-Vorsitzenden Alfred Gusenbauer nicht leicht fallen dürfte. Hat doch seine Partei im Verein mit der bürgerlichen ÖVP Jahrzehnte lang von Privilegien sonder Zahl profitiert – auch und gerade bei den Politikerpensionen. Grundlage dafür war die für Österreich so typische Sozialpartnerschaft zwischen den eigentlich Mächtigen im Land: Den Arbeitgeber- und den Arbeitnehmerverbänden.

    Sozialpartnerschaft: Das bedeutet sozialen Frieden, aber auch Unbeweglichkeit und extrem lange Verhandlungen auf nationaler Ebene in einem immer schneller werdenden globalisierten Markt. Der Wiener Soziologe und Innenpolitik-Spezialist Reinhold Knoll analysiert den Stand der Auseinandersetzung:

    Für die österreichische Staatsidee ist die Sozialpartnerschaft von ähnlicher Bedeutung wie etwa für die Monarchie die Heiratspolitik der Habsburger. Das heißt, obwohl nicht in einem verfassungsrechtlichen Rang, hat sie im Vorfeld sozioökonomischer Aufgabenstellungen die möglichen sozioökonomischen Konfliktstoffe ausräumen können, und sie basierte auf Freiwilligkeit und wurde jeweils zu Beratungs- und Begutachtungstätigkeiten von Seiten der Bundesregierung beauftragt. Und was jetzt die aktuelle Lage anbelangt, zeigt das, dass offensichtlich diese konsensdemokratische Einrichtung einen erheblichen Schaden, oder beziehungsweise eine Schwächung erfahren hat, oder gar von Seiten der Regierung erfahren soll. Die Bundesregierung schätzt diese Streiksituation der österreichischen Gewerkschaften als eine Auseinandersetzung, von der sie meint, Sieger zu bleiben. Man kann damit der Bundesregierung unterstellen, eigentlich in einem Art Nachziehverfahren ein neoliberales Konzept durchzusetzen, und die Gewerkschaften haben die Pensionsreform zum Ausgangspunkt genommen, nun endgültig diesen Fehdehandschuh der Bundesregierung aufzunehmen. Das Problem der Gewerkschaften liegt vor allem darin, dass sie das in einem Konflikt tut, der nicht wirklich zu dem Bereich Arbeit gehört, nämlich Pensionsreform. Das ist unter Umständen jetzt für die Argumentation der Gewerkschaften eine schwache Position; auf der anderen Seite umfasst dieses Problem so viele Menschen in Österreich, sodass die Gewerkschaften hier im Grunde genommen ihre letzte Chance wittern, inmitten eines Entsolidarisierungsprozesses wiederum sich politisch in Spiel zu bringen. So etwas kann man ja allenthalben in Europa da und dort immer wieder bemerken, dass etwa der Entsolidarisierungseffekt die Gewerkschaften am schärfsten betroffen hat und dass sie eigentlich noch keine Mittel gefunden hat, dem zu entgehen.

    Der Österreichische Gewerkschaftsbund rüstet jedenfalls für morgen, Dienstag, zu Großdemonstrationen. Generalstreik will man da vorerst keinen ausrufen - zu ernüchternd waren wohl die Erfahrungen der Vorwoche. Indessen versucht die kleine Regierungspartei FPÖ, dem ÖGB in Sachen Solidarität den Rang abzulaufen:

    Sie beschloss: Politiker dürfen keine Doppelpension mehr erhalten und sollen einen Solidarbeitrag entrichten. Aktive Politiker sollen neben ihrem Einkommen keine Pension beziehen dürfen. Die altgewohnten Rezepte von Großgrundbesitzer und Multimillionär Jörg Haider:

    Ich bin genauso ein Privilegienritter, ich bin auch Politiker. Das müssen wir jetzt beseitigen. Und wenn wir das wirklich wollen, dann wird die Pensionsreform ein toller Erfolg werden für alle. Und wenn wir das nicht wollen, dann verdient die Politik nicht mehr den Respekt, den sie beansprucht.

    Weiterhin auf die Loyalität der Minister und Abgeordneten der FPÖ baut indessen der christdemokratische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel:

    Wir haben gemeinsam ein Arbeitsprogramm. Ich bin absolut zuversichtlich, dass wir das gemeinsam schaffen. Denn es ist notwendig, und vor allem gut für Österreich.

    So dürften wohl in diesen Tagen viele ihre letzte Chance wittern: Wolfgang Schüssel – die neoliberale Pensionsreform durchzuziehen; der ÖGB – ein Faktor der österreichischen Innenpolitik zu bleiben; Jörg Haider – politisch wieder hochzukommen; und Bundespräsident Thomas Klestil – die politischen Kräfteverhältnisse so zu verändern, dass die von ihm so vehement abgelehnte schwarz-blaue Koalitionsregierung aufgeben muss. Vielleicht noch in seiner Amtszeit als Staatsoberhaupt.